Schweitzer Fachinformationen
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Die kleinen Mädchen in Raum 4 spielten Schlussmachen. Gerade machte die Ballerinapuppe mit der Matrosenpuppe Schluss. »Tut mir leid, John«, sagte sie mit energischer, geschäftsmäßig klingender Stimme, Jillys Stimme, »aber ich bin in jemand anders verliebt.«
»In wen?«, fragte der Matrose, gesprochen von Emma G., die ihn in seinem kleinen, blauen Matrosenhemd an der Taille hochhielt.
»Das kann ich dir nicht sagen, weil die Person dein bester Freund ist, und das würde dich verletzen.«
»Wie dumm ist das denn«, mischte sich Emma B. ein. »Jetzt weiß er's doch, weil - du hast ja gesagt, es ist sein bester Freund.«
»Wieso, der kann doch ganz viele beste Freunde haben.«
»Nein, kann er nicht. Nicht beste.«
»Kann er wohl. Ich habe vier beste Freundinnen.«
»Dann bist du komisch im Kopf.«
»Kate! Hast du gehört, was die gesagt hat?«
»Kann dir doch egal sein«, antwortete Kate. Sie half gerade Jameesha dabei, ihren Malkittel auszuziehen. »Sag ihr, dass sie selbst komisch ist.«
»Du bist selbst komisch«, sagte Jilly zu Emma B.
»Bin ich nicht.«
»Wohl.«
»Gar nicht.«
»Kate hat gesagt, du bist komisch, also!«
Kate protestierte. »Das habe ich nicht gesagt.«
Fast hätte Kate »Hab ich nicht« entgegnet, doch sie wandelte es um in: »Wie auch immer, ich habe jedenfalls nicht damit angefangen.«
Die Gruppe hatte sich in der Puppenecke versammelt - sieben kleine Mädchen und die beiden Samson-Zwillinge, Raymond und David. In einer anderen Ecke umringten die restlichen sechs Jungen den Sandtisch, den sie in eine Sportarena verwandelt hatten. Mit einem Plastiklöffel katapultierten sie Legosteine in eine gewellte Wackelpuddingform aus Metall, die am anderen Ende platziert war. Die meisten schossen daneben, doch sobald einer einen Treffer landete, brach Jubel aus, und dann wurde heftig um den Plastiklöffel gekämpft, weil jeder es noch mal versuchen wollte.
Kate hätte hingehen und für Ruhe sorgen sollen, doch das tat sie nicht. Die können sich ruhig mal ein bisschen austoben, dachte sie. Im Übrigen trug sie nicht die Verantwortung; sie war schließlich nicht Erzieherin, sondern nur Betreuerin, ein himmelweiter Unterschied.
Die Charles Village Little People's School war vor fünfundvierzig Jahren von Mrs Edna Darling gegründet worden, die immer noch die Leitung der Kindertagesstätte innehatte. Sämtliche Erzieherinnen waren inzwischen so alt, dass sie Unterstützung brauchten und jeweils eine, in der arbeitsintensiveren Gruppe der Zweijährigen sogar zwei Betreuerinnen zugeteilt bekamen. In ihrem fortgeschrittenen Alter konnte ja wohl niemand mehr ernsthaft von ihnen erwarten, dass sie einer Horde kleiner Frechdachse hinterherrannten. Die Kita befand sich im Souterrain der Aloysious Church: sonnenhelle, freundliche Räume, von denen Doppeltüren direkt zum Außengelände führten. In dem vom Außenbereich am weitesten entfernten Teil war durch Trennwände ein Raum für die Erzieherinnen entstanden, in dem die älteren Damen viel Zeit damit zubrachten, Kräutertee zu trinken und die Details ihres körperlichen Verfalls zu erörtern. Manchmal wagten sich auch die Betreuerinnen hinein, um sich einen Tee zu machen oder die Toilette mit Waschbecken und WC in Erwachsenengröße zu benutzen; allerdings hatten sie dann immer das Gefühl, in ein privates Treffen hineinzuplatzen, weshalb sie meist nicht länger dort verweilten, auch wenn die Erzieherinnen nett zu ihnen waren.
Vorsichtig ausgedrückt, war es nie Kates Plan gewesen, in einem Kindergarten zu arbeiten. Doch im zweiten Studienjahr hatte sie ihren Botanikprofessor darauf hingewiesen, dass seine Erklärung der Photosynthese »dilettantischer Scheiß« sei, worauf die Dinge ihren Lauf nahmen und man ihr schließlich nahelegte, das College zu verlassen. Sie hatte Angst vor der Reaktion ihres Vaters gehabt, aber als er die ganze Geschichte hörte, sagte er: »Nun ja, du hattest recht, es war wirklich dilettantischer Scheiß«, und damit war die Sache für ihn erledigt. So kam es, dass Kate plötzlich wieder zu Hause war und vollkommen beschäftigungslos, bis ihre Tante Thelma einschritt und ihr eine Stelle in der Kindertagesstätte besorgte. (Tante Thelma war im Vorstand. Sie war in vielen Vorständen.) Theoretisch hätte Kate im darauffolgenden Jahr ihre Wiederaufnahme ins College beantragen können, aber irgendwie tat sie es nicht. Ihrem Vater war diese Option vermutlich entfallen, und sicher war es auch leichter für ihn, mit Kate jemanden bei sich zu haben, der Dinge erledigte und nach der kleinen Schwester sah, die erst fünf war, aber schon damals die alte Haushälterin an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit brachte.
Die Erzieherin, der Kate zur Hand ging, hieß Mrs Chauncey. (Für die Betreuerinnen hießen alle Erzieherinnen »Mrs«.) Sie war eine gemütliche, extrem übergewichtige Frau, die schon Vierjährige gehütet hatte, als Kate noch gar nicht auf der Welt war. Normalerweise begegnete sie den Kindern mit freundlicher Zerstreutheit, doch wenn sich eins schlecht benahm, hieß es »Connor Fitzgerald, ich sehe genau, was du im Schilde führst!« oder »Emma Gray, Emma Wills: Augen geradeaus!«. Sie fand Kate zu lax. Wenn sich ein Kind zur Mittagsruhe nicht hinlegen wollte, begnügte sich Kate damit, »Na schön, dann halt nicht« zu sagen und beleidigt abzuziehen. Dann bedachte Mrs Chauncey sie mit einem vorwurfsvollen Blick und rügte das Kind: »Jemand tut hier nicht, was Miss Kate gesagt hat.« In solchen Momenten empfand sich Kate als Hochstaplerin. Wer war sie, einem Kind zu befehlen, mittags ein Schläfchen zu halten? Sie hatte keinerlei Autorität, und das wussten die Kinder; in ihren Augen war Kate eigentlich nur eine außergewöhnlich große, besonders aufmüpfige Vierjährige. Nicht ein einziges Mal in ihren sechs Jahren in dieser Kita hatte ein Kind sie mit »Miss Kate« angesprochen.
Hin und wieder spielte Kate mit dem Gedanken, sich eine andere Arbeit zu suchen, doch daraus wurde nie etwas. Um ehrlich zu sein, gehörten Vorstellungsgespräche nicht zu ihren Stärken. Und außerdem hatte Kate nicht den leisesten Schimmer, wofür sie überhaupt geeignet sein könnte.
Im College hatte sie sich im Gemeinschaftsraum einmal in eine Partie Schach hineinziehen lassen. Kate war nicht besonders gut, aber sie spielte mutig, draufgängerisch und unkonventionell, und so schaffte sie es, ihren Gegner zunächst in die Defensive zu drängen. Eine kleine Gruppe von Kommilitonen hatte sich als Zuschauer um das Schachbrett versammelt, was Kate nicht groß kümmerte, bis sie aufschnappte, was ein Junge hinter ihr seinem Nachbarn zuflüsterte: »Sie hat - keinen - Plan.« Genau so war es. Kurz danach verlor Kate die Partie.
Diese Bemerkung ging ihr nun häufig durch den Kopf, wenn sie sich morgens zur Arbeit aufmachte. Wenn sie dort Kindern beim Schuheausziehen half, wenn sie Knete unter Fingernägeln hervorpulte oder Pflaster auf Knie klebte; wenn sie wieder beim Schuheanziehen half.
Sie hat - keinen - Plan.
Zum Mittagessen gab es Nudeln mit Tomatensauce. Wie immer betreute Kate den einen Tisch und Mrs Chauncey auf der anderen Seite des Speiseraums den anderen. Bevor die Kinder an ihre Plätze gingen, mussten sie die Hände vorzeigen, Handflächen nach oben, dann nach unten, damit Kate oder Mrs Chauncey sie begutachten konnten. Danach setzten sich alle, und Mrs Chauncey schlug mit der Gabel gegen ihr Milchglas. »Zeit fürs Gebet!«, rief sie. Die Kinder zogen die Köpfe ein. »Lieber Gott«, sagte Mrs Chauncey mit laut tönender Stimme, »danke für dieses Essen, das du uns geschenkt hast, und danke für all diese frischen, süßen Gesichter. Amen.«
Sofort richteten sich die Kinder an Kates Tisch wieder auf.
»Kate hatte die Augen nicht zu«, sagte Chloe zu den anderen.
»Na und?«, erwiderte Kate. »Na und, Frau Oberlehrerin?«
Die Samson-Zwillinge kicherten. »Frau Oberlehrerin«, wiederholte David, als wollte er sich die Worte für einen späteren Gebrauch einprägen.
»Wenn du beim Beten die Augen auflässt«, sagte Chloe, »dann denkt Gott, du bist nicht dankbar.«
»Okay, das bin ich auch nicht«, antwortete Kate. »Ich mag nämlich keine Nudeln.«
Schockiertes Schweigen.
»Wie, du magst keine Nudeln?«, fragte Jason schließlich.
»Die riechen nach nassem Hund«, erklärte ihm Kate. »Ist dir das noch nie aufgefallen?«
»Bääh!«, machten alle.
Schnüffelnd hielten sie ihre Gesichter über die Teller.
»Und?«, fragte Kate.
Die Kinder sahen sich an.
»Stimmt«, sagte Jason.
»Als ob die meinen Hund, den Fritz, in einen alten Krabbenkorb gesteckt und gekocht hätten«, sagte Antwan.
»Bääh!«
»Aber ich glaube, die Möhren sind okay.« Allmählich begann Kate zu bereuen, dass sie überhaupt damit angefangen hatte. »Los, Leute, jetzt esst.«
Einige der Kinder griffen nach ihren Gabeln. Die meisten nicht.
Kate schob eine Hand in ihre Jeanstasche und zog einen Streifen Trockenfleisch heraus. Das hatte sie immer dabei, falls das Mittagessen nichts für sie war; Kate konnte ziemlich wählerisch sein. Mit den Zähnen riss sie ein Stück ab und begann zu kauen. Trockenfleisch mochte glücklicherweise keins der Kinder bis auf Emma W., aber die schaufelte schon die Pasta in sich rein, sodass Kate nicht teilen musste.
»Einen fröhlichen Montag, ihr Jungen und Mädchen«, sagte Mrs Darling, die an ihrem Aluminiumstock zum Tisch gehumpelt kam....
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