Schweitzer Fachinformationen
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Akis Muma, die dumme Schlampe, war an einem Mittwoch gestorben, als sie ihn in München im Stich gelassen hatte, um in Tokio mit einem Businesswichser ein neues Leben zu beginnen. In jedem Menschen steckte ein Verräter. Doch in seiner Muma steckten zwei. Sie und dieser Typ aus Tokio. Aki machte sich nichts vor. Die beiden trieben es wahrscheinlich wie die andalusischen Hunde.
Aki war nur zwei Mal in Tokio gewesen. Während des ersten Besuchs verstarb seine Großmutter in einer privaten Pflegeeinrichtung in Yokosuka, die eingebettet zwischen kletternden Hortensien und rot leuchtenden Azaleen lag. Vor dem Fenster gab es einen Parkplatz und dahinter eine Straße. Erst dann kam das Meer. Es war trüb und die Felsen am Ufer schroff. Niemand aus dem Pflegeheim würde jemals darin schwimmen. Das war das traurigste an dem Ort gewesen. Vor dem Pflegeheim hatte ein Leichenwagen geparkt. Die hintere Tür stand offen. Als er an der Hand seiner Muma das Pflegeheim betreten hatte, stand der Fahrer vor dem Eingang und rauchte eine Zigarette. Neben ihm saßen zwei Bewohnerinnen auf einer Steinbank, auch sie rauchten und ihre Gesichter waren ganz blass und sie starrten auf den geöffneten Wagen und schwiegen. Als er an das Bett seiner Großmutter trat und in ihr starres Gesicht blickte, wurde ihm wieder bewusst, dass er diese bleiche Greisin nur von Fotos kannte.
Eine Fotografie zeigte sie auf einem gelben Motorroller von Honda oder Yamaha. Vor ihr saß ein Mann, den sie mit einem Arm umschlungen hielt. Mit dem anderen zeigte sie auf etwas, das außerhalb des Bildrandes lag. Ihr Mund stand offen. Auch der Mund seiner verstorbenen Großmutter war geöffnet gewesen. Als hätte sie unbeschreibliche Schmerzen durchlitten. Oder sich bis zuletzt gewundert.
Nur widerwillig war seine Muma dem Ritus gefolgt, der nach dem Tod eines Menschen in Japan in Kraft zu treten schien. Die steifen Glieder seiner Großmutter waren in ein weißes Totengewand gepackt worden. Nach einiger Zeit betrat der Bestatter den Raum. Er roch nach Rauch und seine müden Augen lagen in tiefen Höhlen. Nach einem kurzen Blick zur Muma erklärte er Aki, seine Großmutter würde bereits durch das Totenreich wandern. Dem Anoyo. Dort würde sie nun ihr Dasein nach dem Leben fristen. Dieses sei mit Sicherheit, und hier warf er einen raschen Blick in die angsterfüllten Augen des Leichnams, voller Glück, Freude und im Umfeld ihrer Liebsten zu Ende gegangen sei. Daran hatte Aki so seine Zweifel gehabt. Doch er hatte genickt und seine Muma gemustert, die apathisch auf einem Stuhl am Fenster gesessen und hinaus auf den aschfahlen Parkplatz gestarrt hatte. Dabei hatte Aki sich nicht unwohl gefühlt. Er hatte sich längst an die Stumpfheit seiner Muma gewöhnt. Beim Verlassen des kühlen Raumes hatte der Mitarbeiter Aki seine schmale Hand auf die noch schmalere Schulter gelegt.
»Deine Großmutter wird immer bei dir sein. Die Geister bewegen sich zwischen den Welten, zwischen konoyo, dieser Welt, und anoyo, dem Jenseits.«
Danach hatte er den Raum verlassen, wobei er die Tür sanft schloss, als würde die Großmutter lediglich schlafen und dürfte unter keinen Umständen geweckt werden.
Es war Aki nicht leicht gefallen, sich vorzustellen, worüber ein Mensch sich am Ende seines Lebens noch wundern sollte. Nach dem Abgang der Muma hatte er jedoch geahnt, dass das gesamte Leben aus Fragen und aus Wundern bestand. Sein Vater lag auf dem Sofa und wunderte sich über die Stille in der Münchner Wohnung, während er zu verstehen versuchte, wie sich das alles so verhielt mit dem Leben und der Liebe und dem Jungen im Kinderzimmer. Und Aki hatte in seinem Zimmer gesessen und sich gefragt, wann die Muma wiederkam. Aber sie kam nicht wieder. Stattdessen wurde ihr Fehlen zu so etwas wie einem Echo. Durch dieses Echo war die Muma sogar präsenter gewesen als in den Jahren vor ihrer Flucht nach Tokio. Sie war immer da. Aber gleichzeitig eben immer weg. Und das wiederum fiel den Menschen auf, den Lehrerinnen und Nachbarn, den Verwandten und auch Timotheus.
Timotheus war Akis engster Freund. Er hatte auch in München gelebt, zwar nicht in Schwabing, sondern in Nymphenburg oder Gern, so genau wusste Aki es nicht, weil Timotheus darüber nicht sprach. Er sprach generell wenig und wenn er etwas sagte, dann konnten die meisten Menschen nicht unterscheiden, ob er etwas ernst meinte oder sie anlog. Auf jeden Fall hatte Timotheus sich lange wohl nicht getraut zu fragen, wo Akis Muma war. Oder ob es sie überhaupt gab. Ihre Abwesenheit stellte einfach eine Tatsache dar, auf die man sich verlassen konnte. Erst im Sommer 2012 war diese Mechanik aus dem Tritt geraten, denn da hatte der FC Bayern München gerade das Finale der Champions League im eigenen Stadion gegen Chelsea im Elfmeterschießen verloren.
Akis Vater war am Wohnzimmerboden zusammengebrochen, nachdem Bastian Schweinsteiger seinen Elfmeter an den Innenpfosten gesetzt hatte. »Verdammt«, hatte er geschrien. »Verdammt, verdammt.«
Anschließend waren Aki und Timotheus durch die Münchner Innenstadt gelaufen. Wie benommen traten die Menschen aus den Kneipen. Nur ein paar Fans des FC Chelsea sangen bisweilen in einem Biergarten. Oder sie tanzten um die Brunnen am Marienplatz herum und klopften sich gegenseitig auf dem Weg zur U-Bahn auf die Schulter.
»Was bleibt deinem Vater jetzt noch?«, hatte Timotheus plötzlich gesagt und Aki forsch angeschaut.
»Nichts«, hatte Aki geantwortet. »Absolut gar nichts.«
»Und deine Mutter?«
»Was soll mit der sein?«
»Wo ist sie?«
»Weg.«
»Scheiße.«
»Ja. Scheiße.«
Ungefähr zehn Jahre später saß Aki auf einer Park im Wiener Stadtpark und blickte auf sein Handy.
»Ey, warum lässt du dir keinen Buzzcut schneiden?«, schrieb Timotheus.
»Mein Gott, nein, nein. Ich möchte das alles nicht mehr hören«, antwortete Aki sofort.
Es hatte zu regnen begonnen. Der Regen perlte auf dem Bildschirm wie das Bier in der Schöfferhofer Weizen Werbung im Bauchnabel. So schön. Geräuschlos und unwirklich.
»Ich bin gerade bei Albert. YouTube-Vorschläge auf seinem MacBook: all my friends hate skrillex. best of g20 escalations. jonathan meese x dj Hell. Kommst du auch?«
Ruckartig stand Aki auf und lief los. In der Mitte des Parks gab es einen kleinen Teich, über den führte eine Brücke, eine chinesische. Während Aki den Teich umrundete, dachte er darüber nach, wie täglich Touristen aus Fernost oder Seattle nach Wien kamen, um sich die Prachtfassaden der Ringstraße anzuschauen, ehe sie sich gegenseitig vor dieser chinesischen Brücke fotografierten. An tausenden von Hisense-Kühlschränken und Millionen von iPhone-Rückblicken weltweit tauchten diese Fotos auf, grinsende Touristinnen mit Tragetaschen vom Sisi-Museum vor einer chinesischen Brücke im Wiener Stadtpark.
Einige Bänke weiter saß eine beige Greisin und stützte sich auf ihren Gehstock. Als er an ihr vorbeilief, riss sie ihre ausgeblichenen Handschuh-Hände in die Höhe, wandte den Kopf zum Himmel und zuckte zusammen. »Maria. Maria. Maria. Das stimmt alles nicht.«
Aki folgte ihrem Blick und das war irgendwie seltsam, weil, ja, weil der Himmel plötzlich aussah wie eines dieser Testbilder in alten Fernsehprogrammen. Alles war grau und diesig. Und weil es regnete, brachen einzelne Vögel durch die Wolken, die so tief hingen, als könnte man sie mit den Händen erreichen. Aki streckte eine Hand aus. Er spürte, dass die Frau ihn musterte. Plötzlich zog ihm eine Kälte in die Knochen, sodass er schnell den Blick senkte und zum Ausgang lief.
Aki hatte Lust, Albert in seinem Penthouse im ersten Bezirk zu besuchen. Seine Wohnung war unverschämt groß und hell und wenn man über den Parkettboden lief, hörte es sich so an, als würde man über Filz laufen. Die Fensterscheiben waren dick, die Schiebetüren zum Balkon schwer und die Wände massiv. Es konnte einen ziemlich rühren, von dort oben auf die Menschen zu blicken, die mit ihren Kleidersäcken von Peek & Cloppenburg oder den Tragetaschen vom Steffl durch die Kärntnerstraße zum Karlsplatz eilten. Alles wurde klein und in ein Verhältnis gerückt, so wie es Astronauten auch oft berichteten, wenn sie zum ersten Mal die Erde von oben sahen. Aki fühlte sich in dieser Wohnung wohl und sicher, während die Welt dort draußen zerbrechlich war und wunderschön. Albert wohnte über einem McDonald's, der in ein ehemaliges Lichtspielhaus gepfercht worden war, mit Kronleuchtern und Stuck und die Fritteusen, in die die Mitarbeiter die panierten Küken warfen, waren genau da, wo um die Jahrhundertwende Männerbeine in Strapsen auf einer Bühne dem Wiener Bürgertum ordentlich eingeheizt hatten. Wie die meisten Wohnungen der Inneren Stadt verfügte Alberts Wohnung über eine gepanzerte Eingangstür mit weißer Lackierung. Einerseits, um jegliche Geräusche aus dem Innenraum an der Flucht nach außen zu hindern. Andererseits, um die sozial Abgehängten im Falle eines längst überfälligen Aufstands einige Stunden in Schach zu halten. Zumindest so lange, bis sie sich organisiert hatten, um sich unter Anwendung massiver Gewalt Zugang zu den diversen Wiener Dachgeschosswohnungen zu verschaffen. Dort würden sie sich daran machen, die Eigentümer entweder zu vergewaltigen und danach zu lynchen oder ihnen sofort den Garaus zu machen. Im Anschluss an diese Impulshandlung würden sie sich über eingeschweißte Edeltortellini aus dem Billa Corso am Stephansplatz hermachen, teure Beautyprodukte ausprobieren und schlussendlich in Satinbettwäsche ihrem wohlverdienten Schönheitsschlaf...
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