Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Sie waren nackt und schämten sich nicht.«
Mein Blutdruck steigt, als die ersten Klänge der Musik aus den Boxen ertönen. Wonderwall von Oasis durchbricht die Stille und erfüllt den Garten. Aber entgegen aller Hörgewohnheit in einer getragenen Moll-Version. Oasis nicht beim Feiern, sondern in feierlich. Genauer gesagt hochzeitsfeierlich. Zugegeben eine Coverversion in Moll. Die Junisonne scheint mir ins Gesicht. Den schlechten Wettervorhersagen zum Trotz leuchtet der Himmel über den Weinbergen eine Autostunde nördlich von Lissabon in einem strahlenden Blau. Habe ich es doch gewusst! Wettervorhersagen eines Besseren zu belehren ist, wie ich finde, eine recht erhabene Form der Besserwisserei. Die Schäfchenwolken geben mir recht.
Die Anfahrt war schon traumhaft. Hinweg über kleine Landstraßen. Vorbei an Feldern. Weiß getünchte Häuschen mit rotbraunen Ziegeldächern. Goldene Hügel übersät mit Zypressen, Olivenhainen und Weinstöcken. Weinreben, die wohl schönste aller Pflanzen, soweit das Auge reicht. Das ergibt viele Flaschen Bibelsaft. Weiter geht die Fahrt, vorbei an einem Fluss und durch ein kleines Dorf. Die Straßen werden enger. So eng, dass ich befürchtete, dass der Shuttlebus, der mich, die Pastorin, und die sechs groomsmen, also die Begleiter des Bräutigams, transportiert, es nicht ganz bis zum Ziel schaffen werden.
Nach einer haarscharfen Kurve liegt Solar de Pancas, ein fünfhundert Jahre altes Anwesen am Rande der Kleinstadt Alenquer, vor uns: ein riesiges sandsteinfarbenes Haus. Doppelstöckig mit weißen Fensterrahmen. Die eine Hälfte ist komplett mit tiefgrünem Efeu überwachsen. Die andere Seite bildet dazu mit ihrem sanften Beige einen starken Kontrast. Aber auch hier wachsen einige zarte hellgrüne Ranken empor. Als ob sich die Natur den Ort zu eigen machen würde. In jedem Fall lässt der Kontrast diesen surrealen Ort lebendiger wirken. Zur Krönung des ersten Eindrucks lugt über dem Dach die Krone einer riesigen Palme hervor. Es ist so schön, dass es schon fast wie eine Kulisse wirkt. Aber keine, in der man nicht sein will. Im Gegenteil. Heute ist so ein Tag, der sagt: Ja. Einmal alles, bitte. Nicht kleckern, sondern protzen. Im besten Sinne des Wortes. Mehr Sonne. Mehr Sommer. Mehr Liebe. Und später dann noch mehr Wein.
Es ist der fünfte Juni 2018, und ich leite die freie Trauung von Adrienne und Mario im Garten dieser wunderschönen Location in Portugal. Ich konzertiere mich auf einen festen Stand, gar nicht so leicht in den roségoldenen Riemchensandaletten mit zehn Zentimetern Absatz auf dem leicht sandigen Boden. Von meiner Schulter hängen breite hellrosa Bänder herab, die dem sonst eher schlichten blauweißen Sommerkleid das gewisse hochzeitstaugliche Etwas geben. In meinen Händen halte ich die »gute« Predigtmappe aus taubenblauer Pappe.
Hinter mir und meinem Rücken erstreckt sich eine Doppeltreppe, dekoriert mit Orchideen und Palmblättern. Die Treppe führt mit zwei Abgängen in den Garten, in dem die Trauung in wenigen Momenten beginnen wird. Der Garten liegt etwas unterhalb des Hauses und wird nach hinten hin von einer Mauer in guter Sitzhöhe abgeschlossen. Vor dem Mäuerchen wachsen üppige lila Lavendelsträucher in akkuraten Abständen. Von dort aus schaut man ins Landesinnere, erneut auf Hügel und Senken. Die Seiten des Gartens sind durch meterhohe Bambushecken begrenzt. Die Rasenflächen wurden in symmetrischen Feldern angelegt und frisch gemäht. Überhaupt folgt alles einem symmetrischen Muster, einer bestimmten Harmonie. Im Zentrum des Gartens stehen zwei riesige Bäume, deren Laubkronen fast ein Dach bilden. Versetzt dazu ragen zwei riesige Palmen wie Säulen über den Garten und das Anwesen hinaus.
Unter den zwei riesigen Laubbäumen sitzen jetzt auf weißen Holzstühlen die Familien und Freunde aus aller Welt und aus allen Himmelsrichtungen. Die Braut ist die Tochter philippinischer Eltern, die in die USA ausgewandert sind. Der Bräutigam vereint Köln und Kroatien in sich. Mario ist einer der besten Freunde meines Ex-Freundes, der ebenfalls zugegen ist.
Ich war durchaus erstaunt, als rund ein Jahr zuvor mein Handy klingelte und eine amerikanische Nummer angezeigt wurde. Mario rief mich aus den USA an, wo er seit einigen Jahren in New York zusammen mit Adrienne lebte, und er berichtete von seiner Verlobung. Sie hätten zwar beide nicht wirklich was mit »Kirche« zu tun, aber sie würden es sehr schön finden, wenn ich diesen besonderen Moment begleiten würde. Adrienne sei zudem auch Feministin.
Die Braut kannte ich bis dato in erster Linie über Social Media. Auf ihrem Facebook-Account waren zahlreiche Fotos aus dem Vorjahr von ihr beim Women's March 2017 in Washington zu finden. Mit dicken Winterjacken, Protestschildern und pinken Wollmützen »bewaffnet« lächeln mich Adrienne und ihre Freundinnen von den Bildern aus an. Die Demonstration fand damals nach der Amtseinführung Donald Trumps statt und war eine der größten Protestaktionen in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Zehntausende Menschen demonstrierten friedlich gegen Sexismus und für Menschenrechte - Menschenrechte, das heißt auch Frauenrechte, was es ja leider immer noch zu betonen gilt. Sie demonstrierten auch für LGBTIQ+-Rechte; für Gesundheits- und Migrationsreformen; für Gleichheit und Religionsfreiheit. Die pinken Strickmützen der sogenannten Pussyhat-Movement waren dabei Symbol dafür, dass man auch nur mit Häkelzeug bewaffnet ein Zeichen gegen Ungerechtigkeit setzten kann.
Auf den Fotos aus Washington sind auch einige der Freundinnen zu sehen, die jetzt zusammen mit den Begleitern des Bräutigams als Braujungfern im Spalier stehen. Sie sind abwechselnd in violette und mintgrüne Kleider gehüllt, die Begleiter des Bräutigams in marineblaue Anzüge. Jeweils sechs Personen auf jeder Seite. Ich komme mir vor wie in einem amerikanischen Spielfilm, was bei der ganzen Szenerie kein Wunder ist. Allerdings bin ich nicht die Braut, sondern die Pastorin. Was mir irgendwie noch mehr gefällt.
Ich schlage die Mappe auf und nicke dem Übersetzer zu. Ich atme ein. Adrenalin arbeitet sich durch meinen Körper. Ich atme aus. Reden halten ist und bleibt spannend. Die Aufregung steigt. Allerdings nicht auf die hektische Art, sondern diese tief konzentrierte Weise, die mich meinen eigenen Herzschlag hören lässt. Gefühlt bin ich, abgesehen vom Brautpaar, immer die nervöseste Person. Blöd ist nur, dass ich als trauungsleitende Pastorin souverän rüberkommen muss. Auch der Bräutigam kämpft heute sichtlich um Souveränität.
Es kann nicht mehr lange dauern. Ein letzter Blick in die Runde und in all die erwartungsvollen Gesichter. Alle werden ganz still. Am Ende des Mittelganges steht bereits die schneeweiße Hochzeitstorte mit glatter Glasur. Die drei zuckrigen Stockwerke mit gold-grüner Krönung sollen direkt nach der Trauung angeschnitten werden. Aus Ja und Amen wird Ja und Kuchen.
Es riecht nach Sommer. Nach Sonne. Nach frisch gemähtem Gras und nach Vorfreude, nach Liebe und Rosé. Sehr besonders und doch maximal lässig. Ein bisschen wie im Paradies. Dazu aus den Boxen die berühmten Gitarrenakkorde: Because maybe .
Alle Blicke richten sich nach oben: Adrienne erscheint oberhalb der Treppe. Als sie nun die Stufen hinunterschreitet, sieht sie wirklich aus wie ein »Wunderwesen«, wundervoll, wallend und wunderschön. Ihr leicht gewelltes, tiefschwarzes Haar fällt ihr über die rechte Schulter. Das Kleid aus weißer Spitze ist schlicht und elegant. Der Rock liegt leicht auf dem Boden auf. In der Hand hält sie einen Brautstrauß, bestehend aus einer einzigen großen weißen Blumenblüte, umgeben von einem großen dunkelgrünen Blatt.
Während sie in langsamen Schritten passend zum Takt der Musik immer näherkommt, wirkt sie fast wie eine Elfe. Mario, den ich sonst nur sehr tough und, sagen wir, etwas vorlaut kenne, wischt sich die Tränen aus den Augen. Adrienne lächelt. Sie ist Marios Wonderwall.
Die Musik verstummt. Jetzt stehen beide vor mir. Die Trauung kann beginnen.
»Liebes Brautpaar. Liebe Familie. Liebe Freunde des Brautpaares.
Jetzt ist er da, der große Tag! Ich möchte mich als erstes für eure Liebe und eure Großzügigkeit bedanken, die Menschen aus der ganzen Welt in dieses wunderschöne Land, in diese spannende Stadt und letztlich an diesen wunderbaren Ort gebracht haben.«
Ich hatte noch bis zum Abend davor an der Rede gearbeitet. Bei Hochzeiten, egal ob kirchlichen Hochzeiten oder freien Trauungen (also Trauungen ohne einen dezidiert religiösen Hintergrund), versuche ich so intensiv wie möglich auf das Paar einzugehen. Etwas über die beiden als Paar, aber auch als Individuen zu erfahren. Gibt es wie in diesem Fall einen oder mehrere Songs, die die beiden mögen oder zu denen sie eine besondere Beziehung haben? Gibt es gemeinsame oder besondere Hobbies, berufliche Parallelen? Verbindet die beiden ein gemeinsames Motto oder eine Lebensphilosophie? Teilen sie einen Glauben oder eine Spiritualität, Überzeugungen oder Passionen? Sind es vielleicht auch bemerkenswerte Kontraste, die sie am Gegenüber schätzen? Und natürlich: Wie haben sich die beiden kennengelernt?
Gerade wenn ich nach Letzterem frage, fällt die Antwort immer besonders schön und aufschlussreich aus. In den meisten Fällen liegt der Zeitpunkt schon einige Jahre zurück. Die Gespräche sind dann nochmal wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Eine Reise zu den ersten Schmetterlingen im Bauch.
Die großen und kleinen Besonderheiten zweier Lebenswege flackern erneut auf. Einige Geschichten sind lustig. Oft sind es die ersten eher tollpatschigen und aufgeregten Annäherungsversuche. Das erste...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.