Schweitzer Fachinformationen
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Der warme Schnaps zieht und zerrt von innen an seinem Mund, entzündet ein Feuerchen im Rachen. Er hat es unter Kontrolle. Der Wagen gleitet durch die Kurve, bei gleichbleibend hoher Geschwindigkeit.
Der Mann löst jetzt auch die rechte Hand vom Lenkrad, schaltet, wirft einen Blick auf den Tacho. Ein wenig schneller als 130. Eine wunderbare Geschwindigkeit an bitterkalten Wintertagen wie diesem, bestens geeignet auch für eine kurvige Straße wie diese hier, tief im finnischen Osten, in Hurmevaara.
Nicht zu vergessen, dass die Sicht bei Nacht schlecht ist. Auch wenn die Sterne hell leuchten.
Mit dem linken Fuß betätigt er ruckartig die Kupplung, mit dem rechten drückt er das Gaspedal durch. Er hebt wieder die Flasche an den Mund, nimmt einen Schluck, dieses Mal einen kleineren.
Ja. So trinkt man diesen Schnaps. Koskenkorva.
Zuerst ein großer Schluck, der die Zähne vom Kiefer abzulösen scheint und wie ein Feuerball brennt. Dann ein kleinerer als Nachschlag, der den Rachen benetzt, das Feuer löscht und vonnöten ist, um den ersten Schluck in die Körpermitte zu befördern.
Ja. Und so fährt man Auto.
Er erreicht den höchsten Punkt der Strecke, vor ihm liegt der sanft kippende Abhang, der den trügerischen Eindruck vermittelt, er sei leicht zu befahren. Auf den ersten Blick scheint es auszureichen, das Lenkrad gerade zu halten und Gas zu geben. Aber nein. Die Straße hat nämlich eine kaum merkliche Neigung zur linken Seite, und je schneller man fährt, desto größer ist die Gefahr, von diesem unscheinbaren Weg mitsamt seinem Wagen abgeworfen zu werden.
Der Mann hält das Lenkrad fest umschlossen. Seine Geschwindigkeit beträgt inzwischen 165 Stundenkilometer. Damit wäre er auf einer Etappe während der Weltmeisterschaft keineswegs chancenlos. Er weiß das. Es ist eine schmerzhafte Erkenntnis.
Rechts von ihm öffnet sich malerisch der Blick auf den vereisten Hurme-See. Fischer haben Flaggen ins Eis gerammt, um Eislöcher und die Netze für die Muränen kenntlich zu machen. Manchmal, wenn er hier vorbeifährt, hält er Ausschau nach den Flaggen, denn sie erinnern ihn an die Fahnen, die einst die jubelnden Zuschauer geschwenkt haben. Heute, in dieser Nacht, muss er das nicht sehen.
Er richtet das Lenkrad minimal nach rechts aus, um die Neigung der Straße auszugleichen. Als sich eine weitere Kurve in sein Sichtfeld hineinschlängelt, nimmt er den Fuß vom Gas. Füße und Hände arbeiten perfekt im Einklang. Er tritt die Kupplung, schaltet, die Bewegungen fließen in explosiver Abfolge ineinander. Er rammt sich die Flasche zwischen die Oberschenkel, packt mit der Linken das Lenkrad, mit der Rechten den Schaltknüppel, dann hebt er den Wagen in die Schwebe, beschleunigt. Er lässt zu, dass sich der Wagen an seiner eigenen Wucht ergötzt. Bremsen sind etwas für Amateure. Amateure wie den, von dem er sich den Wagen geliehen hat.
Schließlich erreicht er, nach einer kurzen ebenen Strecke, einen Hügel. Er spürt ein Brennen im Magen.
Das ist nicht der Schnaps, das ist das Schicksal.
Er beschleunigt weiter, ringt dem Fahrzeug die maximale Leistung ab. Das erfordert Perfektion. Er muss den Audi beherrschen, beherrscht er ihn, beherrscht er die Situation.
Man kann nicht einfach so Vollgas geben. Wer das tut, verliert die Kontrolle.
In diesem Moment würde das konkret bedeuten, dass er entweder in die rechte oder die linke Schneebank schleudern würde, mit mehrfachen Überschlägen. Am Ende würde das Auto auf dem Dach liegen.
Wenn er Glück hätte. Falls nicht, falls der Fahrer einen Moment zu lange zögert, würde der Wagen direkt im dichten Tannenwald zerschellen. Er würde sich um einen vereisten, meterdicken Baumstamm herumwickeln, wie Geschenkpapier.
Der Mann glaubt nicht an Glück. Er glaubt nur an die richtige Geschwindigkeit, im richtigen Moment.
Insbesondere jetzt, in diesem Moment, in dem alles ein Ende findet. Ein Ende, das ihm gefällt. Weil es passt.
Er fährt knapp 200, als er den höchsten Punkt der Anhöhe erreicht. Dann beginnt er zu fliegen. Hebt die Flasche an die Lippen. Das erfordert ebenso Genauigkeit wie das Steuern des Wagens. Seine linke Hand führt die Flasche routiniert und entspannt. Der Schnaps fließt in seinen Mund, an seinen Lippen entlang, während der Audi der frostigen Nacht entgegenschwebt. Sein Rachen brennt, er denkt an süße Flammen, eineinhalb Tonnen Stahl, Aluminium, ein heulender Motor, nagelneue Spike-Reifen stehen unter seinem Kommando.
Der Wagen fliegt, lange und weit. Er landet, als auch die Flasche wieder ihren Platz findet, zwischen seinen Oberschenkeln.
Er legt einen kleineren Gang ein, beschleunigt, schaltet wieder hoch. Es geht steil bergab, dann für Sekunden ebenerdig, dann schnellt der Wagen wieder eine Anhöhe hinauf. Dann wieder freier Fall. Es gelingt ihm, seinen Blick zugleich auf die rot leuchtenden Ziffern des Tachometers und die Flasche zwischen seinen Beinen zu heften. Der Tacho zeigt 200 an. Die Flasche etwas weniger als einen Deziliter. Dann prasseln die Spikes der Reifen wieder gegen die Straße, wie Maschinengewehrfeuer. Er lächelt, so gut es eben geht, mit vom Schnaps brennenden Lippen.
Er ist voll in Fahrt. Die, die ihn vertrieben haben, werden es bitter bereuen. Man hat ihn verleumdet, man hat ihn ausgegrenzt. Mag sein, dass er stirbt, aber weil das seine eigene Wahl ist, wird er sich über alles und jeden erheben. Er holt sie ein, überholt sie, winkt den Schleichern zu, während er sie links liegenlässt.
Der Gedanke ist wuchtig und warm. Er brennt in seinem Hirn, wie der Schnaps in seinem Rachen. Er trinkt gierig. Ein letztes Mal geradeaus. Der Audi scheint spitze Schreie auszustoßen.
Er öffnet das Fenster auf der Fahrerseite. Sein Gesicht ist vor Kälte starr, seine Augen tränen. Er wirft die leere Flasche durchs Fenster, in den Schnee.
Geradeaus. Bald kommt die T-Kreuzung. Er hat nicht die Absicht abzubiegen. Er denkt an den breiten Felsen, direkt hinter der Kreuzung.
Der Fahrer bestimmt die Höchstgeschwindigkeit. Das ist nicht diskutierbar, nichts, worüber man lange palavert. Es heißt immer, dass diese oder jene Höchstgeschwindigkeit zu diesem oder jenem Wagen gehöre, aber das ist Unsinn.
Er betrachtet den Tacho, der 240 Stundenkilometer anzeigt. In einem Auto, das angeblich bei 225 schlappmacht.
Er fokussiert die Straße, konzentriert sich darauf. Die letzten Kilometer. Dann aus. Aus und vorbei.
So ist das also, das ist das Ende, denkt er, in dem Moment, in dem er die Detonation hört. Er spürt sie auch. Sie wühlt sich durch seinen Körper, rüttelt ihn durch. Bruchteile von Sekunden laufen vor seinen Augen ab wie ein Film. Ein Lichtblitz. Dann ein Schatten. Senkrecht stehen sie im Raum, und sein Herz setzt aus. Dann beginnt es wieder zu pochen, laut und dumpf. Als würde jemand in unmittelbarer Nähe Metall schmieden.
Seine Sinne, alle fünf, sind geschärft, unmittelbar, so intensiv wie nie zuvor in seinem Leben. Er riecht das zerborstene Wagendach, er schmeckt den Kunststoff des aufgeplatzten Innenraums, er fühlt die Druckwelle, die über seine Hände streicht, er hört, obwohl möglicherweise sein Trommelfell geplatzt ist, die Explosion. Er hört sie weiter und weiter, in der Stille, in seinem Kopf.
Er handelt intuitiv. Schaltet in einen kleinen Gang, tritt die Kupplung durch, dann das Gas, die Bremse, dann Fuß vom Gas, Handbremse anziehen und gleiten. Treiben lassen. Das Auto rutscht auf die Kreuzung zu, dann steht es still.
Er weiß nicht, wie lange er so dasitzt, in der Stille. Nichts bewegt sich. Vielleicht eine Minute, vielleicht zwei Minuten. Er kann sich nicht bewegen. Sobald er dazu wieder in der Lage ist, sobald er seinen Griff vom Lenkrad lösen kann, wird er sich die Sache aus der Nähe ansehen.
Ihm ist durchaus klar, dass im Wagendach ein riesiges Loch klafft. Auch der Beifahrersitz ist durchlöchert. Der Durchmesser beider Löcher beträgt etwa vierzig Zentimeter. Wie gut, dass er eine Flasche Schnaps genossen hat. Hätte er das nicht getan, würde ihn der Anblick vermutlich verstören.
Er löst den Gurt, hält inne. Ganz ruhig, denkt er. Alles noch mal in Ruhe sortieren. Ein Loch im Dach. Ein Loch im Beifahrersitz. Er selbst sitzt wohlbehalten auf dem Fahrersitz. Das Loch ist neben ihm.
Er steigt aus. Dreht sich einige Male langsam um die eigene Achse. Endloser Schnee, helle, frostige Nacht. Mondschein, Sternenlicht. Der Schnee knirscht unter seinen Schuhen, während er um den Wagen herumläuft. Das Loch im Dach sieht aus wie ein verdrehter Kussmund, der sich tief hineingebohrt hat ins Metall. Er öffnet die Beifahrertür. Ja, tatsächlich, zerfetzte Lippen, ein Kuss, der ins Leere zielt, ins ausgehöhlte Innere des Wagens. Das Loch im Sitz sieht irgendwie obszön aus. Er lugt hinein ins Schwarze. Klar ist Folgendes: Was auch immer dieses Loch im Sitz verursacht hat, es ist da unten, denn er kann keinen Schnee sehen. Es ist durchs Dach eingetreten, hat sich durch den Sitz gebohrt und ist dann . stecken geblieben.
Er tritt einige Schritte zurück. Der Schnee knirscht. Sein Herz pocht.
Er hat sich darauf vorbereitet zu sterben. Dann ist etwas passiert. Und er lebt.
Gerade jetzt findet die Rallye Monte Carlo statt. Da sind jede Menge Leute. Schnaps aus den Alpen. Keine Löcher in den Autos. Nichts dergleichen. Nichts fällt .
. vom Himmel.
Er sieht nach oben. Da ist nichts. Da gibt es ohnehin eher selten irgendetwas zu sehen. Abgesehen von den Sternen, vom Mond und von der Sonne, wenn der Winter vorbei ist. Wolken. Flugzeuge. Aber doch...
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