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Kybernetik ist ein Schlagwort, das auch im Diskurs der Praktischen Theologie verwendet wird. Seit Manfred Seitz im Jahr 1984 den Begriff in seinem Aufsatz »Missionarische Kirche« benutzt hat, spiegeln sich in diesem Schlagwort große Erwartungen, die in mindestens vier unterschiedlichen Hinsichten erscheinen: zum Ersten soll Kybernetik für eine Theorie der Gemeindepraxis herangezogen werden. So fragt Eberhard Winkler (1998, 55): »Wie lässt sich diese Ordnung so gestalten, dass die allen Gläubigen geschenkten geistlichen Gaben dem Willen Gottes gemäß zur Wirkung kommen?« Im Hintergrund dieser Frage sieht Winkler eine »Problemgeschichte«, die von den Wittenberger Unruhen im Jahr 1521 bis zu einer Gegenwart reicht, in der »volkskirchliche Strukturen zusammenbrechen« (a. a. O., VI). Insgesamt 17 praktische Konzepte wie »Haushalterschaft«, »Geistliche Gemeindeerneuerung« und Gemeinwesenarbeit« sollen helfen, die geistlichen Gaben aller fruchtbar zu machen.
Zum Zweiten wird nicht weniger als der gesamte »Anfang der Praktischen Theologie« mit dem Begriff Kybernetik verbunden. So führt Günter Breitenbach (1994, 27) aus, dass die »wissenschaftliche kybernetische Theoriebildung (.) mit Schleiermachers bahnbrechendem Entwurf einer Praktischen Theologie als Kunstlehre für die Kirchenleitung (beginnt)«.
Zum Dritten deutet sich im Umfeld des Begriffs ein Desiderat an. So prägt Breitenbach die Formel »Kybernetik als vernachlässigtes Fach« (ebd.). Obwohl kybernetische Forschung eine Voraussetzung insbesondere der Praktischen Theologie darstellt, »bleibt das Interesse an der Lehre von der Gemeindeleitung innerhalb der praktisch-theologischen Wissenschaft aber eher gering, die materiale Durchführung im Vergleich zu anderen Gebieten knapp«. Als Grund dafür wird die Auflösung des Zusammenhangs von theologischen und juristischen Perspektiven genannt, die zu einem Verlust der inneren Spannung führe, so dass die Praktische Theologie ihr Interesse am Thema verloren habe (vgl. Breitenbach 1997, 27).
Zum Vierten verbindet sich mit dem Sachgehalt des Begriffs Kybernetik die Feststellung, dass die Kirche in der Krise steckt. So konstatiert Ralph Kunz: »Wer immer sich anschickt, die gegenwärtige Lage der Kirche zu analysieren, und nach ihren Steuerungsmöglichkeiten fragt, verwendet früher oder später das Stichwort Krise.«1 Eine Krise wird in Relation auf die Strukturen, Ressourcen, Mitglieder und die kommunikative Kompetenz der Kirche analysiert.
In der praktisch-theologischen Diskussion wird oft versucht, eine Kirchentheorie in den Bahnen Schleiermachers und eine Kybernetik, die als eigener Wissenschaftszweig von der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre wegweisende Erkenntnisse erzielte, zu vereinbaren (s. die Entwürfe von Hermelink und Hauschildt/Pohl-Patalong in Kap. 8.1 bzw. Kap. 8.2). Hier soll jedoch versucht werden, beide Ansätze auseinander zu halten. Denn uns scheint, dass an einem entscheidenden Punkt eine Inkompatibilität vorliegt. Schleiermachers Vorgehen beruht auf einer ontologischen Methodologie, die darauf abzielt, das Wesen einer Sache zu erforschen. Ein solcher Ansatz versucht m. a. W. herauszubekommen, »wie es ist« (von Foerster 1993, 97). Kybernetik, insbesondere die einer zweiten Ordnung, konzentriert sich dagegen auf die Dynamik allen Geschehens. Sie will Faktoren wie die Zeit erforschen, die das Entstehen von Prozessen ermöglichen und eine Ontologie durch eine Ontogenetik ersetzen (a. a. O., 104).2
Die Anwendung kybernetischer Erkenntnisse auf die Frage, wie die Kirche gesteuert werden kann, wird von manchen Vorbehalten begleitet. Denn eine Wissenschaft von der Regelung und der Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschinen, wie Norbert Wiener im Jahr 1948 seine bahnbrechende Publikation im Untertitel genannt hat, evoziert den Verdacht, hier würden vor allem technische Methoden angewandt.3 Können Beobachtungen von Input-Output-Verhältnissen geeignet sein, die kategorial ganz anders bestimmten religiösen Vollzüge zu erfassen und zu verstehen? Zudem ist der Begriff »Maschine« erklärungsbedürftig. In der Kybernetik wird darunter ein »motorisches Energiesystem« verstanden, dem ein Sensor hinzugefügt wird, der die Aktivitäten der Maschine (oder des Organismus) registrieren kann und gegebenenfalls bei auftretenden Abweichungen von einem Sollwert Korrekturen einleitet (a. a. O., 99). Heinz von Foerster weist darauf hin, dass er den Begriff Maschine als »Formalismus« benutzt, »der dazu dient, auf disziplinierte Weise zu argumentieren und präzise den Beweis zu führen, dass sich Mensch und Universum nicht trivialisieren lassen und das analytische Problem unlösbar ist.« (von Foerster/Pörksen 2016, 59).
Ungewohnt für ein Denken in traditionellen Bahnen ist auch die Abkehr von kausalen Erklärungen in der Kybernetik. Kausale Erklärungen beruhen darauf, auf lineare Art und Weise Input und Output bei einem System oder Organismus zu messen und in einem nächsten Schritt die ermittelten Werte in ein Verhältnis zu setzen. Kybernetiker sehen dagegen das zu untersuchende System als eine »black box« an.
Eine black box kann nicht geöffnet werden. Sie transformiert auf eine unbekannte Weise den Input in einen Output. Der Output einer trivialen Maschine, etwa eines Autos, in das man zehn Liter Benzin einfüllt und das dann etwa 150 Kilometer weit fährt, ist immer derselbe. Eine nichttriviale Maschine zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass sich ihre Operatoren praktisch mit jeder Operation ändern können, weil sie etwa entschieden hat, heute nicht in der Stimmung für die vorgeschriebene Leistung (wie etwa Hausaufgaben, Steuererklärung usw.) zu sein. Deswegen ist ihr Output unterschiedlich, mal so oder mal anders. Die Dynamik und die Relationen eines Organismus sind darum nicht einfach linear ausrechenbar. Ein solches System ist prinzipiell nicht analysierbar.
Deswegen verzichten Kybernetiker darauf, herauszubekommen, wie eine black box funktioniert. Sie wählen ein grundsätzlich anderes Vorgehen. Denn ihre Entdeckung besteht in der Erkenntnis, dass ein Arbeiten mit dem System bzw. Organismus dennoch möglich ist. Die Forscher beobachten die Funktionen der black box und experimentieren dann mit den erkannten Funktionen. So stellen sie fest, dass, wenn sie Rekursionen (also zirkuläre Anwendungen der Operationen auf sich selbst) verstärken, sich von selbst, also autopoietisch, Eigenwerte bilden. Der Begriff »Eigenwert« stammt von dem Mathematiker David Hilbert (1862-1943) und wird auch in der Quantenmechanik verwendet. Das Phänomen lässt sich etwa bei schwingungsfähigen Systemen oder bei Materialversagen beobachten. Uns interessiert die Anwendung auf soziale Systeme. Hier zeigen die Forschungen, dass auch soziale Systeme als nicht-triviale Maschinen aufgrund des Prozessierens ihrer Eigenwerte unter Einbezug der Kategorie Zeit eine operative Stabilität entwickeln. Es bleibt zwar unmöglich, ihr Verhalten vorauszusagen. Aber es eröffnet sich eine neue Perspektive: die Erforschung der Bedingungen der Möglichkeit von Prozessen, die für soziale Systeme Innovationen ermöglichen. Hilfreich ist auch die Erkenntnis, dass Stabilität sich nicht aus Aktionen gegen die störenden Kräfte ergibt, sondern dadurch, dass diese als Quellen der Kreativität benutzt werden können. »Wir sollten«, so von Foerster, »eine Strategie verwerfen, die uns nach Dingen außerhalb unser selbst suchen lässt, und eine Strategie entwickeln, die uns erlaubt, nach Prozessen innerhalb unser selbst zu forschen.« (1993, 273).
Die Etablierung der Kybernetik als eigene Wissenschaftsdisziplin ist mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges verbunden. Eine Gruppe von Mathematikern unter der Führung von Alan Turing hatte es geschafft, die Verschlüsselung der Nachrichten der Wehrmacht zu dekodieren. Turing erfand einen Rechner, der die Codes der ENIGMA-Maschine entschlüsseln konnte. ENIGMA galt bis dahin aufgrund ihrer unüberschaubaren Anzahl von mehr als 200 Trilliarden Verschlüsselungsmöglichkeiten als »unknackbar«. Doch Turing gelang dies, und durch diese Entschlüsselung der Kommunikation war es den Alliierten möglich, die Pläne insbesondere der deutschen U-Boot-Flotte im Voraus zu kennen.
Der heuristische Weg zu diesem Erfolg war epochemachend und führte zum Beginn eines neuen Zeitalters. Denn die britischen Forscher fanden heraus, dass Information nicht übertragen wird, sondern ein Muster oder eine Matrix dafür sorgen, dass Information errechnet werden kann. Das Nachdenken über eine unmittelbare Lösung für die Entschlüsselung des Codes führte zu keiner Lösung, aber mit Hilfe der Klärung der abstrakten Frage »Wie funktioniert das Funktionieren?« war eine Ebene zweiter Ordnung gefunden, die die konkrete Aufgabe zu bewältigen half. Mit der Erkenntnis, dass alle Regelungen und Steuerungen durch Informationen geschehen, ist nach dem Krieg Information als dritte Größe neben Materie und Geist etabliert worden. Das Informationszeitalter begann.
Um die Bedingungen der Möglichkeit von Prozessen zu erforschen, wird in der Kybernetik von »Was-Fragen« auf »Wie-Fragen« umgestellt. Das Interesse richtet sich nunmehr auf eine ontogenetische Frage: Wie entsteht dieses komplexe Sozialsystem Kirche, wie funktioniert es, wie erhält es sich und wie kann es angepasst werden. Fragt man so, dann erzeugt dieses schon eine mögliche Antwort, bzw. genauer: Diese Frage erzeugt nicht nur eine Antwort,...
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