Schweitzer Fachinformationen
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Kannelmäki im September. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen. Leuchtende Blätter, die vernünftigsten Quadratmeterpreise in ganz Helsinki.
Der Geruch von Herbst erfüllte die Morgenluft, nachgewiesenermaßen die reinste der Stadt. Auf den Oberflächen des rotgelben Laubs lagen Tauperlen, die aufgehende Sonne ließ sie aufflackern wie federleichte Spiegelungen.
Ich stand auf meinem Balkon im vierten Stock und dachte zum wiederholten Male, dass ich am rechten Ort war. Nichts, so dachte ich, würde mich jemals dazu bringen, meine Meinung zu ändern.
Die Umgebung des Bahnhofes von Kannelmäki zählte zu den effizientesten in ganz Helsinki. Von meiner Wohnung aus waren es gerade mal zweieinhalb Minuten bis zur Bahn. Zu meiner Arbeit in Pasila gelangte ich in neun Minuten, zum monatlichen Kinobesuch in der Innenstadt in dreizehn Minuten.
Gemessen an der zentralen Lage war meine Wohnung günstig und angenehm geschnitten. Funktional im besten Sinne, kein Quadratmeter zu viel. Keine Dekoration, kein Tand, nichts, was im Verdacht stand, unnötig zu sein.
Die Häuser waren in einer Zeit der Sachlichkeit erbaut worden, Mitte der achtziger Jahre. Es gab Leute, die die Siedlung als Plattenbau verunglimpften, gar als deprimierend, aber sie sahen nur die äußere Hülle, die würfelartigen Formen und das Grau, die verblüffende Einheitlichkeit. Diese Menschen begingen also einen Fehler, den so viele Menschen begehen: Sie stellten keine exakten Berechnungen an.
Berechnungen, das wusste ich aus Erfahrung, erzählten davon, was wirklich schön war und was nicht.
Kannelmäki, daran bestand kein Zweifel, war schön.
Ich sog noch einmal Luft ein, dann betrat ich meine Wohnung. Ich ging in den Flur, zog die Jacke und die Schuhe an. Den Reißverschluss der Jacke schloss ich nicht ganz, sodass die glänzende Krawatte sichtbar blieb. Der Knoten war gekonnt ausgeführt. Ich betrachtete mich im Spiegel, hatte den Eindruck, ich kannte den Mann, den ich sah.
Mit meinen 42 Jahren hatte ich eigentlich nur einen Wunsch:
Ich wollte, dass alles Sinn ergibt.
Die Versicherungsmathematik ist eine Disziplin, die die Fachbereiche Mathematik und Statistik zusammenführt. Es geht darum, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, mit der ein bestimmtes Ereignis eintreten kann. Daraus resultiert dann eine Risikoabwägung, die es ermöglicht, eine wirtschaftlich angemessene Versicherungsprämie festzulegen. Das ist die offizielle Version.
Wie so häufig verstehen die wenigsten diese formalen, eher langweilig anmutenden Erläuterungen. Und selbst wenn jemand es begreift, wird er zu wenig auf die entscheidenden Worte achten. Wirtschaftlich angemessen zum Beispiel.
Versicherungsgesellschaften machen Profit. Unfallversicherungen zuweilen dreißig Prozent. Das gelingt selbst in der herstellenden Industrie den Wenigsten. Die Versicherungsgesellschaften profitieren davon, dass die Leute eigentlich kaum eine andere Wahl haben. Sicher, man kann es auch sein lassen, niemand ist gezwungen, sich zu versichern, aber wenn die Leute ein wenig darüber nachdenken, dann versichern sie zumindest ihr Hab und Gut und ihr Zuhause. Versicherungsunternehmer wissen auch, dass der Mensch ein fragiles Wesen ist. Und dass seine Fähigkeit, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen, die anderer Lebewesen um ein Vielfaches übertrifft.
Deshalb errechnen Versicherungsgesellschaften, wie oft Menschen ausrutschen, insbesondere auf ihrem eigenen Grundstück. Auch wollen sie wissen, wie häufig sich die Leute Gegenstände diverser Form und Größe einführen, wie gerne sie glühende Grillkohle in den Müll kippen oder mit nagelneuen Jetskis ineinanderkrachen. Wie oft strecken sie sich nach dem obersten Regal aus, um hinter der Blumenvase etwas zu suchen, und wie oft stützen sie sich im Vollrausch auf einem Sushi-Messer ab? Nicht zu vergessen Feuerwerkskörper, die sie sich selbst und anderen ins Auge schießen - sobald Neujahr kommt.
Die Versicherungen wissen also zweierlei: Erstens müssen sich Menschen gegen alle möglichen Risiken wappnen. Zweitens wird es immer Menschen geben - gutes Zureden hin oder her -, die mit dem Feuer spielen. In diesem Spannungsfeld, gewissermaßen zwischen dem Bleistift und dem Streichholz, arbeiten wir Versicherungsmathematiker. Meine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die Versicherung Gewinn macht, und das, obwohl der arme Kerl, der sich selbst angezündet hat, natürlich entschädigt werden muss.
So jemand, der zwischen Blei und Flamme steht, war ich. Mein Büro befand sich im Stadtteil Vallila. Ein moderner Gebäudekomplex, der im Frühling des Vorjahres fertiggestellt worden war. Beim Bezug war die Farbe noch frisch. Jetzt aber spürte ich allmorgendlich, wenn ich das Großraumbüro betrat, dieselbe Wut, dieselbe Enttäuschung, wie Klumpen aus schwarzem, ewigem Eis, die sich in meiner Seele eingenistet hatten - anstelle eines Arbeitszimmers hatte ich nun einen Arbeitsplatz.
Das Wort Platz sagt alles. Es war eine schmale, beengte Fläche am Fenster. Mir gegenüber saß, an einem identisch schmalen Platz, ein jüngerer Kollege, auch er Mathematiker, Miikka Lehikoinen. Er neigte dazu, Geschichten von Grillabenden zum Besten zu geben. Links von mir saß Kari Halikko, ein recht junger Risikoanalytiker, der gerne lachte. Sie waren Vertreter einer neuen Generation von Versicherungsmathematikern.
Ich mochte weder die beiden noch das offene Büro. Es war laut, andauernd gab es Störungen, aus nichtigem Anlass. Vor allem war es voller Menschen. Ständig wurde geredet, gekalauert, gewitzelt, um Rat gefragt oder Ratschlag angeboten. Andere mochten das, ich nicht. Mir wollte nicht einleuchten, was das alles mit anspruchsvoller Wahrscheinlichkeitsberechnung zu tun haben sollte. Ich hatte versucht, die Verantwortlichen darüber aufzuklären, dass wir hier eine Abteilung für Risikoverwaltung zu leiten hatten, keinen Vergnügungspark, aber ich war auf taube Ohren gestoßen.
Meine Leistungsfähigkeit hatte definitiv gelitten. Immerhin machte ich nach wie vor keine Fehler, was man von allen anderen vermutlich nicht behaupten konnte. Aber diese ständigen Ablenkungen, vor allem die von Halikko, hemmten mich erheblich.
Dieser Halikko lachte über alles. Er zeigte den anderen Filmchen, auf denen die Hintern von Weitspringerinnen zu sehen waren oder sinnlose Sänger-Duelle oder seltsame Haustiere. Die Leute stimmten in Halikkos Lachen ein, und ein Filmchen führte zum nächsten. Halikko lachte immer lauter, schallend. In meinen Augen, mit Verlaub, ein völlig inakzeptables Verhalten für einen Risikoanalytiker.
Ein anderer Störfaktor war Lehikoinen, er sprach ohne Pause. Montags berichtete er vom Wochenende, im Herbst vom Sommerurlaub, im Januar von Weihnachten. Lehikoinen führte ein ereignisreiches Leben. Er hatte zwei Scheidungen hinter sich, was in meinen Augen bedeutet, dass er die tiefere Bedeutung mathematischer Redundanz nicht verstanden hat.
An diesem Morgen saßen sie bereits an ihren Arbeitsplätzen, als ich ankam. Halikko kratzte sich an seinem kurzgeschorenen Kopf, Lehikoinen spitzte die Lippen, er sah irgendwas auf seinem Bildschirm, das ihn mit den Fingern gegen die Armlehne seines Stuhls trommeln ließ. Sie machten den Eindruck, als konzentrierten sie sich tatsächlich auf ihre Arbeit, was ziemlich überraschend war. Ich sah auf die Uhr, die auf dem Tisch stand. Es war genau neun. Ende der Gleitzeit.
Nach dem Umzug habe ich mir angewöhnt, morgens eine halbe Minute später loszugehen, in der Hoffnung, den morgendlichen Plausch im Büro vermeiden zu können. Das führte dazu, dass ich gerade noch pünktlich zur Arbeit erschien. Was gar nicht meine Art war. Ich legte meine Tasche neben meinem Stuhl ab, zog den Stuhl heran. Zum ersten Mal hörte ich bewusst, wie die kleinen Reifen aus Hartgummi über den Boden schrammten. Das Geräusch hatte etwas Schauderhaftes. Mir liefen Schauer über den Rücken, wie kalte Fingernägel.
Ich fuhr den Computer hoch und stellte sicher, dass alles auf dem Tisch bereitlag, was ich brauchte. Ich war mittendrin in einer Analyse der Zinsfrequenzschwankung in Bezug auf die Entschädigungsoptimierung in einer dynamischen Wirtschaftslage. Ich hegte die Hoffnung, heute die recht mühevolle Tätigkeit der vergangenen beiden Wochen abschließen zu können.
Die Stille fühlte sich an wie Wasser, das in einem Glas ruhte, durchsichtig, aber zugleich konkret, eine Stille, die mit Händen zu greifen war.
Ich gab meinen Benutzernamen und mein Passwort ein. Das Kästchen ruckelte kurz. Darunter stand in roter Schrift, dass Benutzername und Passwort ungültig seien. Ich gab alles noch mal ein, langsamer und achtete darauf, dass die Großbuchstaben groß waren und die Kleinbuchstaben klein. Das Kästchen ruckelte hin und her. Darunter waren jetzt sogar zwei Zeilen. Benutzername und Passwort seien nicht gültig. Und in GROSSBUCHSTABEN der Hinweis, dass ich nur noch einen (1) weiteren Versuch habe. Ich suchte über den Bildschirm hinweg Lehikoinens Blick. Er trommelte mit den Fingern gegen seine Armlehne, betrachtete durch das Fenster interessiert die Fassade des Fastfood-Restaurants.
Ich starrte ihn an, während ich mir noch einmal in aller Ruhe meine Zugangsdaten vor Augen führte. Ich kannte das Passwort, ich kannte den Nutzernamen. Natürlich. Ich wusste auch, dass ich beide zweimal vollkommen korrekt...
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