Schweitzer Fachinformationen
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EINS
Es ist das erste Mal, dass ich im Zimmer meiner Mutter schlafe. Jedenfalls soweit ich mich erinnern kann. Es ist kalt. Nur mein Arm ragt unter der Decke hervor. Meine Haut fühlt sich klamm an, meine Finger sind eisig. Ich wälze mich herum, mummele mich ein und zapfe Robins Wärme an. Sie schlummert leise schnaufend neben mir. Es ist zwei Jahre her, seit sie das letzte Mal bei mir im Bett schlafen wollte, aber die Temperaturen im Haus haben sie bezwungen. Am Abend nach unserer Ankunft betrat sie das Zimmer, das ich für sie hergerichtet hatte, und machte augenblicklich kehrt.
»Es ist eiskalt«, sagte sie. »Und das komische Bild an der Wand gefällt mir auch nicht.«
»Ich hänge es ab«, versprach ich, protestierte aber nicht, als sie in mein Bett kommen wollte. Ich will sie nicht aus den Augen lassen.
Die Decke ist zu dünn. Ich habe gestern Abend zusätzlich unsere Mäntel über uns ausgebreitet, aber sie sind in der Nacht hinuntergerutscht. Ich strecke den Arm aus, um sie wieder über uns zu ziehen, ohne Robin dabei zu wecken, damit sie noch ein paar Minuten weiterschlafen kann. Es wird eisig sein, wenn wir aufstehen.
Der Gasheizer ist noch da. Früher hat meine Mutter mir im Winter manchmal erlaubt, mich davor anzuziehen, doch ich durfte dem Ding nicht zu nahe kommen, geschweige denn es anfassen. Noch immer habe ich Angst davor. Er ist braun, glänzend und scharfkantig, der Lack in den Rippen abgeplatzt, die Keramikbrenner sind rußgeschwärzt. Ich weiß nicht einmal, ob er noch funktioniert. Der einst weiße Kamin, der ihn umgibt, ist vergilbt und weist oberhalb der Feuerstelle Ruß auf. Gestern Abend habe ich mich von den Porzellanfiguren, die sich auf dem Sims drängen, abgewandt, aber im dämmrigen Licht des Morgens erkenne ich, dass es dieselben sind wie früher - lächelnde Schäferinnen und der Pierrot mit dem leeren Grinsen.
Robin regt sich neben mir, seufzt, nickt wieder ein. Ich will sie nicht wecken. Der heutige Tag wird noch hart genug für sie werden. Beklommenheit erfasst mich. Das feuchtkalte Zimmer lastet schwer auf mir, und immer wieder muss ich an das behagliche Haus denken, das zu verlassen wir gezwungen waren. Der Kontrast zwischen dem Zimmer hier, das Robin nicht will, und ihrem eigenen mit den rosa Bettvorhängen und den Lammfellen auf dem Boden könnte nicht größer sein. Im Haus meiner Mutter gibt es keine Lammfelle - nur einen Widderschädel mit furchterregenden Hörnern im Treppenhaus.
Doch hier sind wir sicher. Weit weg. Noch immer schlafend dreht Robin sich zu mir, ihr warmer Arm neben meinem, das Erdmännchen, das meine beste Freundin Zora ihr gestrickt hat, fest in der Hand. Meine Atmung beruhigt sich. Nach allem, was passiert ist, hätte ich trotz aller Behaglichkeit auch in unserem alten Haus gefroren. Ich schaudere, der Schock ist noch präsent. Tief ein- und ausatmen. Wir sind jetzt hier.
Ich taste nach meinem Handy auf dem Nachttisch und blicke aufs Display. Nichts. Keine Nachricht. Der Akku ist beinahe leer; natürlich befinden sich keine Steckdosen neben dem Bett, aber immerhin funktioniert die Elektrizität noch. Hauptsache wir bringen uns nicht selbst per Stromschlag um, ehe ich jemanden kommen lassen kann, der die Leitungen für uns überprüft. Ich lege mich wieder zurück und erstelle im Geist eine Liste aller Dinge, die für die Sicherheit im Haus zwingend notwendig sind; die schiere Menge der zu erledigenden Aufgaben droht mich zu erdrücken. Wenigstens werde ich keine Zeit haben, an etwas anderes zu denken.
»Wie spät ist es?«, murmelt Robin, dreht sich auf den Rücken und streckt sich.
»Fast sieben«, antworte ich. Ich zögere. »Wir stehen besser auf.«
Doch der Unwille, der Kälte zu trotzen, ist groß, und wir bleiben noch einen Moment lang liegen. Schließlich wappne ich mich, schiebe unsere Decken zurück und springe auf.
»Du bist so gemein.« Robin setzt sich hastig auf. »Muss ich duschen? Im Bad ist es eiskalt.«
»Nein, schon okay. Ich kümmere mich nachher darum.«
Sie rennt in ihr Zimmer, um sich fertig zu machen, und ich höre sie poltern, während ich Jeans und Pulli überziehe, ohne einen Gedanken an mein Aussehen zu verschwenden. Es ist zu kalt für Eitelkeit.
»Ich will da nicht hingehen«, sagt Robin. Sie legt den Toast, in den sie noch nicht einmal gebissen hat, wieder auf ihren Teller zurück. Mir sinkt der Mut.
»Ich weiß.«
»Das wird bestimmt schrecklich.« Sie wendet sich ab, schlingt ihr Haar zu einem Knoten und steckt ihn auf dem Kopf fest.
»Vielleicht findest du es gar nicht so schlecht.«
»Doch, das weiß ich jetzt schon«, erwidert sie und sieht mich direkt an. Dazu fällt mir nichts ein.
Sie wird heute zum ersten Mal in der nagelneuen, gestärkten Uniform in die sechste Klasse einer neuen Schule gehen, Jahre nachdem alle anderen sich längst in Cliquen und Grüppchen zusammengefunden haben. Die Uniform passt nicht einmal richtig: Die weiße Bluse sitzt am Hals zu weit, der Rock ist zu lang, das helle Rot der Strickjacke macht sie blass. Alles, was wir gestern übereilt in dem Geschäft an der Finchley Road gekauft haben, erinnert mich an meine Kindheit. Meine Kehle zieht sich zu, aber ich ringe mir ein Lächeln ab.
»Das wird schon«, sage ich mit einem Hauch Verzweiflung in meiner Stimme. »Bestimmt lernst du im Handumdrehen nette neue Freundinnen kennen.« Ich nehme mir einen Toast, schaue einen Moment auf ihn herab, lege ihn wieder hin. Ich habe auch keinen Hunger.
»Ja, vielleicht«, gibt Robin zweifelnd zurück. Sie ist fertig mit ihren Haaren, holt ihr Handy aus der Tasche und lässt sich sofort vom Bildschirm vereinnahmen. Beinahe greife ich danach, beherrsche mich aber. Hat Andrew ihr eine Nachricht geschickt, um seiner Tochter einen guten Start an der neuen Schule zu wünschen? Ich weiß nicht, ob Robin und ihr Vater miteinander gesprochen haben, seit wir gegangen sind. Seit wir gehen mussten. Robin scrollt und scrollt, ihre Augen huschen hin und her.
Schließlich kann ich mich nicht mehr zurückhalten. »Irgendwas Interessantes?«, frage ich betont gelassen. »Hat sich dein Dad gemeldet?« Wie beiläufig nehme ich mein eigenes Handy und stecke es in meine Handtasche.
Robin blickt auf, das Gesicht blass und ausdruckslos, die Augen so braun wie das Haar. Sie schüttelt den Kopf. »Dad nicht«, antwortet sie. »Hast du denn noch nicht mit ihm gesprochen?«
Ich lächele und bleibe neutral. Sie soll glauben, dass alles normal ist. Sie muss nicht wissen, dass das letzte Gespräch mit ihrem Vater ein hitziger Schlagabtausch am Telefon war, den er abrupt beendete. Verschwindet einfach, hatte er gesagt. Ich will euch nicht mehr hier haben. Euch beide nicht. Mit einer Verachtung in der Stimme, die ich nie zuvor bei ihm gehört hatte.
Ich habe mir mit meiner Antwort zu viel Zeit gelassen. Robin sieht mich noch immer an, und in ihrer Miene zeichnet sich eine Frage ab.
»Gibt es neuen Klatsch und Tratsch? Chattest du mit jemandem?«, frage ich bemüht. In den vergangenen Monaten hat es zwischen Robins Freundinnen und anderen Leuten in ihrer alten Klasse einen komplizierten Streit gegeben, dessen Entwicklung ich gespannt verfolgt habe.
»Die schlafen doch alle, Mum. Zu Hause ist es noch mitten in der Nacht.«
»Klar, tut mir leid. Daran habe ich gar nicht gedacht.« Ich entschuldige mich zu viel. Die Worte hängen in der Luft, bis Robin nachgibt.
»Aber es sind ein Haufen Nachrichten eingegangen, während ich geschlafen habe. Am Freitag hat Tyler statt Emma im Bus neben Addison gesessen, und jetzt redet niemand mehr mit Addison.«
»Oh, Mann .«
»Ich weiß, es ist blöd.« Sie schaut noch einmal aufs Display, ehe sie das Handy auf den Tisch fallen lässt.
»Vielleicht ist es einfacher, wenn man in eine reine Mädchenschule geht«, versuche ich überzeugend zu klingen und scheitere.
Robin zuckt die Achseln. »Das werde ich wohl bald rausfinden.«
Das letzte Jahr der Grundschule. Meine Erinnerungen daran sitzen tief. Alle werden elf, einige sehen schon aus wie Teenager, andere noch wie Kinder. Wenigstens befindet Robin sich in der Mitte dieses Spektrums; sie ist weder zu groß noch zu klein noch ragt sie durch ein anderes Entwicklungsextrem hervor. Es wird auch so schon schwer genug werden. Ich unterdrücke einen Schauder, als ich an die Ablehnung, an die Boshaftigkeit meiner Mitschülerinnen zurückdenke. Was immer mir bevorsteht - zumindest muss ich mich nicht noch einmal in eine neue Schule einfügen.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie ohne deine Vermittlung zurechtkommen sollen.«
»Das tun sie auch nicht«, sagt Robin ernsthaft. »Ohne mich verkrachen sie sich erst richtig. Und ich kann die Nachrichten nie und nimmer alle rechtzeitig lesen.«
»Ach, die werden sich schon zusammenraufen. Und bald siehst du sie ja wieder. Vielleicht schon in den Weihnachtsferien.«
Robin sagt nichts. Es sind zu viele Veränderungen auf einmal. Zu viele, zu schnell. Meine und Robins Welt ist innerhalb von wenigen Tagen auf den Kopf gestellt worden. Die Luft lastet schwer auf uns.
»Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Aber wir schaffen das. Wir haben Glück, dass wir hierherkommen konnten. Deine Schule zu Hause war toll, aber wir wollten immer schon, dass du hier in London in die Schule gehst. Es wird dir gefallen.« Meine Stimme verklingt. Ich denke an den hektischen letzten Tag in Brooklyn, als ich mit einem festgetackerten Lächeln auf dem Gesicht Kleidung in Taschen warf und Robin eiskalte Lügen...
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