Schweitzer Fachinformationen
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Edvard blieb vor der offenen Bürotür stehen. Ragnar Petterson saß am Tisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt.
»Hallo, Edvard«, sagte er, ohne aufzublicken.
»Woher wusstest du, dass ich das bin?«
»Weil du kaum ein Geräusch gemacht hast. Du bewegst dich für deine Größe unglaublich leise.«
»Ist doch eine gute Eigenschaft, oder? Dann hören mich die bösen Buben nicht kommen.«
Petterson schüttelte den Kopf. »Ich trampele lieber wie ein Elefant durchs Leben. Auf diese Weise hören sie mich kommen und können sich vom Acker machen, bevor es Probleme gibt.«
Edvard grinste und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Petterson war elf Jahre älter. In seinem langen, schmalen Gesicht schienen alle Linien vertikal ausgerichtet zu sein. Trotz des Altersunterschieds waren sie Freunde. Jeden Herbst gingen sie für eine Woche gemeinsam auf Hirschjagd. Sie schossen nie etwas, und es war ein stehender Witz zwischen ihnen, dass Petterson das auch gar nicht wollte und extra lautstark durchs Unterholz stolperte, um kein Tier erlegen zu müssen.
»Was machst du gerade?«, fragte Edvard.
»Routinearbeit. Ich habe mich gefragt, ob ich nicht ein paar Tage freimachen kann. Eine Woche Gran Canaria käme jetzt gerade recht.«
»Ich fürchte, das kannst du vergessen.«
»Was? Wieso?«
»Bescheid von oben. Du sollst den Holst-Fall übernehmen.«
»Holst? Diesen Einsiedler aus Finnskogen?«
»Nicht Finnskogen, aber in der Richtung.«
»Tretet ihr da nicht auf der Stelle? Ich habe erst neulich gehört, wie Tommy Wallberg sich in der Kantine beschwert hat, dass er seit Wochen nur irgendwelchen Scheiß durcharbeiten muss.«
»Kinderpornos, ja, das ist richtig«, sagte Edvard. »Tut mir leid, Ragnar.«
Petterson zuckte mit den Schultern. »Dann scheiß auf Gran Canaria. Ich hätte doch nur wieder einen Sonnenbrand bekommen und zu viel getrunken. Und du, was musst du machen?«
»Ich muss nach Bergen. Da ist eine junge Frau umgebracht und eine andere schwer verletzt worden. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang.« Edvard stand auf. »Ich muss nach Hause und packen. Ich schreibe dir heute Abend einen Bericht, okay?«
Ragnar Petterson nickte etwas resigniert. »Bergen, na ja? Einen Sonnenbrand kriegst du da wenigstens auch nicht.«
»Ruf mich an«, tippte Solveig. »Muss nach Bergen. Das Essen am Freitag klappt damit nicht.«
Er war nicht ans Handy gegangen, als sie ihn angerufen hatte. Vermutlich war er bei einer Chorprobe, sicher war sie sich aber nicht. Sie wusste nie, an welchen Abenden er Termine hatte. Als Musiker dirigierte er verschiedene Chöre, und auch sie beide hatten sich so kennengelernt - durch den Chor, in dem sie sang. Der vorherige Dirigent war krank geworden, und Hans Christian hatte übernommen. Und das mit so viel Freude und Enthusiasmus, dass sie sich immer schon voller Erwartungen auf die nächste Probe gefreut hatte.
Irgendwann hatte sie realisiert, dass sie sich nicht nur auf die Musik freute. Er war so voller Begeisterung, konnte vollkommen in dem aufgehen, was er tat, ohne sich aber darüber bewusst zu sein, dass er sie buchstäblich verführt hatte.
Sie war nicht sonderlich überrascht, als es an der Tür klingelte, irgendwie hatte sie darauf gewartet.
»Du musst weg?«, war das Erste, was er fragte. »Ich hatte mich so auf Freitag gefreut.« Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Manchmal dachte Solveig, dass er ganz schön kindisch war und sein immerwährendes Auf und Ab sie anstrengte, andererseits wusste sie, dass es gerade seine Impulsivität und seine Intensität waren, die sie an ihm liebte.
»Ja, ich muss verreisen«, sagte sie und umarmte ihn.
Sie gingen ins Schlafzimmer und liebten sich nach demselben ruhigen Muster, das sich für sie beide als das beste herausgestellt hatte. Anfangs hatte Solveig darauf bestanden, das Licht auszuschalten. Es war ihr unangenehm, wenn er sie beim Sex sah, sie war noch nie glücklich mit ihrem Körper gewesen. Ihrer Meinung nach waren ihre Hüften zu breit und ihre Brüste zu klein. Hans Christian hatte den Kopf geschüttelt.
»Sieh mich an«, hatte er gesagt. »Zwanzig Kilo zu viel, ein Bauch wie ein Fußball, eine Brille der Stärke minus 4 und schüttere Haare. Quält es dich, mich zu sehen?«
Sie hatte den Kopf geschüttelt, ihm über den runden Bauch gestreichelt und gesagt, dass sie das alles liebe.
»Genau«, sagte er. »Und warum kannst du mir nicht das gleiche Vertrauen entgegenbringen? Glaubst du nicht an die Liebe, du zynische Polizistin?«
Sie wusste, dass er ihr guttat. In jeder Hinsicht. Mit ihm fühlte sie sich frei, er half ihr, sich schön zu fühlen, geliebt, begehrt. Und er brachte sie zum Lachen. Trotzdem spürte sie Verärgerung in sich aufsteigen, als er sich ihr zuwandte, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren, und sagte, dass sie zusammenziehen sollten. Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Thema ansprach.
Er merkte es und richtete sich im Bett auf. »Willst du nicht?«
Sie wich der Frage aus. »Ich bin gerne mit dir zusammen. Aber ich weiß nicht, ob du mich noch magst, wenn du mich jeden Tag, im Alltag, erlebst.«
»Da irrst du dich. Ich will dich, Solveig. Mit allem Drum und Dran. Im grauen Alltag und an Feiertagen. In guten wie in schlechten Zeiten.«
Er wirkte so ernst, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Der Gedanke daran, sich nicht mehr zurückziehen zu können, keine eigene Wohnung mehr zu haben, keine Zeit für sich, war plötzlich unerträglich, klaustrophobisch.
»Können wir nicht ein anderes Mal darüber reden, Hans Christian? Wenn ich zurückkomme. Jetzt muss ich wirklich versuchen, ein bisschen zu schlafen, ich muss morgen früh los.«
Er nickte. »Wenn du aus Bergen zurück bist«, sagte er. »Dann reden wir.« Sie wusste nicht, ob es wie ein Versprechen oder wie eine Drohung klang.
Tommy Wallberg tropfte der Schweiß herunter. Er lag auf dem Boden, keuchte und konzentrierte sich. Die letzte Wiederholung. Nur noch zehn Liegestützen, dann war er fertig. Seine Brust- und Oberarmmuskeln brannten, als er seinen langen Körper hochstemmte und wieder absenkte.
Anschließend betrachtete er sich im Spiegel. Studierte das Spiel seiner Muskeln, drehte und wendete sich und war zufrieden. Er sah gut aus. Früher war er einmal ein kleiner, schmächtiger Knirps gewesen. Er erinnerte sich gut daran, wie die Menschen ihn damals behandelt hatten, und wollte das nie mehr erleben.
Unter der Dusche fantasierte er über den neuen Fall, stellte sich vor, wie er den Mörder entlarvte, ihn jagte und zuletzt stellte und übermannte. Tommy wusste, dass diese Gedanken kindisch waren, aber das war ihm egal. Es ging doch eigentlich um nichts anderes als Gerechtigkeit, Jagd, Kampf und Sieg. Waren sie alle nicht genau deshalb zur Polizei gegangen? War das alles nicht ganz einfach?
Bevor er ins Bett ging, leerte er den Kühlschrank. Er machte sich nicht die Mühe, erst zu sortieren, was haltbar war und was nicht, sondern warf alles in den Mülleimer.
Er fragte sich, ob er seine Mutter anrufen und sie informieren sollte, dass er nach Bergen musste, ließ es dann aber bleiben. Sie wurde oft ärgerlich, wenn er anrief. Stattdessen schickte er eine SMS, wohl wissend, dass er keine Antwort bekommen würde.
Edvard suchte seinen Koffer heraus und öffnete den Kleiderschrank. Alles war an seinem Platz. Die Hemden hingen frisch gebügelt und ordentlich nebeneinander. Pullover und T-Shirts waren messerscharf gefaltet und nach Farben sortiert. Hosen, Unterhosen, Socken sahen allesamt neu aus. Eine Reihe blank geputzter Schuhe.
Natürlich war das neurotisch, er kümmerte sich aber nicht darum. Er brauchte um sich herum System und Struktur, um sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren zu können. Er packte rasch und systematisch, aber mit Sorgfalt. Nach zehn Minuten war er fertig.
Danach putzte er die Wohnung und räumte auf. Das machte er immer, wenn er woanders arbeiten musste. Als Letztes nahm er sich den Kühlschrank vor und warf alle Reste weg. Die frischen Sachen packte er in eine Plastiktüte und nahm sie zusammen mit einer Topfpflanze mit zu der Nachbarin, die unter ihm wohnte. Er klingelte.
»Edvard!« Elise hatte rote Haare, war üppig, wenn nicht übergewichtig und sprach seinen Namen immer so aus, als wäre sie vollkommen überrascht, ihn zu sehen.
»Ein paar Sachen aus dem Kühlschrank«, sagte er und hielt ihr die Tüte hin. »Wär doch schade, wenn das alles verkommen würde.«
»Edvard Matre, der letzte Moralist des Universums«, sagte Elise und nahm die Tüte. »Musst du wieder weg?«
»Ja, könntest du dich .?« Edvard hielt ihr die Pflanze hin.
Sie seufzte. »Aber klar. Aber ich verspreche nichts. Ich will keine Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen haben, wenn auch die stirbt.«
»Ich vergeb dir schon im Voraus.«
»Gut. Willst du einen Moment reinkommen?« Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Kann ich dir ein Glas Wein anbieten? Eine schnelle Nummer?«
Edvard lächelte. »Verlockend, das alles, Elise, aber ich muss morgen verdammt früh los, und du würdest mich bestimmt ziemlich fertigmachen.«
»Feigling«, sagte sie und machte einen Schmollmund.
Auf dem Weg nach oben fragte Edvard sich, was sie wohl getan hätte, wenn er sie beim Wort genommen hätte. Vermutlich Panik bekommen, oder auch nicht? Der Gedanke ließ ihn nicht los, das spürte er. Es war Ewigkeiten her, dass er zuletzt etwas mit einer Frau gehabt hatte. Seine wenigen festen Beziehungen hatten nie lange gehalten. Er war sich bewusst, dass das an ihm lag, dass er sich immer wieder...
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