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Montag, 16. Dezember, 7:43 Uhr
Berlin, Treptowers
BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum
Der zweite Fall, der an diesem Morgen auf der Agenda für den Sektionssaal der »Extremdelikte« stand, war lange nicht so spektakulär und außergewöhnlich und vor allen Dingen nicht mit so vielen offenen Fragezeichen versehen wie die mit Akribie inszenierte und dann vollendete Hinrichtungsszenerie, dafür aber umso tragischer, wie sich im Verlauf der rechtsmedizinischen Untersuchungen herausstellen sollte.
»Das hier ist . oder vielmehr: Das hier war Bertram Gehrens, einundsiebzig Jahre alt und bis zu seiner Pensionierung vor sechs Jahren Leiter der Abteilung Politisch motivierte Kriminalität beim Bundesamt für Verfassungsschutz«, begann Professor Paul Herzfeld seine Ausführungen zu dem immer noch hinter ihm auf der Leinwand gezeigten, an der Holzkonstruktion kopfüber in die Tiefe hängenden Mannes.
Herzfeld ließ das nächste Bild auf der Leinwand erscheinen und jetzt konnte Yao erkennen, dass es sich bei dem Holzgestell um einen Hochsitz für Jäger, offenbar in irgendeinem Waldstück, handelte.
»Sein Name steht auf einer sogenannten Todesliste, die Mitte des Jahres im Rahmen einer Razzia im linksautonomen Milieu in Berlin-Friedrichshain in der Rigaer Straße sichergestellt wurde«, fuhr Herzfeld fort. »Da sich neben anderen Namen auch der von Gehrens auf dieser Liste befindet und er jetzt überraschend und unter ungewöhnlichen Umständen das Zeitliche gesegnet hat, hat der Generalbundesanwalt den Fall übernommen. Und deshalb kommen wir und nicht die Kollegen vom Landesinstitut ins Spiel. Gehrens wohnte in Berlin-Mitte, war passionierter Jäger und das von ihm gepachtete Jagdrevier, in dem sich auch der hier gezeigte Hochstand befindet, liegt eine knappe Stunde Fahrzeit nördlich von Berlin, im Brieselanger Forst .«
Wieder fing Assistenzarzt Doktor Alfons Murau an, unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, aber diesmal kam Herzfeld dem Österreicher zuvor. »Herr Murau!«, wandte er sich an diesen. »Ich möchte jetzt nichts zu ungeklärten Erscheinungen im Brieselanger Forst oder zum sagenumwobenen Brieselanger Licht von Ihnen hören. Ich bezweifle keine Sekunde, Sie könnten uns auch dazu einige Anekdoten erzählen, aber wir konzentrieren uns jetzt bitte auf nichts anderes als auf den Todesfall Gehrens, damit wir hier bald zum Ende kommen und in das weitere Tagesgeschäft einsteigen können.« Herzfeld beugte sich leicht über die Tischplatte vor sich in Richtung des Österreichers. »Damit das klar ist: Ich dulde keine weiteren Unterbrechungen!« Murau zuckte auch diesmal auf Herzfelds Zurechtweisung hin mit den Schultern, schien sich aber geschlagen zu geben.
»Hier .«, Herzfeld ließ das nächste Foto des Leichenfundortes von Bertram Gehrens erscheinen, ». sehen wir, dass diese widernatürliche Position, in der der ehemalige Regierungsdirektor des Verfassungsschutzes von einem Spaziergänger aufgefunden wurde, daher rührt, dass Gehrens offenbar beim Heruntersteigen vom Hochstand mit seinem rechten Fuß durch ein morsches Bodenbrett der Plattform des Hochstandes gebrochen ist«, dabei deutete der Chef der »Extremdelikte« auf die jetzt erschienene Detailaufnahme des rechten Unterschenkels des Mannes, der, scheinbar festgeklemmt, zwischen zwei Brettern steckte. Offensichtlich war das Brett zwischen diesen beiden noch intakten Brettern weggebrochen.
»Als er durch das morsche Brett eingebrochen ist, so zumindest die bisherige Rekonstruktion, hat er das Gleichgewicht verloren und fiel um. Da sein rechter Unterschenkel und Fuß aber in der Plattform des Hochstandes fixiert waren, stürzte er nicht vom Hochsitz, sondern blieb kopfüber hängen. So weit, so gut .« Oder auch nicht, fügte Yao in Gedanken den Ausführungen ihres Chefs hinzu. Denn wenn das des Rätsels Lösung ist, wenn es sich hier um positionelle Asphyxie in Kopftieflage durch ein Unfallgeschehen handelt, wäre der Tote wohl kaum bei uns gelandet . Womit Yao recht behalten sollte, denn Herzfeld brachte kurze Zeit später die Erklärung, warum der Generalbundesanwalt den Fall unmittelbar an sich gezogen und nicht erst mal die weiteren polizeilichen Ermittlungen und das Ergebnis der Obduktion abgewartet hatte. Denn nur dass Gehrens' Name auf einer Liste steht, macht seinen Tod nicht automatisch zu einem Tötungsdelikt und rechtfertigt das Ausmaß der Ermittlungen, denn auf dieser Liste werden ja noch etliche weitere Namen stehen, überlegte Yao weiter.
In rascher Folge ließ Herzfeld jetzt sieben oder acht weitere Fotos von dem Leichenfundort im Wald auf der Leinwand erscheinen und diese jeweils etwa zehn bis zwanzig Sekunden stehen, ehe er zum nächsten Bild weiterklickte. Auf den Bildern waren aus unterschiedlichen Perspektiven in Übersichtsaufnahmen von allen Seiten sowohl die Plattform des etwa viereinhalb bis fünf Meter hohen Hochsitzes mit dem daran in die Tiefe hängenden Toten zu sehen sowie der Hochsitz. »Entscheidend ist hier, verehrte Kollegen .«, kommentierte Herzfeld die Bildstrecke, ». was wir nicht auf diesen Fotos sehen.«
»Ich schätze mal, die Jagdwaffe ist es, die nicht gefunden wurde?«, brummte Oberarzt Scherz in die Runde. »Denn als passionierter Jäger wird er nicht plötzlich zum Pazifisten geworden sein und von seinem Hochstand aus nur noch Vögel beobachtet haben. Eine Jagdwaffe sollte er wohl mit sich geführt haben«, schob der Oberarzt in gewohnt bissiger Weise hinterher.
»Richtig, Herr Scherz! Und wie Sie sehen, haben die Wimmelbilder der letzten Jahre, wie Sie es vorhin ausgedrückt haben, durchaus einen Lerneffekt gehabt«, bemerkte Herzfeld mit einem schelmischen Grinsen in Richtung des Oberarztes. »Denn .«, und mit diesen Worten wandte sich Herzfeld nun an die Kommissaranwärterin Kira Kaplan, ». viel wichtiger als das, was man sieht, viel wichtiger als das Offensichtliche, ist in der Rechtsmedizin - und das gilt ebenfalls für die Kriminalistik - das, was man eben nicht sieht. Wenn Sie, Frau Kaplan, diese kleine Lektion aus Ihrem Praktikum hier bei uns mitnehmen und für Ihre weitere berufliche Laufbahn verinnerlichen, haben Sie schon sehr viel gelernt.« Die Angesprochene, die auch an diesem Morgen, wie Yao fand, wieder geschmackvoll Ton in Ton in einen graugrünen Kaschmirpullover, eine olivfarbene Bundfaltenhose und farblich dazu passenden Lederloafer gekleidet war, errötete leicht, erwiderte aber nichts.
»Wie Kollege Scherz richtig bemerkt hat, fehlt Gehrens' Jagdwaffe, die er, so zumindest die Aussage seiner Frau, bei sich hatte, als er am Vortag von zu Hause in Richtung seines Jagdreviers im Brieselanger Forst aufgebrochen ist. Auch in seinem auf einem nahe gelegenen Waldparkplatz aufgefundenen Pkw war keine Waffe. Übrigens eine Repetierbüchse. Hersteller, Modell und Kaliber sind noch Gegenstand der Ermittlungen, tun hier aber nichts zur Sache, denn er wurde ja mutmaßlich nicht erschossen.
Kurz zu den zeitlichen Verhältnissen: Gehrens verlässt am Samstagnachmittag gegen fünfzehn Uhr seine Wohnung in Berlin-Mitte und fährt, das hat zumindest die Auswertung seiner Handydaten ergeben, nicht auf direktem Weg nach Brieselang, sondern er macht einen etwa einstündigen Zwischenstopp in Falkensee, gerade mal acht Kilometer von seinem Jagdrevier entfernt. Wo genau in Falkensee, diese Information konnte auch die Funkzellenabfrage nicht liefern. Dann, an seinem Jagdrevier im Brieselanger Forst angekommen, stellt er, wie stets, wenn er dort auf die Jagd geht, sein Fahrzeug auf besagtem Waldparkplatz ab. Von dort aus begibt er sich auf so ziemlich direktem Weg zu seinem Hochstand. Dort wird er gestern Morgen gegen kurz vor acht Uhr von einem Spaziergänger kopfüber hängend aufgefunden. Der Spaziergänger gibt an, dass Gehrens zu diesem Zeitpunkt keine Regung zeigte. Sehr wahrscheinlich war er da schon einige Stunden tot. Der Verbleib seiner Waffe? Zum jetzigen Zeitpunkt völlig unklar. Auch die Absuche der Umgebung des Hochstandes durch eine Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizei hat sie nicht zutage fördern können. Der Spaziergänger, der Gehrens gefunden hat, ist ein unbescholtener Bürger, keine Vorstrafen. Er hat, als er Gehrens nicht aus der fatalen Position befreien konnte, direkt den Notruf gewählt und, so Stand der Ermittlungen, sich da nicht mehr wegbewegt, bis Hilfe eingetroffen ist. Dass er es war, der die Waffe beiseitegeschafft hat, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt sehr unwahrscheinlich.«
Vielleicht war der Spaziergänger nicht der Erste, der Gehrens gefunden hat, nur dass derjenige, der zuerst da war, die Gunst der Stunde genutzt hat und sich Gehrens' Jagdwaffe geschnappt hat?, ging es Yao durch den Kopf. Aber das zu klären war nicht Aufgabe der Rechtsmediziner, sondern das mussten die zuständigen Todesermittler herausfinden.
»Ich möchte, dass Sie, Herr Murau, gemeinsam mit dem Kollegen Tomski die Obduktion Gehrens durchführen. Tod in Kopftieflage als Folge positioneller Asphyxie? Irgendwelche relevanten Vorerkrankungen, die vielleicht akut exazerbiert sind? Finden sich womöglich doch Spuren einer weiteren Gewalteinwirkung an...
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