Josua Lewis rannte die Hauptstraße entlang, die durch das Städtchen Weston führte. Er musste sich beeilen, wenn er die Arztpraxis seines Vaters erreichen wollte, bevor Mrs. Morris dort angekommen war. Sie konnte unglaublich schnell sein - trotz ihrer Schmerzen im Knie - wenn es darum ging, eben erfahrene Neuigkeiten weiterzusagen. Normalerweise war Josch das ja egal. Aber in diesem Fall musste er einfach schneller sein als sie. Diese Neuigkeit wollte er Pa selber erzählen!
Keuchend kam Josch an dem Holzhaus mit dem weißen Arztschild an - und sah gerade noch Mrs. Morris grünen Rüschenrock in der Eingangstür verschwinden. War sie ihm doch zuvorgekommen! "Von wegen Knieschmerzen", stieß Josch atemlos hervor und lehnte sich an die Hauswand, um wieder Luft zu bekommen. Bestimmt berichtete Mrs. Morris die Sache jetzt schon im Wartezimmer, und gleich, wenn sie an der Reihe war, würde sie es im Sprechzimmer Pa erzählen. "Nein", dachte Josch, "das soll sie nicht. Die wird sich wundern!"
Vorsichtig bog er die Zweige der Jasminhecke auseinander, schlüpfte durch die Lücke und schlich an der Hauswand entlang. Er lugte um die Ecke, kletterte dann auf den untersten Zweig des Apfelbaums und klopfte an ein Fenster.
Drinnen sah Miss Molly überrascht von der Arbeit auf. "Nanu", dachte sie, "wer klopft denn hier hinten ans Fenster? Der Eingang ist doch vorne!" Dann erkannte sie Josch. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie stand auf und öffnete das Fenster. "Du bist es, Josch", sagte sie. "Was gibt es denn?" "Ich muss Pa etwas ganz Dringendes sagen", flüsterte Josch. "Sind viele Leute im Wartezimmer?" Miss Molly überlegte. "Im Moment ist nur Mrs. Walters da", antwortete sie. "Und dann ist gerade noch Mrs. Morris gekommen."
"Deshalb ist es ja so dringend", erklärte Josch. "Ich will Pa etwas erzählen, bevor Mrs. Morris es tut. Sie hat es nämlich auch schon gehört, bloß weil sie immer zu Old Jim und mir rüber gelauscht hat, obwohl sie sich eigentlich mit Mrs. Watson unterhalten hat. Und dann, plötzlich, ist sie losgelaufen, weil sie einen Arzttermin hat, sagte sie. Und jetzt plaudert sie bestimmt gleich alles aus!"
"Davon kannst du ausgehen", bestätigte Miss Molly. "Ich weiß zwar nicht, worum es geht, aber ich sehe ein, dass du vor Mrs. Morris mit deinem Pa reden musst. Komm erst mal rein, Junge." Josch kletterte so leise wie möglich über das Fensterbrett in den Raum. Ein Tisch und ein Stuhl standen darin, ein Regal mit kleinen Dosen und Flaschen und in der Ecke eine Waschschüssel. Außerdem gab es zwei Türen. Eine führte ins Wartezimmer und eine in den Behandlungsraum von Dr. Lewis.
Miss Molly winkte Josch näher heran. "Mr. Baker verabschiedet sich gerade", flüsterte sie. "Dann kannst du schnell dazwischenhuschen!" Sie lächelte Josch verschwörerisch zu. "Dringende Fälle gehen immer vor, sagt dein Pa." Josch grinste zurück. Miss Molly war einfach prima!
"So, jetzt ist er draußen." Miss Molly klopfte kurz an die Tür zum Sprechzimmer und öffnete sie dann. "Entschuldigen Sie, Doktor, aber ich habe hier noch einen dringenden Fall", sagte sie. Josch schob sich an ihr vorbei. Der Arzt stand mit dem Rücken zu ihnen am Schreibtisch. "So? Wer ist es denn, Miss Molly?" Er drehte sich um - und stutzte. "Josch", sagte er verblüfft, "was machst du denn hier?"
"Ich muss dir was ganz Dringendes sagen, Pa", sprudelte es aus Josch heraus. "Und ich wollte es dir erzählen, bevor Mrs. Morris es tut. Die kommt nämlich auch gleich zu dir." Der Doktor unterdrückte einen Seufzer. "Ah ja", meinte er und sah Josch auffordernd an. "Dann rück mal raus mit deiner Neuigkeit!"
"Pa", platzte Josch heraus, "stell dir vor, Old Jim bleibt hier! Hier bei uns in Weston, hat er gesagt. Er hat Arbeit bekommen bei Mr. Saddler im Mietstall und er hat auch zwei Zimmer, wo er wohnen kann.
Und Old Jim sagt, dass er für immer hierbleiben will!"
Dr. Lewis hatte gespannt zugehört, genauso wie Miss Molly, die in der halb offenen Tür stehen geblieben war. "Na, das ist aber wirklich eine gute Nachricht", antwortete er. "Ich hatte, ehrlich gesagt, auch schon ein bisschen Angst, dass es Old Jim wieder zurück in den Westen zieht." Er legte Josch eine Hand auf die Schulter. "Ich freue mich darüber, mein Junge." Josch strahlte über das ganze Gesicht. "Ich freu mich auch ganz schrecklich doll. Und ich musste es dir unbedingt sofort sagen." Plötzlich sah er unsicher aus. "War das schlimm?", fragte er. "Ich mein, weil ich mich dazwischengedrängelt habe."
Dr. Lewis fuhr Josch mit der Hand durch das braune, zerzauste Haar. "Nein, das war nicht schlimm", sagte er. "Ich weiß doch, wie sehr du Old Jim magst." Und mit einem Seitenblick auf Miss Molly fügte er hinzu: "Dringende Fälle gehen eben immer vor! - So, jetzt muss ich aber wieder an die Arbeit!" "Mach's gut, Pa!", Josch drehte sich um und schlüpfte aus der Tür.
"Old Jim bleibt hier, Old Jim bleibt hier", sang Josch vor sich hin, als er kurze Zeit später die Landstraße entlanglief. Zu Hause musste er seine Neuigkeit auch unbedingt loswerden. Ma und die Mädchen würden sich riesig freuen, dass der alte Cowboy Jim hier bei ihnen bleiben würde.
"He, was ist denn mit dir los? Wir rufen ständig hinter dir her und du hörst überhaupt nichts!" Joschs Cousin Ben und sein Freund Luke Walters erreichten ihn atemlos. Josch grinste die beiden an. "Ich hab euch wirklich nicht gehört", antwortete er, "bestimmt, weil ich immer an Old Jim denken muss!" "An Old Jim? Wieso das denn?" Ben schaute ihn verwundert an. "Weil er für immer hierbleibt! Er hat es mir vorhin gesagt. Er kann bei Mr. Saddler im Mietstall arbeiten, und er geht nicht zurück in den Westen! Gut, was?" Triumphierend sah Josch die beiden Jungen an.
"Mensch, prima!" Ben boxte seinen Cousin in die Seite. "Deshalb hast du also nichts mitgekriegt eben." Dann fügte er hinzu: "Es wär schlimm für dich gewesen, wenn er weggegangen wär, oder?" Josch nickte. "Ja", sagte er. "Sehr. Deshalb bin ich ja auch so schrecklich froh, dass er bleibt."
"Woher kennst du Old Jim eigentlich?", schaltete Luke sich ein. "Ich kenn ihn von der Ranch weiter im Westen, wo ich früher gewohnt habe", erklärte Josch. "Er hat dort als Cowboy gearbeitet, wie mein Pa, mein richtiger Vater, weißt du?" Luke nickte. Er hatte schon gehört, dass Dr. Lewis und seine Frau eigentlich Onkel und Tante von Josch waren. Aber weil seine Eltern nicht mehr lebten, hatten sie ihn in ihre Familie aufgenommen und Josch sagte jetzt auch "Pa und Ma" zu ihnen.
"Ma ist schon gestorben, als ich noch ganz klein war", erzählte Josch weiter. "Und Pa hatte einen Unfall, als ich sieben war. Und da habe ich dann bei Old Jim gewohnt, bis ich hierhin, nach Weston, gekommen bin."
"Und jetzt bleibt er auch hier", ergänzte Ben. "Das ist echt prima, Josch." "Meinst du", kam es dann zögernd von ihm, "meinst du, wir dürfen mal reiten, wenn Old Jim im Mietstall arbeitet?"
Ben war beinahe genauso ein Pferdenarr wie Josch. Aber zu Hause auf der Farm gab es nur die beiden Arbeitspferde und das Reitpferd seines Vaters. Darauf durfte Ben nur ganz selten reiten. Josch nickte mit glänzenden Augen. "Bestimmt dürfen wir das. Old Jim schafft es sicher, dass Mr. Saddler es erlaubt. Aber ich muss jetzt weiter. Ma und die Mädchen wissen nämlich noch gar nichts von der Sache. Macht's gut!" Er rannte davon.
Mrs. Morris war inzwischen in das Behandlungszimmer von Dr. Lewis gebeten worden. Sie hatte sich längst überlegt, wie sie dem Arzt ihre Neuigkeit so dramatisch wie möglich schildern könnte. Ihn interessierte es sicher brennend. Schließlich war seine Familie mit dem Cowboy Jim Harris befreundet. Was für ein Glück, dass sie mitbekommen hatte, wie Old Jim Josch von seinen Zukunftsplänen berichtet hatte!
"Guten Tag, Herr Doktor", flötete Mrs. Morris und rauschte an ihm vorbei in das Sprechzimmer. Sie sagte immer "Herr Doktor", obwohl die meisten ihn einfach "Doc" nannten. Nun, Mrs Morris war eben eine gebildete Frau und wollte, dass das auch möglichst viele Leute bemerkten.
"Guten Tag, Mrs. Morris", antwortete Dr. Lewis. "Wie geht es Ihnen?"
"Ach, das Übliche, Sie wissen ja, mein Knie, mein Knie!" Sie seufzte und setzte eine leidende Miene auf. Dann nahm sie auf dem Stuhl Platz, der dem Schreibtisch des Arztes gegenüberstand. Dr. Lewis setzte sich ebenfalls.
"Aber wissen Sie", fuhr Mrs. Morris dann in vertraulichem Ton fort, "es passieren ja glücklicherweise immer wieder Dinge, die einen alle Schmerzen vergessen lassen!"
Dr. Lewis unterdrückte ein Schmunzeln. "Soso", sagte er.
Mrs. Morris rutschte auf die vorderste Kante ihres Stuhles und beugte sich etwas über den Schreibtisch. "Sie ahnen ja nicht, was ich erfahren habe, Herr Doktor! Soeben hörte ich aus sicherer Quelle, dass wir hier in Weston bald einen neuen Mitbürger bekommen. Und es handelt sich dabei . nun, es handelt sich dabei um - Mrs. Morris machte eine effektvolle Pause - "Ach, Sie meinen Old Jim", fiel ihr der Doktor ins Wort. "Mr. Harris, wollte ich sagen", verbesserte er sich. "Ich habe bereits gehört, dass er hierbleibt."
Mrs. Morris Mund klappte ein paarmal auf und zu. Ungläubig starrte sie den Arzt an. "Sie . Sie wissen es bereits?", brachte sie endlich hervor. "Hat er es...