Mark Twain
Bummel durch Europa
A TRAMP ABROAD
Übersetzte Ausgabe
2022 Dr. André Hoffmann
Dammweg 16, 46535 Dinslaken, Germany
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KAPITEL I
[Der Knappe von Bergen]
Eines Tages kam mir in den Sinn, dass es schon viele Jahre her war, dass die Welt das Schauspiel eines Mannes geboten bekam, der abenteuerlustig genug war, eine Reise zu Fuß durch Europa zu unternehmen. Nach reiflicher Überlegung beschloss ich, dass ich geeignet war, der Menschheit dieses Spektakel zu bieten. Also beschloss ich, es zu tun. Das war im März 1878.
Ich schaute mich nach der richtigen Person um, die mich in der Funktion des Agenten begleiten sollte, und stellte schließlich einen Mr. Harris für diesen Dienst ein.
Es war auch mein Ziel, während meines Aufenthalts in Europa Kunst zu studieren. Mr. Harris sympathisierte mit mir in dieser Hinsicht. Er war ein ebenso großer Kunstliebhaber wie ich und nicht weniger bestrebt, das Malen zu lernen. Ich wollte die deutsche Sprache lernen, und Harris wollte das auch.
Gegen Mitte April segelten wir mit der Holsatia, Kapitän Brandt, und hatten eine sehr angenehme Reise, in der Tat.
Nach einer kurzen Rast in Hamburg bereiteten wir uns auf eine lange Fußgängerreise nach Süden bei mildem Frühlingswetter vor, aber im letzten Moment änderten wir aus privaten Gründen das Programm und nahmen den Schnellzug.
Wir machten einen kurzen Halt in Frankfurt am Main, und fanden es eine interessante Stadt. Ich hätte gerne das Geburtshaus Gutenburgs besucht, aber das war nicht möglich, da kein Gedächtnisprotokoll über den Standort des Hauses erhalten ist. So verbrachten wir stattdessen eine Stunde in der Goethe-Villa. Die Stadt lässt zu, dass dieses Haus in Privatbesitz ist, anstatt sich die Ehre zu geben, es zu besitzen und zu schützen.
Frankfurt ist eine der sechzehn Städte, die die Ehre haben, der Ort zu sein, an dem sich die folgende Begebenheit ereignete. Karl der Große kam, während er die Sachsen verfolgte (wie er sagte) oder von ihnen verfolgt wurde (wie sie sagten), im Morgengrauen am Ufer des Flusses an, und zwar im Nebel. Der Feind war entweder vor oder hinter ihm; aber auf jeden Fall wollte er unbedingt hinüber. Er hätte alles für einen Führer gegeben, aber es war keiner zu haben. In diesem Moment sah er ein Reh, gefolgt von seinen Jungen, sich dem Wasser nähern. Er beobachtete es und vermutete, dass es eine Furt suchen würde, und er hatte Recht. Sie watete hinüber, und das Heer folgte ihr. So wurde ein großer fränkischer Sieg oder eine Niederlage errungen oder vermieden; und um der Episode zu gedenken, befahl Karl der Große, dort eine Stadt zu bauen, die er Frankfort nannte ? die Furt der Franken. Keine der anderen Städte, in denen dieses Ereignis stattfand, wurde nach ihm benannt. Dies ist ein guter Beweis dafür, dass Frankfort der erste Ort war, an dem es stattfand.
Frankfurt hat eine weitere Auszeichnung ? es ist der Geburtsort des deutschen Alphabets; oder zumindest des deutschen Wortes für Alphabet ? Buchstabens. Man sagt, dass die ersten beweglichen Lettern auf Birkenstöcken ? Buchstabierstäbchen ? hergestellt wurden, daher der Name.
In Frankfort erhielt ich eine Lektion in politischer Ökonomie. Ich hatte von zu Hause eine Schachtel mit tausend sehr billigen Zigarren mitgebracht. Als Experiment betrat ich einen kleinen Laden in einer seltsamen alten Seitenstraße, nahm vier bunt verzierte Schachteln mit Wachsstreichhölzern und drei Zigarren und legte ein Silberstück im Wert von 48 Cents hin. Der Mann gab mir 43 Cents Wechselgeld.
In Frankfort trägt jeder saubere Kleidung, und ich glaube, wir haben bemerkt, dass diese seltsame Sache auch in Hamburg und in den Dörfern entlang der Straße der Fall war. Selbst in den engsten und ärmsten und ältesten Vierteln Frankforts waren ordentliche und saubere Kleider die Regel. Die kleinen Kinder beiderlei Geschlechts waren fast immer so nett, dass man sie auf den Schoß nehmen konnte. Und was die Uniformen der Soldaten betraf, so waren sie neu und glänzend in Vollendung. Man konnte nie einen Fleck oder ein Staubkorn an ihnen entdecken. Die Straßenbahnschaffner und -fahrer trugen hübsche Uniformen, die wie frisch aus der Kiste kamen, und ihre Manieren waren so fein wie ihre Kleidung.
In einem der Geschäfte hatte ich das Glück, über ein Buch zu stolpern, das mich fast zu Tode entzückt hat. Es trägt den Titel The Legends Of The Rhine From Basle To Rotterdam, von F. J. Kiefer; übersetzt von L. W. Garnham, B.A.
Alle Touristen erwähnen die rheinischen Legenden ? in jener Art und Weise, die leise vorgibt, dass der Erwähnende sie sein ganzes Leben lang gekannt hat und dass der Leser sie unmöglich nicht kennen kann ?, aber kein Tourist erzählt sie jemals. So hat mich dieses kleine Buch an einem sehr hungrigen Ort genährt; und ich beabsichtige meinerseits, meinen Leser mit einem oder zwei kleinen Mittagessen aus derselben Speisekammer zu füttern. Ich werde Garnhams Übersetzung nicht verderben, indem ich mich in ihr Englisch einmische; denn das Reizvollste an ihr ist ihre sonderbare Art, englische Sätze nach dem deutschen Plan zu bauen ? und sie dementsprechend nach gar keinem Plan zu interpunktieren.
In dem Kapitel, das den "Legenden von Frankfort" gewidmet ist, finde ich das Folgende:
"Der Bube von Bergen"
"In Frankfurt am Römer war ein großer Maskenball, zum Krönungsfest, und im erleuchteten Saal lud die klirrende Musik zum Tanz ein, und prächtig erschienen die reichen Toiletten und Reize der Damen, und die festlich kostümierten Fürsten und Ritter. Alles schien Vergnügen, Freude und schalkhafte Fröhlichkeit zu sein, nur einer der zahlreichen Gäste hatte ein düsteres Äußeres; aber gerade die schwarze Rüstung, in der er umherging, erregte die allgemeine Aufmerksamkeit, und seine hohe Gestalt, wie auch der edle Anstand seiner Bewegungen, zogen besonders die Blicke der Damen an.
Wer der Ritter war? Niemand konnte es erraten, denn der Wesir war gut verschlossen, und nichts machte ihn erkennbar. Stolz und doch bescheiden schritt er auf die Kaiserin zu, kniete vor ihrem Sitz nieder und bat um die Gunst eines Walzers mit der Festkönigin. Und sie gewährte seine Bitte. Mit leichten und anmutigen Schritten tanzte er durch den langen Saal, mit der Herrscherin, die glaubte, nie einen gewandteren und ausgezeichneteren Tänzer gefunden zu haben. Aber auch durch die Anmut seines Auftretens und die feine Konversation wusste er die Königin zu gewinnen, und sie gewährte ihm gnädig einen zweiten Tanz, um den er bat, einen dritten und einen vierten, wie auch andere ihm nicht verwehrt wurden. Wie alle den glücklichen Tänzer betrachteten, wie viele ihn um die hohe Gunst beneideten; wie stieg die Neugierde, wer der maskierte Ritter sein könnte.
"Auch der Kaiser wurde mehr und mehr von Neugierde erregt, und mit großer Spannung erwartete man die Stunde, in der sich nach dem Maskengesetz jeder maskierte Gast zu erkennen geben musste. Dieser Augenblick kam, aber obwohl alle anderen demaskiert waren, weigerte sich der geheime Ritter immer noch, seine Gesichtszüge zu zeigen, bis endlich die Königin, von Neugier getrieben und über die hartnäckige Weigerung verärgert, ihm befahl, seinen Wesir zu öffnen.
Er öffnete ihn, und keiner der hohen Damen und Ritter kannte ihn. Aber aus dem Gedränge der Zuschauer traten 2 Beamte hervor, die den schwarzen Tänzer erkannten, und Entsetzen und Schrecken machte sich im Saal breit, als sie sagten, wer der vermeintliche Ritter sei. Es war der Henker von Bergen. Der König aber, vor Wut glühend, befahl, den Verbrecher zu ergreifen und zum Tode zu führen, der es gewagt hatte, mit der Königin zu tanzen, also die Kaiserin entehrt und die Krone beleidigt hatte. Der Schuldige warf sich dem Kaiser an den Hals und sagte ...
"In der Tat habe ich mich schwer gegen alle hier versammelten edlen Gäste versündigt, am schwersten aber gegen Sie, meinen Souverän und meine Königin. Die Königin ist durch meinen Hochmut beleidigt, der einem Verrat gleichkommt, aber keine Strafe, nicht einmal Blut, wird die Schande, die Ihr durch mich erlitten habt, auswaschen können. Darum, oh König, erlaubt mir, ein Mittel vorzuschlagen, das die Schande auslöscht und sie so macht, als wäre sie nicht geschehen. Zieht Euer Schwert und schlagt mich zum Ritter, dann werde ich jedem den Fehdehandschuh hinwerfen, der es wagt, respektlos über meinen König zu sprechen.'
"Der Kaiser war erstaunt über diesen kühnen Vorschlag, doch schien es ihm der weiseste: 'Du bist ein Schurke', erwiderte er nach kurzem Überlegen, 'doch dein Rat ist gut und zeigt Klugheit, wie dein Vergehen abenteuerlichen Mut zeigt. Nun denn", und gab ihm den Ritterschlag, "so erhebe ich dich in den Adelsstand, der du um Gnade für dein Vergehen gebeten hast, knie nun vor mir, erhebe dich als Ritter; ritterlich hast du gehandelt, und Knappe von Bergen sollst du fortan heißen", und freudig erhob sich der Schwarze Ritter; dreimal wurde zu Ehren des Kaisers gejubelt, und laute Freudenrufe bezeugten die Zustimmung, mit der die Königin noch einmal mit dem Knappen von Bergen...