Schweitzer Fachinformationen
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Carlos Armando, 70 Jahre alt, hat nie an ein Jenseits geglaubt. Doch als er am Abend vor seiner Operation aus dem Fenster auf den sich verdunkelnden Himmel blickt, verspürt er trotzdem den Drang, zu beten. Es ist keine religiöse Handlung für ihn, dieses Beten. Sein Kopf rattert einfach nur Phrasen vor sich hin, die wenig variieren und sich an niemanden im Besonderen richten. Aber es beruhigt ihn, mindert seine Ängste - und davon gibt es reichlich in dieser Nacht, bevor er seinen Körper dem Skalpell ausliefert. Im Fernsehen spricht eine Männerstimme über die Ereignisse des Tages. Die Abendschwester war schon da und hat Tabletten in einem Plastikbecher dagelassen. Zum Abendessen gibt es Bohnen und Fisch, ein Schälchen Reis und roten Wackelpudding. »Wir müssen essen«, hat die Krankenschwester zu ihm gesagt. »Nach zehn gibt's nichts mehr zu beißen.« Carlos findet dieses »wir« albern.
Das Krankenhaus in diesem alten Teil der Stadt ist ordentlich und sauber, die blau gestreiften Laken und Bettdecken passen zu den Vorhängen. Die Dezembersonne ist hinter einem Baum verschwunden, ihr nur mehr schwaches Leuchten taucht die Skyline in ein mildes orangefarbenes Licht. Als Carlos vor mehr als fünf Jahrzehnten in diese Stadt gezogen war, verdeckte kaum etwas den Himmel. Die Umgebung war beinahe idyllisch, denn abgesehen von den Kriegstrümmern gab es fast nur offene Felder, auf denen Kühe und Ziegen weideten. Heute, am Ende des Jahrhunderts, erkennt er den Ort kaum noch wieder.
Carlos denkt an Renata, die noch vor einer Stunde an seinem Bett gesessen hat und jetzt wahrscheinlich schon zu Hause vor ihrem eigenen Abendessen sitzt. Er stellt sich vor, wie sie in der Dämmerung auf die nach Jasmin duftende Terrasse tritt. Sie ist Renatas Lieblingsplatz - dorthin zieht sie sich zurück, um ihren Sorgen nachzuhängen oder einfach nur still dazusitzen. Den ganzen Tag hat Carlos die Vorstellung beschäftigt, dass Renata fortan allein unterwegs sein wird, dass die Menschen, die er liebt - seine Frau, seine Tochter -, weiterleben werden und ihre Welt auch ohne ihn fortbestehen wird.
Lass mich eine Bilanz dieses Lebens ziehen. Lass mich bis zum Schluss diesen gesunden Geist behalten. Dies ist mein Wunsch, meine letzte Zuflucht. In meiner Vorstellung vermag ich wieder jung zu sein. Ich kann die Zeit verlangsamen, von einem Moment zum anderen springen. Kann Tage oder Jahrzehnte nach Belieben übergehen oder vertauschen: zuerst die Ehe, dann die Kindheit; die Befreiung und erst danach der Krieg. Ich traue meinem Verstand und meinem Gedächtnis noch immer zu, zwischen diesem und jenem die Zusammenhänge herzustellen . Dies geschah aus jenem Grund und das unabhängig von dem.
Renata sagt nicht, dass ich im Sterben liege. Sie sagt Dinge wie: »Wenn es dir wieder besser geht, machen wir einen Ausflug« oder »Brynn klang letztens so ernst. Sollen wir uns mal mit ihr treffen?« Renata konnte bestimmte Dinge schon immer gut ausblenden. Wenn man alles, was sie im Laufe der Zeit verdrängt hat, zusammennäht, erhält man eine riesige Decke, unter der ganze Jahre, ein Gutteil unseres Lebens verborgen sind.
Und ich habe immer gedacht, mein Schweigen würde ihres überdauern.
Carlos träumt, gefangen zwischen Einbildung und Wirklichkeit, zwischen längst Vergangenem und Gegenwart. Er geht durch eine trostlose Landschaft, seine Schuhe hinterlassen tiefe Furchen im Boden. Die Luft ist trocken, seine Tasche schwer, hinter ihm liegt eine Spur aus zerfallenen Dingen, Umrisse, die er nicht wiedererkennt, in Farben, die er nicht besonders mag. Immerhin weiß er, dass es ein Traum ist, denn Renata ist ebenfalls da. Aber sie verhält sich so, wie sie es selten tut. Nervös, unsicher.
»Wir müssen umkehren«, sagt sie.
Carlos wartet, denn er ist sich nicht sicher, was sie meint. Umkehren wohin?
Früher habe ich Tagebuch geführt, damals, als ich noch an die Zeitlosigkeit von Worten glaubte.
Vor Jahrzehnten dachte ich zum Beispiel, das Wort Liebe würde mich für alle Zeit an Inggay erinnern. Inggay, deren Lippen nach Sarsaparilla schmeckten. Jede Nacht, über Wochen, versuchte ich, unseren allerersten Kuss noch einmal heraufzubeschwören, beschrieb Seite um Seite in eklatanter Selbstüberschätzung. Doch unsere Affäre war nur von kurzer Dauer, und danach habe ich kaum noch das Bedürfnis verspürt, mich schreibend an etwas zu erinnern. Ich erinnere mich an Inggay vielmehr, ohne dass es einer Niederschrift bedarf. Ihr Duft: das Haar mit seiner süßen Zitrusnote. Wie sie sich anfühlte: weiche Stirn, kalte Nase. Es heißt, Erinnerungen werden mit den Sinnen gemacht. Der knifflige Teil ist das Ausgraben, das Heraufbeschwören dieser Bruchstücke.
Hier noch eine Erinnerung: das Läuten von Kirchenglocken. So weiß ich bis heute, dass es Sonntag war, als wir Balutu verließen und nach San Roque zogen. Balutu sei nicht mehr sicher, hatte Papa uns gesagt. »Huk-verseucht«, nannte er es. Ich wusste nicht, was ein Huk war. Ich dachte an die Heuschreckenschwärme, die über Ägypten hergefallen waren - eine von Mamas Bibelgeschichten -, aber als ich das erwähnte, lachte sie und schüttelte den Kopf. »Oh, Carlos«, sagte sie. »Nein, Schatz. Das ist wirklich etwas vollkommen anderes. Schließlich hat Gott die Heuschrecken zu Recht geschickt, weil er den Pharao für die Versklavung seines Volkes bestrafen wollte.«
In Balutu wohnten wir in einer kleinen Häusergruppe mit Blick auf den Berg Arayat und hatten einen winzigen Hinterhofgarten mit Auberginen und Kohlköpfen, die ich jeden Abend für meine Mutter wässerte. Vorne raus konnte ich auf die Landstraße sehen, die sich durch die Felder schlängelte. Der Bauer Teo hatte dort, wo sich zwei Straßen kreuzten, eine wandlose Rasthütte mit Strohdach gebaut, durch die der Wind pfiff. Dort saßen die Männer gern, während der Regen noch fiel, sprachen über die kommende Trockenzeit und das, was sie versuchen konnten, um dem Boden beim Regenerieren zu helfen. Noch Jahre später, nach dem Krieg, als ich längst schon in die Stadt gezogen war, dachte ich oft an diese Monate der Untätigkeit zurück, in denen die eine Pflanzsaison in die nächste überging. In der aufstrebenden und im Wiederaufbau befindlichen Hauptstadt fühlte ich mich doppelt befreit: Ich hatte die Kämpfe überlebt, aber vor allem war es mir gelungen, diesem endlosen Kreislauf des Wartens zu entkommen.
Ich bin elf. Ich stehe vor der Tür meines Freundes Vicente und bin genervt, weil Papa mich in seine Probleme hineingezogen hat. Papa ärgert sich über Vicentes Vater Sylvio, der sich wer weiß wo herumgetrieben hat. Das ist typisch für ihn: tage- oder wochenlang zu verschwinden, immer ganz plötzlich und aus irgendwelchen dringenden Gründen, wie eine im Sterben liegende Tante oder ein kranker Cousin. Einmal war er tagelang unterwegs, um nach einer entlaufenen Gans zu suchen. Und jedes Mal, wenn Sylvio verschwindet, bleibt Vicente der Schule fern, weil er dann auf den Feldern arbeiten muss. Langsam ist Papas Geduld am Ende.
»Diesmal war es mein Onkel, Maestro«, sagt Sylvio. »Er lebt allein und ist krank geworden. Schon so oft habe ich ihm gesagt, dass er zu uns ziehen soll, aber dazu ist er viel zu dickköpfig.«
»Was hat der Arzt gesagt?«
»Der Arzt?«
»Sie waren doch bestimmt mit ihm beim Arzt?«
»Oh.« Sylvio hält einen Moment inne. »Mein Onkel vertraut nur den überlieferten Bräuchen. Ich habe ihm einen Korb Guaven gekauft. Und ihm abgekochten Ingwer zu trinken gegeben.«
»Und nur deshalb war Ihr Sohn drei Tage lang nicht in der Schule?«
»Ich habe ihn nicht darum gebeten, Maestro. Aber was soll ich machen? Er ist ein pflichtbewusster Junge.«
Allmählich wird Papa wütend. »Sylvio«, sagt er. »Ihr Sohn kann den Stoff jetzt nicht mehr aufholen. Die Prüfungen sind in einer Woche, und er hat viel zu viel verpasst - fragen Sie Carlos, wenn Sie mir nicht glauben.« Papa zeigt auf mich, aber ich senke den Blick. Ich will nicht hier sein. Ich will abhauen, bevor Vicente mich sieht.
Oft erklärt mir Papa, dass er nicht anders kann, als Vicente die Schuld zu geben. Er nehme die Schule nicht ernst, weil sein Vater es nie über die 5. Klasse hinausgebracht habe. Vicente zeige seinem alten Herrn aus Respekt nicht, was er alles lerne, weil er nicht wie ein Aufschneider wirken möchte. Sylvio wiederum glaube, dass Vicente bereits alles wisse, was er wissen müsse: Pflüge den Boden und glätte die Erde. Bringe die Saat aus. Achte auf Nagetiere. Dass Vicente vorgebe, unwissend zu sein, verstärke die Gleichgültigkeit seines Vaters gegenüber der Schule.
Tatsächlich wischt Sylvio Papas Bedenken auch heute beiseite. Er mustert meinen Vater eine Weile, und je länger wir so verharren, desto tiefer werden Sylvios Seufzer. Er trägt ein Hemd, das einmal tiefblau gewesen sein muss, aber von unzähligen Tagen in der Sonne fast vollständig ausgeblichen ist. Seine Schultern sind gebeugt, seine Wangen eingefallen. Doch durch seine zusammengepressten und an den Mundwinkeln nach oben gezogenen Lippen erkennt man, dass er das alles nicht zum ersten Mal hört und nur so tut, als würde es ihn interessieren.
»Wirklich, Sylvio. Dein Junge gehört nicht auf die Felder. Er sollte in der Schule sein. Er möchte in der Schule sein. Hast du jemals mit deinem Sohn darüber gesprochen, was er will?«
Ich höre es hinter mir klappern und weiß, dass Vicente nach Hause gekommen ist.
»Ah«, sagt Sylvio. »Wenn man vom...
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