Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Sie packte meine Schultern und rüttelte mich heftig. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ein Erdbeben erleben. Der Raum drehte sich und mein Zeitgefühl ging verloren. Ich dachte, die Welt wäre stehen geblieben. Valentina warf eine violette Mappe aus Kunststoff auf mich. Danach einen Stift. Auch ein Glas schleuderte sie nach mir, welches gegen die Wand prallte. Hunderte von Splittern fielen auf den Boden. Einer, der sich wie ein ungewolltes Teil von all den anderen getrennt hatte, strich über meinen Finger. Ich blutete. Das tat weh! Valentina schien es gar nicht zu bemerken, denn sie war mit dem Herumschmeißen von Gegenständen noch nicht fertig.
Ich hörte sie schreien: »Das kannst du nicht machen!«
Valentina lief so rot an, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Ich ging ein paar Schritte zurück, als ich merkte, wie mir schwindelig wurde und lehnte mich an die Wand. Meine Mitbewohnerin war eine tolle Persönlichkeit, die hin und wieder ihre Aggressionen rauslassen musste. Sie wurde wütend, wenn sie sah, dass ich mich verzweifelt und einsam fühlte. Das passierte, wenn mir einfiel, wer ich war und woher ich kam. Wenn Valentina grantig wurde, sah ich mir ihre langen schwarzen Locken an, die sie schwungvoll hin und her warf. Einmal nach links, dann nach rechts. Danach nach vorne und hinten. Meine beste Freundin hatte wundervolles Haar, so buschig wie die Mähne eines Löwen, und überdies eine dunkel glänzende Hautfarbe. Ihre länglichen Nägel waren schön gefeilt und sie hatte gepflegte, volle, verführerische Lippen, die sie gern mit einem weinroten Lippenstift ausmalte. Sie kam ursprünglich aus Rio de Janeiro und war die bewundernswerteste Fotografin, die ich je zu sehen bekam.
Valentina lebte seit einer langen Zeit in London. Ihre Fotografien waren hervorragend. Ihre Art der Veranschaulichung war lebendig und gefühlvoll - keine einfache Darstellung. Man konnte sie sich stundenlang ansehen und fragen, was sich dahinter verbarg. Doch Valentina verriet kaum jemandem ihre Geschichten. Sie meinte, die müsste man sich selbst ausdenken.
»Das ist auch das Spannende an der ganzen Sache, nicht die Schilderungen dahinter«, erklärte sie, während sie mir einzelne Fotografien zeigte, die wir bewunderten, als wären sie von Annie Leibovitz geschossen worden, einer der bestbezahlten und bekanntesten Fotografinnen der Welt. Dies war aber nicht die einzige Art von Erzählungen und Gedanken, die sie den Menschen mitteilen wollte. Sie meldete sich auch in anderen Bereichen zu Wort. Wenn sie etwa Petersiliensaft trank, das geschmackvollste Getränk in ihren Augen, nahm sie für dessen Beschreibung Wörter in den Mund, die einem nie einfallen würden. Sie dichtete beinahe, während sie ihre Eindrücke schilderte.
An diesem Abend spürte ich eine enorme Spannung zwischen uns. Ich hatte Schuldgefühle, als ich zusah, wie eine mächtige Wut in ihr aufstieg. Ich hockte mich hin, schloss meine Augen und steckte meinen blutenden Finger in den Mund.
Ihre Stimme, die in meinen Ohren wie ein Orchester klang, hallte im ganzen Raum: »Hör auf damit!«
»Mein Blut.«, fing ich an und verzog mein Gesicht. »Es schmeckt wie Popcorn«, fügte ich hinzu, als wäre ich ein Gourmet, der sein fachmännisches Urteil ablegte.
»Was?«, rief sie und schaute mich verblüfft an.
»Ich sagte, dass mein Blut wie Popcorn schmeckt«, wiederholte ich meinen Satz und blickte drein, als hätte mich der Geschmack angeekelt.
Daraufhin schüttelte sie den Kopf, nahm ihre Jacke vom verschmutzten Boden und ging aus der Wohnung. Valentina war enttäuscht von mir. Sie fühlte sich veräppelt. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte, dachte ich nach. Ob sie wohl recht hatte? Ich stand hastig auf, um Ordnung zu schaffen. Die Scherben versuchte ich mit meiner zittrigen Hand aufzusammeln. Da ich noch immer meinen blutenden Finger im Mund hatte, musste ich mit einer Hand arbeiten, was eine große Herausforderung war. Währenddessen hatte ich meine Kindheit vor Augen und ich spürte eine Leere in mir. Ich war nichts als eine einsame, blutende, auf sich allein gestellte Hand, die sich durch das Leben kämpfte. Doch Valentina war der Meinung, dass ich besondere Fähigkeiten hätte.
»Nick. Weißt du eigentlich, was in dir steckt? Du besitzt ein großes Vermögen. Eine riesige Schatztruhe verbirgt sich in dir. Wenn du deine Stärken richtig anwenden würdest, hättest du jetzt einen anderen Status in der Gesellschaft und viel Anerkennung gewonnen«, erklärte Valentina am Abend davor, während sie gierig mit der Gabel in ihrem Shrimps-Salat stocherte.
Leute, die mich gut kennen, nennen mich Nick, obwohl mein voller Name Nicholas Parker lautet. Seit Jahren musste ich mir von meinen Freunden - besonders von Valentina - anhören, dass ich ein hervorragendes Gedächtnis hätte. In meinem Körper geschahen Vorgänge, die ich nicht definieren konnte. Zum Beispiel wusste ich oft wie etwas schmeckte, ohne es zuvor probiert zu haben. Erstaunlicherweise konnte ich Düfte aus der Ferne wahrnehmen und die feinsten Details beschreiben. Zusätzlich konnte ich genau sagen, woher der Duft kam und welchem Gegenstand oder welcher Person ich ihn zuordnen musste.
»Hör' zu, Nick. Ich finde es nicht in Ordnung, dass du dich selbst nicht ernst nimmst. Du besitzt Eigenschaften, die sich viele Leute wünschen würden und dann fängst du erst recht nichts damit an. Du kannst.«, begann sie und ich vollendete den Satz in meinem Kopf: ».ein ganzes Stück in seine Bestandteile zerlegen, ohne es auch nur anfassen zu müssen. « Valentina sprach ja die richtigen Worte aus, aber ich wollte ihre Feststellungen über meine Intelligenz nicht akzeptieren.
»Himmel, wie oft soll ich es dir noch sagen? Das ist reiner Zufall«, widersprach ich sofort, »nur eine Gunst des Schicksals.«
Ich seufzte, warf die Scherben weg, schloss die Tür und verließ die Wohnung. Als ich durch die Straßen von London schlenderte, setzte ein erfrischender Regen ein, der auf meine Schultern prasselte. Die einzelnen Tröpfchen konnte ich auf meiner Haut spüren. Es fühlte sich so an, als ob jemand permanent mit seinen Fingern leicht auf meine Schultern tippen würde.
Ich fragte mich selbst, warum ich nur so seltsam war und richtete meinen Blick auf die Menschen, die an mir vorbeihuschten. Sie hielten ihren letzten heißen Kaffee des Tages in den Händen und liefen nach Hause. Manche von ihnen hatten keinen Regenschirm dabei und hatten es besonders eilig. Ich sah auf den nassen Boden und versuchte solide Schritte zu machen, um den festen Grund, der mir eine gewisse Sicherheit gewährte, unter meinen Füßen besser spüren zu können. Dann schaute ich auf und sah in den Himmel. Ein Tropfen nach dem anderen fiel auf mein Gesicht. Sie kullerten mir über Nase und Wangen.
»Genau das bin ich«, sprach ich zu mir, »eine Lücke. Ein Spalt zwischen Himmel und Erde und ich weiß nicht, wo ich hingehöre.« Das Außergewöhnliche in mir brachte mich manchmal in Schwierigkeiten. Nicht ganz verstanden zu werden, war für mich eine Hürde. Wenn mich Geistesblitze überfielen und ich von innovativen Gedanken umhüllt wurde, dann bekam ich unerträgliche Kopfschmerzen. Anders zu sein war mühsam. Tatsache war, ich musste mit diesem Gefühl klarkommen und lernen damit umzugehen. Hin und wieder geriet ich in Situationen, in denen ich bewusst versuchte, gewöhnlich zu sein. Mich von anderen nicht zu unterscheiden und meine Fähigkeiten zu verbergen, war nicht so leicht, wie es sich anhörte. Ich erklärte meinen Freunden nicht, dass ich das Innere einer Frucht sehen konnte, wenn sie plötzlich in Gedanken vor meinen Augen auftauchte. Ich war fähig, die exakte Länge, Breite und sogar den Geschmack einer brasilianischen Papaya zu erkennen, obwohl ich nie zuvor eine probiert hatte. Es war einfach verblüffend! Ich konnte, wie erwähnt, sogar ihr Inneres sehen: das Fruchtfleisch, die Kerne und ihre Farben. Das war für mich gleichzeitig eine Last, die ich nicht ertragen konnte, denn das Bild ging nicht fort, auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte. Ich konnte zwar Gegenstände sehen und analysieren, aber ich hatte nicht die Fähigkeit sie zu steuern. Meinem Gehirn konnte ich nicht den Befehl geben, dass es jetzt genug wäre und ich keine Früchte mehr sehen wollte. Sie gingen dann, wenn sie bereit waren zu gehen. Und das passierte rund um die Uhr. In manchen Momenten hatte ich Szenen in meinem Kopf, bei denen ich glaubte, ich hätte sie zuvor schon mal erlebt. Eine Art Déjàvu, verwirrend und aufregend zugleich. Manchmal dachte ich, dass ich mir Erinnerungen und Gedanken nur einbildete, aber dann gab es wieder Augenblicke, in denen sie so real waren. Oft war ich überzeugt von ihnen. Hatte ich diese Antwort schon mal gehört? Hatte ich diese Erfahrung zuvor gemacht? Ich flüchtete deshalb vor diesen Erlebnissen und wollte keine...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Adobe-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Adobe-DRM wird hier ein „harter” Kopierschutz verwendet. Wenn die notwendigen Voraussetzungen nicht vorliegen, können Sie das E-Book leider nicht öffnen. Daher müssen Sie bereits vor dem Download Ihre Lese-Hardware vorbereiten.Bitte beachten Sie: Wir empfehlen Ihnen unbedingt nach Installation der Lese-Software diese mit Ihrer persönlichen Adobe-ID zu autorisieren!
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.