Schweitzer Fachinformationen
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Kriminaloberkommissarin Linda Toivonen starrte auf den alten Massivholzschreibtisch mit Buchenfurnier. Sie hatte ihn einst im Keller des Polizeigebäudes unter einem Berg von Möbeln aus beschichteten Spanplatten gefunden und sofort gewusst, dass sie an genau diesem Schreibtisch arbeiten wollte.
Der Tisch hatte Charakter.
Linda liebte es, sich Geschichten zu diesem Tisch auszudenken. Vielleicht war darauf ja vor langer Zeit einem Polizisten die Kaffeetasse umgekippt. Und dieser Kratzer hier stammte möglicherweise von Handschellen während einer etwas ruppigen Vernehmung. Auch einige schwarze Brandstellen fanden sich auf dem Tisch. Womöglich hatte jener Polizist während einer längst vergangenen Nachtschicht vergessen, die Asche seiner Zigarette abzuklopfen, weil er ganz darin vertieft gewesen war, ein Festnahmeprotokoll auf einer alten Remington abzutippen.
Linda fand, sie und der Tisch hatten etwas gemeinsam: Sie waren beide Relikte, die nicht so recht in die heutige Zeit passten, aber bei genauer Betrachtung recht ansehnlich waren.
Sie stand auf, ging in den Pausenraum und kehrte mit einem Becher Kaffee an ihren Tisch zurück. Die Papiere stapelten sich darauf. Eines war jedenfalls sicher: Zu Zeiten seines früheren Besitzers hatten nie so viele Unterlagen auf diesem Tisch gelegen. Linda erinnerte sich noch daran, wie mit dem Einzug der Computer die Büroarbeit papierlos werden sollte. Doch das Gegenteil war eingetreten. Als dann Tablets und Handys, Dokumentenverwaltungssysteme und Cloud-Dienste dazugekommen waren, hatte man erneut geglaubt, dass die Zeiten eines papierlosen Büros endlich angebrochen wären, trotzdem war die Anzahl der Akten weiter explodiert. Sie fand, das Polizeipräsidium ähnelte immer mehr einem Briefzentrum, wo die Ermittler die Fälle in solche einteilten, die wahrscheinlich niemals aufgeklärt werden würden, und jene, bei denen die Ermittlungen tatsächlich zur Anklage führen konnten.
Linda trank ihren Kaffee aus und brachte die leere Tasse in die Spülmaschine. Als sie zurückkam, klingelte ihr Handy. Sicher wieder einer dieser Wichtigtuer, die ständig wegen irgendwelcher eingebildeten Probleme bei der Polizei anriefen. Einmal hatte ein Mann mit einem Schnauzbart, der in Form und Farbe an ein Fischstäbchen erinnerte, sich darüber beschwert, dass der Bewohner unter ihm jede Nacht um drei Uhr lautstark mit Blecheimern klappere. Er hatte so lange genervt, bis Linda schließlich eingewilligt hatte, eine Streife vorbeizuschicken. Doch in der betreffenden Wohnung hatte überhaupt niemand gelebt. Vorgestern erst war Fischstäbchen wieder in die Polizeidienststelle marschiert und hatte aufgebracht verkündet, sein Nachbar blase durch einen Schlauch Giftgas in seine Wohnung.
Linda beschleunigte ihre Schritte und schaffte es gerade noch ans Handy, bevor aufgelegt wurde. Der Anruf kam aus dem Präsidium.
»Hier ist ein Kunde für euch.«
Linda stöhnte. Verdammter Mist, Fischstäbchen schon wieder.
»Kann das nicht jemand anders übernehmen?«
»Die Frau möchte unbedingt mit einem Kriminalermittler sprechen . sie ist sehr aufgebracht. Und sonst ist niemand im Haus.«
»Okay, ich komme runter.«
Linda zog mehrere Schubladen heraus, bis sie in der untersten ihren Notizblock fand. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Eine hysterische Frau, der man das Fahrrad oder Handy gestohlen oder eine Beule in den Kotflügel gefahren hatte. Ein weiterer Fall, der sofort zu den Akten wandern würde. Vielleicht wäre da ein erneuter Auftritt von Fischstäbchen doch die bessere Alternative gewesen.
Sie lief die Treppe hinunter, der Empfang war schon geschlossen. Im Raum dahinter traf sie den Schichtleiter, der schwer erkältet war. Seine Augen waren genauso gerötet wie seine dicke Schniefnase.
»Sie ist im Besprechungsraum und weigert sich, wieder zu gehen.«
»Ist sie ruhig?«
»Margit ist bei ihr.«
Linda trat in den Besprechungsraum. Zwei Frauen saßen an einem Tisch. Margit, die seit über vierzig Jahren als Büroleiterin im Polizeipräsidium arbeitete, verließ bei Lindas Eintritt ohne ein Wort den Raum. Linda setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl und wartete, bis die Tür ins Schloss fiel.
Die Frau kam ihr bekannt vor, obwohl sie nicht zu sagen wusste, wo sie sich schon einmal begegnet waren. Auch ihr Name, Eveliina Törmänen, sagte ihr nichts. Die Frau ihr gegenüber schien Linda ebenfalls erkannt zu haben. Sie mussten sich irgendwo schon einmal gesehen haben. Die Frau war knapp über vierzig, jedenfalls noch keine fünfzig. Sie war eher klein und untersetzt, die halblangen Haare hingen wirr herab, das Augen-Make-up verwischt. Linda reichte ihr ein Taschentuch, mit dem sie sich sofort die Augen tupfte.
»Meine Tochter ist verschwunden«, begann sie, wobei sie ihre Erregung nur mühsam zurückhalten konnte.
Linda knipste die Mine aus dem Stift. »Wie lautet der Name Ihrer Tochter?«
»Laura Eveliina Törmänen.«
Linda schrieb ihn auf. Die Tochter trug den Vornamen ihrer Mutter als zweiten Vornamen. Genau wie bei mir und Linnea. »Wie alt ist Laura, und wann haben Sie sie zuletzt gesehen? Auf welche Schule geht sie?«
Die Frau atmete in Stößen. »Dreizehn . auf die Oberschule West-Pori . heute Morgen, als sie los ist.«
Genau so alt wie Linnea und beide gehen auf dieselbe Schule.
Wahrscheinlich waren sie sich auf irgendeinem Schulbasar oder Elternabend begegnet.
Linda sah zur Uhr. Halb sechs. »Wann hatte sie heute Schluss?«
»Um zwei.«
»Und sie ist nicht nach Hause gekommen?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Sie kommt immer direkt von der Schule nach Hause. So haben wir es ausgemacht. Ich kam gegen vier von der Arbeit. Ihr Rucksack lag nicht im Flur, und im Geschirrspüler war kein Geschirr von ihr.«
»An ihr Handy geht sie auch nicht?«
»Die Mailbox springt sofort an.« Eveliina Törmänen fing wieder an zu weinen.
Linda reichte ihr zwei frische Taschentücher und wartete, bis sich die Gefühlsaufwallung etwas gelegt hatte.
»Was ist mit dem Vater?«
»Timo wohnt in Deutschland. Er hat dort eine neue Familie. Ich habe ihn noch nicht angerufen.«
»Haben Sie ein Foto von Laura?«
Die Frau suchte auf ihrem Handy, bis sie ein Foto gefunden hatte, es war nicht besonders gut. Auf dem Foto schaute das Mädchen an der Kamera vorbei, und ein Teil ihres Gesichtes wurde von ihren Haaren bedeckt. Linda wies sie aber nicht darauf hin. Sollten sie ein besseres Foto benötigen, konnten sie sie immer noch danach fragen.
»Könnten Sie mir das Foto für eine eventuelle Vermisstenanzeige aufs Handy schicken?«
»Wird Laura jetzt zur Fahndung ausgeschrieben?«
»In Finnland wird man nur zur Fahndung ausgeschrieben, wenn man sich einer Straftat verdächtig gemacht hat. Nach dreieinhalb Stunden gilt man in dem Alter noch nicht als vermisst. Vielleicht ist sie zu einer Freundin gegangen und hat die Zeit vergessen. Vielleicht ist der Akku ihres Handys leer, oder es hat sich aus Versehen ausgeschaltet.«
»Heißt das, sie wollen Laura nicht suchen?«
Linda sah zur Uhr. »Wenn Sie bis, sagen wir, neun Uhr nichts von Laura hören, wählen Sie bitte die Notrufnummer.«
»Aber sie kommt immer direkt nach Hause, so haben wir es vereinbart. Sie weiß, dass ich .« Sie brach wieder in Schluchzen aus, und Linda reichte ihr ein sauberes Taschentuch.
Linda überlegte, wie sie die Frau dazu bringen konnte, sich zu beruhigen. Ihre Reaktion wirkte angesichts der wenigen Stunden, in denen sie ihre Tochter nicht erreicht hatte, ziemlich übertrieben.
»Erzählen Sie mir von Laura: Hat sie Hobbys, mit wem trifft sie sich, wo hält sie sich gerne auf? Welche Kleidung trägt sie und wie ist sie unterwegs?«
Die Mutter beschrieb ihre Tochter sehr detailliert, und Linda notierte sich die Erkennungsmerkmale.
»Wie ging es Laura in letzter Zeit?«
»Wie meinen Sie das?«
»War sie vielleicht niedergeschlagen, oder hat sie sich sonst auffällig verhalten? Hatten Sie Streit, oder wissen Sie, ob sie sich mit jemandem aus ihrem Freundeskreis gestritten hat?«
»Wir streiten uns nie«, erwiderte Eveliina Törmänen entschieden. »Laura ist ein liebes Mädchen.«
»Sicher«, sagte Linda. Im Stillen dachte sie, dass die Frau gerade zum ersten Mal log. Eine Mutter und eine Teenagerin, die sich niemals stritten, waren in Lindas Augen genauso undenkbar, wie auf einer Blechbüchse zum Mond zu reisen.
»Ich denke, es gibt für das alles eine natürliche Erklärung«, sagte Linda.
Wieder kämpfte die Frau mit einem Weinkrampf. Linda fuhr beruhigend fort: »Gehen Sie nicht gleich vom Schlimmsten aus. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür. In diesem Alter fangen die jungen Leute an, ein soziales Leben außerhalb des Elternhauses zu führen. Die Pubertät ist eine Zeit großer Veränderungen.«
Linda riss ein Blatt von ihrem Notizblock ab und reichte es der Frau.
»Schreiben Sie bitte die Namen aller Freunde auf, bei denen Laura vielleicht sein könnte. Notieren Sie bitte auch die Namen der Eltern.« Dann griff Linda zu ihrem Handy. »Wir rufen sie alle der Reihe nach an und fragen, ob einer von ihnen Laura gesehen hat oder weiß, wo sie sein könnte.«
Die Frau schrieb fünf Namen auf den Zettel. Linda fand über das Adressregister zu jedem von ihnen eine Anschrift und eine Telefonnummer. Linda überließ es der Frau, die Liste abzutelefonieren, und registrierte anerkennend, dass sie dabei kein einziges Mal...
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