Schweitzer Fachinformationen
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Zwei Jahre früher - Deux ans plus tôt
Juliette
Als Juliette erwacht, riecht sie den Duft welkender Rosen. Sie waren rosa, als sie sie bekommen hat, doch jetzt haben sie die Farbe gebräunter Sommerhaut angenommen, und die Blütenblätter fallen von den Stängeln. Sie ist spät dran. Zu spät. Ausgerechnet an diesem Tag der Tage. Sie wirft einen Blick auf die Wanduhr, springt aus dem Bett und flucht: Merde, merde, merde. Sie hastet an den Blumen mit den herabhängenden Köpfen vorbei, sodass sich noch mehr Blütenblätter auf dem ungemachten Bett und dem Boden verteilen wie Hochzeitskonfetti.
Sie duscht rasch, das Haar zu einem losen Knoten gebunden. Sie trocknet sich schnell und notdürftig ab. Das Handtuch ist dünn und könnte mal ersetzt werden. Putzt sich die Zähne. Runzelt die Stirn beim Anblick ihres Gesichts, das von den vielen Abenden in der Küche blass und ganz zerknittert ist. Verteilt mit schneller, leichter Hand Make-up, zu viel, es wird sich in der Landkarte ihrer Haut - Flüsse und andere Grenzlinien - festsetzen. Mascara. Rouge, um nicht so müde auszusehen. Sie kämmt ihr Haar aus. Es ist bis über die Schultern gewachsen. Die Enden sind nicht in Topform, genau wie ihre Nerven, doch wenn sie es hochsteckt, sieht man es nicht.
Juliette bleibt mit dem Daumen in der ersten Strumpfhose hängen. Sie flucht erneut und inspiziert den Nagel, der kurz und rissig ist. Mit dem zweiten Paar ist sie vorsichtiger, lässt sich Zeit, obwohl ihr Herz vor Ungeduld in ihrer Brust rumpelt und drängelt. Zieht Kleid und Stiefel an und ist aus der Tür. Die Handtasche über der Schulter schwingt wie ein Pendel. Das Handy in der Hand. Sie schickt Louis eine SMS, entschuldigt sich, während sie durch das Treppenhaus nach unten eilt: Pardon! Arrive bientôt. J.
Ihre Stiefel machen klack!, klack!, klack! auf den Stufen. Als wollten sie sie ausschimpfen.
Madame Deschamps öffnet ihre Tür, als Juliette vorbeieilt. Sie zieht ihren Morgenmantel enger um sich und tritt einen Schritt zurück. Juliette hat keine Zeit, stehen zu bleiben und Nettigkeiten auszutauschen. Ihre Stiefel führen sie die Treppe hinunter, diese altehrwürdige sich kringelnde Wirbelsäule, und aus der Haustür hinaus auf die Straße.
Draußen ist das Morgenlicht grau und kontrastlos, und die Welt riecht nach Beton und Hundepisse und gebackenem Teig aus dem Block nebenan, und Juliette schnuppert unwillkürlich. Sie weiß, dass Henri in der boulangerie ist, bedeckt mit Schweiß und Mehl, weiß, dass er die Hintertür geöffnet hat, um etwas Luft hereinzulassen, ganz gleich, wie sie riecht, und die kühle Liebkosung auf seiner geröteten kribbelnden Haut zu spüren. Juliette weiß, dass er einen Espresso trinkt, schwarz und ohne Zucker, dass er ihn genießt wie einen Kuss und jedem von der Belegschaft, der sich ihm nähert, ein foutre le camp! an den Kopf wirft, bis er fertig ist, bis er sich neu belebt fühlt. Juliette ist natürlich willkommen. Sie sprechen über Mehl und Backhefe und über ein Dasein ohne Zigaretten und über Henris Hund, der alles für ihn ist und ein schlimmes Bein hat. Wenn sie nicht so spät dran wäre, könnte sie ihm jetzt Gesellschaft leisten und den Zigaretten nachtrauern und den Hund loben. Aber heute geht das nicht.
Juliette eilt an den Männern vorbei, die ihre Stände für den Markt aufbauen. Manche rufen ihr etwas zu, andere nicken mit den Köpfen. Kisten werden geöffnet und Lastwagen stehen mit Ladungen von Fisch und Krabben herum, mit frühen Beeren, Bündeln von süßem, zitronigem Sauerampfer, mit Schokolade, Käse, Öl und Essig in schlanken grünen Flaschen, Blumen mit lieblich duftenden Köpfen in den Farben von Süßwaren. Juliette weicht einem erschöpft aussehenden Touristen mit einer Kamera aus, die an einem Riemen um seinen Hals hängt.
Es ist nur ein kurzer Gang bis zur Metro-Station Place Monge, anderthalb Blocks. Juliette holt ihr Ticket heraus, bevor sie am Eingang ist, der von einem geschwungenen Metallschild angezeigt wird, dessen Buchstaben wie Ranken geformt sind. Die Stufen darunter sind mit Flüchen und Beleidigungen schmutzig besprüht. Juliette drückt instinktiv ihre Tasche fester an sich. Das ist das fünfte Arrondissement. Das ist Paris. Man kann nie wissen. Juliette ist die Einzige auf dem Bahnsteig, als der Zug, begleitet von einem ekelhaft warmen Wind, einfährt. Sie steigt ein und setzt sich. Sie merkt, dass ihre neuen Stiefel drücken. Sie hatte für heute etwas Schönes, etwas Neues gewollt. Neue Stiefel, um sich selber neu zu fühlen. Neu und besonders und wie jemand, über den es sich lohnt zu schreiben. Selbst wenn ihr Haar nicht perfekt ist oder ihre Nägel oder die Falten in ihrem Gesicht, die verraten, dass sie über vierzig ist und furchtbar müde.
Ein Mann auf dem Platz ihr gegenüber hebt den Kopf von der Zeitung. »Juliette!«
Sein Haar ist dick und silbrig, seine Lippen sind voll und verziehen sich zu einem Lächeln.
»Léon.« Juliette versucht, fröhlich zu klingen.
Léon ist Koch und Besitzer des La Porte Blanche, vormals Le Sel, eines Restaurants im ersten Arrondissement. Er steht von seinem Platz auf, um sich neben sie zu setzen. Eine Frau mit einem leuchtend bunten Kopftuch beobachtet sie, ihr Gesicht ist ausdruckslos. Ihr Kleid ist mit Blumen und Blättern bedruckt - orange, braun, schwarz und gelb. Juliette wünscht sich, sie würde stattdessen neben ihr sitzen.
»Ich habe gewusst, dass du es bist«, sagt Léon und neigt den Kopf. »Du siehst hübsch aus. Très jolie.«
»Merci, Léon. Danke«, antwortet Juliette.
Léon faltet die Zeitung zusammen und steckt sie in seine Manteltasche. »Du bist früh dran?«
Juliette nickt.
»Du arbeitest zu viel.«
Juliette weiß, dass das eher eine strategische Entmutigung als echte Besorgnis ist. Léon ist nicht Juliettes Verbündeter, er ist ihr Konkurrent.
»Ah, heute ist dein großer Tag, nicht?«, meint Léon.
»Wie .?«
Léon nickt bedächtig. »Ich weiß es. Ich höre so etwas. Ein Interview mit .?« Er lacht wissend.
»Gault-Millau«, murmelt Juliette. Sie hatte es vermieden, den Namen des berühmten Restaurantführers laut auszusprechen, als würde das Unglück bringen. Léons Lächeln ist breit und zufrieden.
»Dusollier?«
»Oui, Dusollier.«
»Hmmm«, brummt Léon. »Sie ist ein harter Brocken.«
»Ja, das habe ich gehört«, antwortet Juliette. Plötzlich fühlt sie sich schon viel weniger jolie. Sie wünscht, sie hätte den Friseurtermin letzte Woche nicht abgesagt. Juliette hat in der letzten Zeit viele Termine abgesagt. Verabredungen mit Freunden und Arztbesuche. Sie war seit zwei Jahren nicht mehr beim Zahnarzt und weiß, dass ein Zahn eine Füllung braucht.
»Du kennst sie?«, fragt Juliette wie beiläufig.
Léon nickt. »Natürlich.«
Sie halten an einer Haltestelle, der Zug füllt sich, die Fahrgäste drängeln zu den Sitzplätzen. Eine schwangere Frau findet keinen Platz und die, die sitzen, meiden ihren Blick. Zwischen Juliette und der Frau in dem Kleid mit dem Blumenmuster sitzen eine weitere Frau, die in den Spiegel einer Puderdose schaut und Lippenstift aufträgt und eine dunkle Handtasche unter dem Arm hat, und ein junger Mann mit einem Skateboard. Er starrt Juliette wütend an.
»Du schaffst das schon«, sagt Léon und tätschelt Juliettes Knie, wobei seine Hand einen Moment zu lange auf ihrem Bein verweilt. Er beugt sich zu ihr vor und senkt die Stimme.
»Dusolliers bellt gern. Aber Hunde, die bellen . So sind sie alle, nicht? Die Kritiker. Wollen sich nur wichtig machen.«
»Weißt du, was der Trick ist?«, flüstert Léon.
Juliette antwortet nicht. Sein Gesicht ist ihrem zu nahe, und er riecht zu stark nach Aftershave. Léon in die Arme zu laufen, ist nie angenehm. Juliette geht Léon aus dem Weg, wo sie nur kann - bei Branchenevents, bei Eröffnungen, wenn er mit einem Investor, den er für sich zu gewinnen sucht, in ihr Restaurant, das Delphine, kommt. Nicht nur weil er ein Konkurrent ist. Es ist mehr. In Léons Gegenwart fühlt sich Juliette immer unbehaglich. Als würden sich Schlangen in ihrem Bauch winden.
»Du musst dafür sorgen, dass sie sich als etwas Besonderes fühlen. Verstehst du?«
Léon legt seine Hand auf Juliettes. Sie wirft einen Blick darauf, auf den goldenen Ring, dann sieht sie ihn direkt an. Er hat die Hand weggenommen, als ihr Blick seinem begegnet, aber es reichte bereits. Der Zug ruckelt, und die Fahrgäste schwanken. Die Frau in dem Blumenkleid sieht sie durch eine Lücke an. Es beruhigt Juliette, dass sie da ist. Alles beobachtet.
»Verstehe. Merci«, antwortet Juliette knapp.
»Du schaffst das«, sagt Léon noch einmal, samtweich wie geschmolzene Schokolade, die zum Abkühlen auf der Arbeitsfläche ausgebreitet ist.
Juliette strafft die Schultern, ermutigt durch die Frau in dem Blumenkleid, durch die Hitze von Léons unerwünschter Berührung, die sie noch immer auf ihrer Hand spürt.
»Wie geht es Céline?«, fragt sie, der Name geht ihr leicht von der Zunge. »Deiner Frau? Und den Kindern?«
Léons Lächeln ist angespannt. »Hm, gut, danke. Es geht ihnen gut.«
»Grüß alle unbedingt von mir.«
»Ja«, antwortet Léon bedächtig.
Juliette sieht aus dem Fenster, der Zug wird langsamer. Ihre Haltestelle rückt ins...
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