Schweitzer Fachinformationen
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«Es war gut, dass Sie uns auch eine Urinprobe gegeben haben.»
Das ovale Gesicht des Mannes hinter dem Schreibtisch strahlt eine ernste, gewichtige Ruhe aus. Das dunkle Gestell seiner Brille betont noch das intensive Blau seines Blicks, der auf mich gerichtet ist.
«Das Ganze, nun, lassen Sie mich ein wenig ausholen. Ich habe Rücksprache gehalten mit meinen Kollegen in Kotka und Helsinki. Ihre Erkenntnisse entsprechen unseren. Und ich möchte betonen, dass wir nichts hätten ändern können, selbst wenn wir die Sache schon bei Ihrem letzten Besuch klarer gesehen hätten. Wie geht es Ihnen heute? Erzählen Sie ein wenig.»
Ich zucke mit den Schultern und wiederhole mehr oder weniger, was ich schon beim letzten Mal erzählt habe. Dass alles mit plötzlicher Übelkeit begann, die mich buchstäblich aus den Socken gehauen hat. Dass ich in regelmäßigen Abständen das Gefühl habe, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Ich erleide heftige Hustenanfälle. Der Stress raubt mir den Schlaf. Wenn ich dann doch irgendwann eindöse, habe ich Albträume. Und Kopfschmerzen, die sich anfühlen, als würde jemand mit einem scharfen Messer an meinen Augen entlangstreichen. Mein Hals ist trocken. Und immer wieder diese Übelkeit, die mich überfällt, von einem Moment auf den anderen.
Und das alles ausgerechnet jetzt, wo unsere Firma vor der größten Herausforderung ihrer noch jungen Existenz steht.
«Ja», sagt der Arzt, er nickt. «Ja, ich verstehe.»
Ich schweige, und auch er schweigt für eine Weile, bevor er fortfährt. «Nun, es ist so, es handelt sich nicht um einen hartnäckigen grippalen Infekt, wie wir anfänglich vermutet haben. Der Urintest hat uns auf die Spur gebracht, und die MRT und die Sonographie haben die Verdachtsdiagnose bestätigt. Ihre Nieren sowie die Leber und die Bauchspeicheldrüse, mit anderen Worten, wichtige innere Organe, sind schwer geschädigt. Aus dem, was Sie berichten, entnehmen wir, dass auch das zentrale Nervensystem bereits beeinträchtigt ist. Möglicherweise auch das Hirn. Wir haben es mit einer ausgeprägten Vergiftungssymptomatik zu tun. Die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung sind, nun, bemerkenswert. Diese Werte könnten selbst ein Nilpferd niederstrecken. Dass Sie mir hier gegenübersitzen und zur Arbeit gehen können, verdanken Sie vermutlich der Tatsache, dass sich die Gifte über einen längeren Zeitraum hinweg in Ihrem Körper angereichert haben, schleichend. Ihr Körper hat sich, so weit das möglich ist, daran gewöhnt.»
Etwas in mir reißt. So fühlt es sich an. Ich falle, stürze, in einen kalten Abgrund. Einige Sekunden lang. Dann ist es vorbei. Ich sitze auf einem Stuhl, mir gegenüber sitzt der Arzt hinter seinem Schreibtisch, es ist Dienstag. Bald werde ich mich auf den Weg machen, zur Arbeit. Ich habe mal gelesen, dass Menschen, die in einem brennenden Haus stehen, plötzlich die Ruhe selbst sein können. Menschen, die von einer Pistolenkugel getroffen worden sind, können noch ganz vernünftige Gedanken haben, obwohl sie literweise Blut verlieren. Ähnlich scheint es bei mir zu sein. Ich sitze einfach nur da, als würde ich auf den nächsten Bus warten.
«Sie erwähnten einmal, dass Sie beruflich mit Pilzen zu tun haben», sagt der Arzt.
«Ja, aber Matsutake ist nicht giftig», entgegne ich. «Und die Erntezeit beginnt ja erst.»
«Matsutake?»
Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll.
Ich entscheide mich für die Kurzfassung. Meine Frau hat in Helsinki in der Großküche eines Caterers gearbeitet, ich war in derselben Firma Verkaufsleiter. Vor drei Jahren wurden große Teile der Belegschaft abgebaut, wir verloren beide unseren Job. Also brauchten wir eine neue Idee. In Hamina suchten sie gerade - wie in so vielen finnischen Kleinstädten - nach neuen Geschäftsmodellen, weil der Hafen und die Papierfabrik stillgelegt worden waren. Wir handelten schnell, erhielten einen großzügigen Existenzgründerzuschuss und nahezu zum Nulltarif unsere Firmenräume. Wir fanden Mitarbeiter, die die Felder und Wälder in der Umgebung kennen wie ihre Westentaschen. Wir verkauften unsere Wohnung in Oulunkylä und erwarben ein Einfamilienhaus in Hamina sowie ein kleines Boot und eine Anlegestelle, siebzig Meter von unserem Briefkasten entfernt.
Unsere Geschäftsidee: Matsutake. Kieferduftritterlinge.
Die Japaner sind verrückt nach diesen Dingern, und Finnlands Wälder sind voll davon.
Es gibt Japaner, die tausend Euro fürs Kilo hinblättern, wenn Matsutake-Pilze in ihrer frühen Blüte stehen. Und in den Wäldern im Norden und Osten von Hamina kann man sie pflücken wie vom Präsentierteller. Unsere Räume sind bestens ausgestattet, wir trocknen und lagern die Pilze, und während der Erntezeit geht einmal wöchentlich eine Sendung nach Tokio raus.
Ich atme durch. Der Arzt wirkt nachdenklich.
«Gut. Wie ist, abgesehen davon, Ihr Lebenswandel?»
«Mein Lebenswandel?»
«Wie ernähren Sie sich? Treiben Sie Sport?»
Ich entgegne, dass ich mit gutem Appetit esse. Seit ich Taina kennengelernt habe, vor sieben Jahren, habe ich nicht ein einziges Mal gekocht. Und Taina serviert keineswegs Teller, auf denen eine teelöffelgroße Portion Selleriepüree nach einem einsamen Halm Weizengras sucht. Taina kocht gerne mit Sahne, Salz, Butter, Käse und Schweinefleisch. Ich mag, was sie kocht, habe es immer gemocht. Das sieht man mir auch an, ich wiege 24 Kilogramm mehr als am Tag unseres Kennenlernens.
Taina hat merkwürdigerweise nicht zugenommen. Es könnte daran liegen, dass sie ohnehin von stattlicher Statur ist. Sie sieht ein wenig aus wie eine Gewichtheberin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Ich meine das auf eine gute Weise: Ihre Oberschenkel sind rund, muskulös und straff. Ihre Schultern breit, die Arme stark, ohne männlich zu wirken. Ihr Bauch ist flach wie ein Waschbrett.
Wenn ich Fotos von Bodybuilderinnen sehe, die es mit dem Trainieren nicht allzu wild treiben, dann denke ich an Taina. Sie hält sich regelmäßig fit, bei der Gymnastik, im Studio, und seitdem wir in Hamina sind, rudert sie sogar im Meer. Ich habe ja anfänglich versucht mitzumachen, aber der Ehrgeiz hat sich ein wenig verflüchtigt.
Das alles erzähle ich dem Arzt. Ich weiß gar nicht, warum ich so schnell und so viel rede, warum ich so detailreich von Taina erzähle. Fehlt nur noch, dass ich zentimetergenau ihre Maße herunterbete.
Dann, als der Arzt seinen wohlwollenden Blick ein wenig zur Seite abgleiten lässt, frage ich ihn, was wir denn nun tun werden. Der Arzt sieht mich an, als habe er gerade erst begriffen, dass ich ihm nicht zugehört und keines seiner Worte verstanden habe. Hinter den Brillengläsern blinzeln seine Augen.
«Nichts», sagt er. «Da ist nichts, was wir tun können.»
Der Raum ist wie überbelichtet, angefüllt mit Sonne, mit Sommer. Auch ich blinzle.
«Es tut mir leid», sagt er. «Vielleicht war ich nicht klar genug. Wir konnten nicht feststellen, um welche Art Gift es sich handelt. Es scheint eine Kombination verschiedener Substanzen zu sein. Und wenn wir die Symptome betrachten und das, was Sie berichten, so ist davon auszugehen, dass die Gifte so exakt dosiert eingeschlichen wurden, dass wir nichts tun können. Wir sehen keine Möglichkeit, einen Normalzustand wiederherzustellen. Keine Möglichkeit, wie soll ich sagen, die eingeschlagene Richtung umzukehren. Es ist eher die Frage, wie lange es dauert, bis Ihre Körperfunktionen eine nach der anderen aussetzen werden. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber diese Vergiftung wird unweigerlich den Tod herbeiführen.»
Das Sonnenlicht, das den Raum flutet, verstärkt noch die Absurdität dieser finalen Worte. Die Worte sind am falschen Platz. Und ich bin am falschen Ort. Ich bin hierhergekommen wegen einer Grippe, wegen Magenbeschwerden und gelegentlicher Übelkeit. Ich möchte hören, dass ich Ruhe und ein paar Antibiotika brauche, von mir aus, im schlimmsten Fall, irgendeine Magenspülung, und dann geht es aufwärts, und ich werde .
«Es ist mit Bauchspeicheldrüsenkrebs oder einer Leberzirrhose vergleichbar», sagt der Arzt. «Wenn lebenswichtige Organe über ihre Kapazität hinaus strapaziert werden, ist eine Regeneration nicht möglich. Das Organ brennt gewissermaßen aus, es erlischt, wie eine Kerze. Wir können da nichts machen. Eine Transplantation kommt nicht in Betracht, weil auch die umgebenden Organe geschädigt sind. Es würde also keine Besserung eintreten, sondern im Gegenteil das Organversagen eher beschleunigt werden. In Ihrem Fall scheinen die betroffenen Organe alle in einem vergleichbar fortgeschrittenen Stadium der Schädigung zu sein. Möglicherweise ist das, also gewissermaßen dieses Gleichgewicht des Schreckens, sogar der Grund dafür, dass Sie momentan noch in einem augenscheinlich recht guten Allgemeinzustand sind.»
Ich betrachte den Arzt. Sein Kopf bewegt sich kaum merklich. Wackelt hin und her.
«Natürlich ist alles relativ», sagt er.
Der Arzt sitzt hinter seinem Schreibtisch. Heute und morgen und kommende Woche wird er da sitzen. Der Gedanke füllt mich ganz aus. Nach einem Moment weiß ich auch, warum.
«Wie .?» Ich zögere. Mir liegt die Frage auf der Zunge, die man vermutlich nur ein Mal im Leben stellt. «Wie lange? Wie viel Zeit habe ich noch?»
Der Arzt, der seinen Beruf vermutlich noch zehn Jahre ausüben und seinen Ruhestand weitere zehn oder zwanzig Jahre genießen wird, mustert mich mit ernster Miene.
«Unter Berücksichtigung aller Faktoren, Tage. Höchstens Wochen.»
Ich...
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