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"Nun lass mal gut sein, Mama, es ist alles in Ordnung. Mir geht es bestens, kein Grund zur Sorge."
Damit war das Gespräch hoffentlich beendet, aber ein paar gute Ratschläge musste Tilda doch noch entgegennehmen, ehe ihre Mutter sie entließ. Ja, sie würde die Tür immer gut abschließen, und ja, sie würde nicht öffnen, wenn Fremde klingelten, und natürlich würde sie sich bald wieder melden.
Nachdem sie aufgelegt hatte, ließ Tilda sich mit einem Seufzer in den abgewetzten Blümchensessel vor dem alten gusseisernen Ofen fallen, neben dem sich die Holzscheite türmten. Ihre Mutter tat gerade so, als sei sie in die Walachei gezogen und nicht in ein beschauliches Dorf am Rande der Südheide. Keine drei Stunden Autofahrt von Berlin entfernt und doch eine andere, von Wiedergängern, Wölfen und Moorleichen bevölkerte Welt, in der sich, glaubte man ihrer Mutter, kein Mensch freiwillig niederließ. Selbst dann nicht, wenn man dort vollkommen unverhofft ein altes Fachwerkhaus samt wildromantischem Garten von seiner verstorbenen Tante Esther geerbt hatte.
Während sie die Gartenhandschuhe, die sie vorhin beim Klingeln des Telefons ausgezogen hatte, wieder überstreifte, blickte Tilda hinaus durch die offene Terrassentür. Grün in den verschiedensten Schattierungen, so weit das Auge reichte. Dazwischen die weißen und roten Tupfer der Rosen, die in voller Blüte standen. Drei Apfelbäume, eine Birne und eine Quitte, deren Früchte grüngelb im Licht der untergehenden Sonne leuchteten.
Eine herrliche Gegend, um sich eine Weile vom Großstadtstress zu erholen, hatte Dr. Wilke, der Celler Notar, bei der Testamtseröffnung gesagt und dabei schwärmerisch die Augen verdreht. Auch er lebte seit zehn Jahren in Ahrensbostel, einem Paradies auf Erden. Das hatte Tilda überzeugt. Und wenn sie doch einmal die Sehnsucht nach einem Zimt-Chai-Latte im Café Lola oder nach ihrem Lieblingsschuhladen packte, setzte sie sich einfach ins Auto und fuhr zurück nach Berlin.
In ihre Schöneberger Zwei-Zimmer-Wohnung, die sie für ein halbes Jahr an einen amerikanischen Kunststudenten untervermietet hatte, würde sie zwar vorerst nicht zurückkönnen. Aber ihre Mutter hatte Tilda angeboten, übergangsweise im Gästezimmer zu wohnen, falls sie es sich mit dem Landleben doch noch anders überlegen sollte. Keine schöne Aussicht, mit Mitte vierzig wieder ins elterliche Einfamilienhaus einzuziehen. Und doch war es beruhigend, zu wissen, dass es in Berlin noch einen Platz für sie gab.
Tilda schloss die Augen und atmete die milde Herbstluft ein. In den Rosen- und Lavendelduft mischte sich der Geruch von Dünger und verbranntem Holz. Bienen summten um die faulenden Äpfel, die im hohen Gras lagen, herum. In der Ferne brummte ein Traktor.
Wie gut das tat, diese Stille und Ruhe. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie vorgehabt, sich eine berufliche Auszeit zu nehmen. Und jetzt hatte sie es endlich wahrgemacht. Die Frage war nur, wie lange sie es aushalten würde. Ohne Termine und Events, ohne die koffeingetränkten Redaktionssitzungen und die endlosen Stunden vor dem Computer. Selbst wenn sie, selten genug, einmal Urlaub nahm, musste sie alle halbe Stunde ihre Mails checken, sonst wurde sie zappelig.
Nein, diesmal würde sie sich an das selbst auferlegte Arbeitsverbot halten. Keine endlosen Recherchen, keine Artikel über die Urlaubsflirts irgendwelcher Stars und Sternchen oder die heimlichen Affären in Königshäusern. Kaffee nur in Maßen. Das Denken ausschalten. Achtsamkeit trainieren. Den Dingen mit Gleichmut begegnen. Du musst deine innere Mitte finden, hatte Sanya, ihre Yogalehrerin, Tilda zum Abschied mit auf den Weg gegeben. Feste Rituale entwickeln, spazieren gehen, im Garten arbeiten, Kräutertee trinken. Herausfinden, was dir wichtig ist. Wofür du lebst. Nein, diesmal würde sie sich nicht ablenken lassen. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass William und Kate ihren Wanderurlaub hier in der Gegend verbrachten, würde sie es achselzuckend hinnehmen.
Irgendwo blökte ein Schaf, und Tilda öffnete die Augen. Plötzlich merkte sie, wie müde sie war. Die Fahrt von Berlin hierher, das Ein- und Auspacken, die ungewohnte Landluft. Bestimmt würde sie bald ins Bett fallen.
Vorher musste sie allerdings noch etwas essen. Zum Einkaufen war sie heute noch nicht gekommen. Auf der Fahrt hierher hatte sie im Nachbardorf eine Gaststätte gesehen. Nicht gerade ein Vier-Sterne-Lokal, aber eine warme Suppe und ein Bier würde sie dort sicher bekommen.
Im Flur nahm sie den hellen Trenchcoat vom Garderobenhaken und starrte eine Weile auf die Schuhreihe, die sich die ganze Flurwand vom Eingang bis zum Wohnzimmer entlang zog. Eigentlich Unsinn, schwarze Lackpumps, Glitzersandalen und elegante Lederstiefelletten in diese Walachei mitzunehmen, aber sie hatte es nun einmal nicht übers Herz gebracht, ihre Lieblinge in Berlin zurückzulassen. Abgesehen davon, dass sie es ihrem Untermieter kaum zumuten konnte, sich seinen Weg vom Bett ins Bad zwischen Schuhkartons hindurchzubahnen.
Unentschlossen probierte Tilda ein Paar Daisy-Duck-Pumps und cremefarbene Lederpantoletten an, ehe sie sich für die roten Riemchensandalen mit dem Keilabsatz entschied, die wunderbar zu ihrem geblümten Sommerkleid passten. Vor dem großen Flurspiegel fuhr sie sich ein paarmal mit beiden Händen durch die kurzen, blond gesträhnten Haare und zog sich dann sorgfältig die Lippen nach. Vielleicht ein bisschen zu elegant für einen Besuch in einer Landschenke, aber sei's drum. Nur weil man auf dem Dorf lebte, musste man ja nicht den ganzen Tag in Gummistiefeln und Fleecejacke herumlaufen.
Etwas Weiches, Pelziges streifte ihre nackten Unterschenkel, und Tilda fuhr vor Schreck zusammen. "Ach, du bist das, Susi. Nein, du bleibst hier. Wer weiß, ob Hunde in der Gaststätte überhaupt zugelassen sind."
Susi. Die einzige Bedingung, die Tante Esther an das Erbe geknüpft hatte. Wer das Haus übernahm, musste sich um Susi kümmern, das hatte sie testamentarisch festgelegt. Eine Bedingung, die anzunehmen Tilda nicht schwergefallen war.
Von dem Augenblick an, als der weiße Terriermischling mit den hellbraunen Flecken und den dunklen Schlappohren zum ersten Mal an ihr hochgesprungen war, hatte Tilda ihn ins Herz geschlossen. Ohne Zögern war Susi ihr vorhin zum Wagen gefolgt, überglücklich, die heruntergekommene Tierpension, in der sie die letzten zwei Wochen verbracht hatte, verlassen zu dürfen. Wie sie sich gefreut hatte, endlich wieder zu Hause zu sein! Eine Weile war sie aufgeregt schnüffelnd von einem Zimmer ins andere gelaufen, wahrscheinlich auf der Suche nach ihrem verflossenen Frauchen. Irgendwann hatte sie sich resigniert in ihr Körbchen fallen lassen und ein paar Stunden geschlafen. Ob Hunde auch trauerten? Tilda wusste zwar, wie der Yorkshire-Terrier von Miranda Kerr hieß (Frankie) und welcher Rasse der Haushund der Obamas angehörte (Portugiesischer Wasserhund), aber mit dem Seelenleben von Vierbeinern kannte sie sich nicht besonders gut aus.
Jetzt saß Susi mit schief gelegtem Kopf zu ihren Füßen und blickte sie aus ihren großen dunkelbraunen Augen an. Tilda schluckte. Gegen traurige Hundeblicke war sie machtlos. Tierfilme stürzten sie regelmäßig in Weinkrämpfe, und wenn im Winter die Zirkusleute mit einem frierenden Pony um eine Futterspende baten, steckte sie immer gleich einen Zehner in die Dose. Bei den Tierschützern, die in Einkaufspassagen Unterschriften gegen Tierversuche sammelten, blieb sie immer stehen, auch wenn sie es noch so eilig hatte. Erst neulich war sie bei den Bildern geschredderter männlicher Küken, die ihr eine Aktivistin unter die Nase gehalten hatte, in Tränen ausgebrochen. Aber jetzt musste sie hart bleiben. Susi sollte lernen, auch einmal allein zu Hause zu bleiben. Wahrscheinlich war sie es von ihrer Vorbesitzerin gewohnt, überallhin mitgenommen zu werden.
Tilda öffnete die Haustür einen Spalt weit und schlüpfte rasch hinaus. Vor dem Gartentor blieb sie stehen und sah sich um. Ganz schön weit ab vom Schuss, ihr neues Zuhause. Am Ende eines sandigen Weges, der in einem grünfleckigen Nichts endete. Das einzige Nachbarhaus weit und breit lag hinter dichtem Laubwerk verborgen. Nicht gerade the place to be, aber ihr sollte es recht sein. Keine nächtlichen Kneipengänger, die grölend durch die Straßen zogen, keine Technobässe aus der Nachbarwohnung, keine Lachsalven von den kiffenden Jugendlichen auf dem Balkon unter ihr.
Stattdessen Stille. Stille und Einsamkeit. Nur das ferne Brummen der Traktoren erinnerte Tilda daran, dass sie nicht allein auf der Welt war.
Auf der von Wäldern und Feldern gesäumten Landstraße kamen Tilda nur wenige Autos entgegen. Wahrscheinlich saßen um diese Zeit alle Leute beim Abendessen. Oder vor dem Fernseher, um sich von der Tagesschausprecherin erzählen zu lassen, was so los war in der Welt.
Hinter einer Kurve tauchte plötzlich ein roter Smart auf, das gleiche Modell, das sie auch gefahren hatte, bevor sie auf den Mini umgestiegen war. Tilda riss das Lenkrad herum, um ihn in weitem Bogen zu überholen. Im Rückspiegel sah sie, wie der Smart in einen Waldweg einbog, ehe er hinter dichten Büschen verschwand.
Hamburger Kennzeichen. Klar, ein Großstädter wie sie, der sich in die Pampa...