Alex Michaelides
Die stumme Patientin
Psychothriller erscheint am 02.05.2019 Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp
Über das Buch: Mörderin oder Opfer? Alicia Berenson wird Sie überraschen .
Blutüberströmt hat man Alicia Berenson neben ihrem geliebten Ehemann gefunden - dem sie fünf Mal in den Kopf geschossen hat. Seit sieben Jahren sitzt die Malerin nun in einer geschlossenen Anstalt. Und schweigt. Kein Wort hat sie seit der Nacht des Mordes verloren, lediglich ein Bild gemalt: Es zeigt sie selbst als Alkestis, die in der griechischen Mythologie ihr Leben gibt, um ihren Mann vor dem Tod zu bewahren. Fasziniert von ihrem Fall, setzt der forensische Psychiater Theo Faber alles daran, Alicia zum Sprechen zu bringen. Doch will er wirklich nur herausfinden, was in jener Nacht geschehen ist?
Prolog Alicia Berensons Tagebuch 14. Juli
An diesem Morgen stand ich um sechs Uhr auf und machte einen Spaziergang.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, doch ich konnte schon spüren, wie sie auf meiner Haut kribbelte und von Sekunde zu Sekunde heißer wurde. Als ich wieder nach Hause kam, brannte sie auf mich herab - eine weiß glühende Scheibe vor einem kobaltblauen Himmel. Jeder neue Tag kommt mir heißer vor als der letzte. Ich habe gar nicht das Gefühl, in England zu sein, wirklich nicht. Eher als sei ich in einem fremden Land - in Griechenland oder sonst wo. Die Hitze geht einher mit rotgesichtigen, halb nackten Gestalten, die auf Bänken oder auf Decken im Gras liegen wie an einem Strand oder auf einem Schlachtfeld.
Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal nach Regen sehnen würde, aber die Hitzewelle hält nun schon die vierte Woche an, was mir vorkommt wie eine Ausdauerprüfung. Ich bin zermürbt, angeschlagen, völlig fertig von der Hitze. Die Wahrheit ist, dass wir dafür nicht gerüstet sind, nicht in diesem Land - Gabriel und ich haben zu Hause keine Klimaanlage, aber wer hat das schon? Ohne Klimaanlage jedoch ist es unmöglich zu schlafen. Nachts werfen wir die Bettdecken ab und liegen schlaflos in der Dunkelheit, nackt, schweißgebadet. Wir lassen die Fenster offen, aber es geht kein Lüftchen. Nichts als heiße, abgestandene Luft.
Gestern habe ich einen elektrischen Ventilator gekauft und ihn auf die Truhe am Fußende des Betts gestellt. Gabriel fing sofort an, sich zu beschweren.
»Der macht zu viel Lärm, so können wir niemals schlafen.«
»Wir können ohnehin nicht schlafen«, erwiderte ich. »Zumindest liegen wir hier nicht länger in einer Sauna.«
Gabriel grummelte, aber am Ende war er eher eingeschlafen als ich. Ich lag da und lauschte auf das Geräusch des Ventilators: Ich mag das leise Surren, das er von sich gibt. Ich kann meine Augen schließen, mich darauf einstimmen und abtauchen.
Ich habe angefangen, in einem klimatisierten Café an der Hauptstraße vor der Hitze Zuflucht zu suchen - im Café de l'Artista. Drinnen ist es eiskalt, als klettere man in einen Kühlschrank. Am Fenster steht ein Tisch, an dem ich gern sitze und Eiskaffee trinke. Manchmal lese ich oder zeichne oder mache mir Notizen. Meist aber lasse ich meine Gedanken schweifen und genieße die Kühle. Das hübsche Mädchen, das hinter dem Tresen steht, wirkt gelangweilt, starrt auf ihr Handy, wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr und seufzt in regelmäßigen Abständen wie eine ungeduldige Madonna. Gestern Nachmittag erschienen mir ihre Seufzer besonders ausgedehnt - und ich stellte fest, dass sie darauf wartete, dass ich ging, damit sie zusperren konnte.
Genau dort sitze ich jetzt, während ich das hier schreibe.
Was immer »das« sein mag.
Es kommt mir leicht prätentiös vor, es ein Tagebuch zu nennen. Schließlich ist es nicht so, als hätte ich etwas zu sagen. Anne Frank hat Tagebuch geschrieben, Samuel Pepys ebenfalls - aber doch nicht jemand wie ich. Es als »Protokoll« zu bezeichnen, klingt mir irgendwie zu akademisch. Das wiederum verleiht mir das Gefühl, ich sollte jeden Tag hineinschreiben, und das möchte ich nicht - ich möchte nicht, dass das zur Pflicht wird, denn dann werde ich bestimmt nicht dranbleiben.
Vielleicht sollte ich es gar nicht benennen. Ein unbenanntes Etwas, in das ich gelegentlich hineinschreibe. Das gefällt mir besser. Wenn man etwas benennt, sieht man irgendwie nicht mehr das Ganze. Man konzentriert sich auf das Wort; was im Grunde der kleinste Teil ist, die Spitze eines Eisbergs. Ich nehme an, dass ich nie ganz unbefangen im Umgang mit Worten war - ich denke stets in Bildern und drücke mich selbst mit Bildern aus -, weshalb ich auch niemals angefangen hätte, das hier zu schreiben, wäre es nicht für Gabriel.
Die Wahrheit ist, dass ich mich in letzter Zeit wegen einiger Dinge ein wenig deprimiert fühle - ich dachte zwar, ich würde das gut verbergen, aber Gabriel hat es dennoch bemerkt. Natürlich hat er es bemerkt, er bemerkt alles. Er fragte mich, wie es mit dem Malen laufe - ich sagte, es laufe nicht gut. Er brachte mir ein Glas Wein, und ich setzte mich an den Küchentisch, während er kochte.
»Erzähl mir davon«, forderte er mich auf.
»Da gibt es nichts zu erzählen. Es ist nur so, dass ich mich manchmal in mir selbst gefangen fühle. Als würde ich durch Schlamm waten.«
»Warum versuchst du nicht, die Dinge aufzuschreiben? Eine Art Protokoll aufzuzeichnen? Das könnte hilfreich sein.«
»Ja, vermutlich hast du recht. Ich werde es versuchen.«
»Sag das nicht, Alicia. Tu's einfach.«
»Das werde ich.«
Er setzte mir weiter zu, aber ich unternahm nichts dagegen. Und dann überreichte er mir ein paar Tage später dieses kleine Buch, in das ich hineinschreiben sollte. Es hat einen schwarzen Lederumschlag und dicke, weiße, leere Blätter. Ich fuhr mit der Hand über die erste Seite, spürte, wie glatt sie war - dann spitzte ich meinen Bleistift und legte los. Und natürlich hatte er recht. Ich fühle mich bereits besser - dies niederzuschreiben, ist eine Art Erleichterung für mich, ein Ventil, eine Möglichkeit, mich auszudrücken. Ein bisschen wie eine Therapie, nehme ich an. Gabriel hat das zwar nicht ausgesprochen, aber ich gehe davon aus, dass er sich Sorgen um mich macht. Der Grund, warum ich seinen Rat befolgt und eingewilligt habe, in dieses Buch zu schreiben, war der, dass ich ihm versichern - beweisen - wollte, dass alles in Ordnung mit mir ist.
Ist seine Sorge berechtigt? Wer weiß? Vielleicht. Ich habe mich ziemlich abgeschottet. Aber bin ich einsam? Ich bin ein Einzelgänger, und ich hätte gern mehr Freunde, ja - aber ich vermisse nicht diese unter Drogeneinfluss stehenden Partygänger, die ich in meinen Zwanzigern für meine Freunde hielt. Ich sah sie immer nur nachts - sie verschwanden bei Anbruch der Morgendämmerung wie Vampire, die das Licht meiden. Als ich Gabriel kennenlernte, lösten sie sich in nichts auf, und ich bemerkte es nicht einmal. Ich brauchte sie nicht mehr; ich brauchte niemanden mehr, jetzt, da ich ihn hatte. Er ist meine ganze Welt - ist meine ganze Welt gewesen von dem Tag an, an dem wir einander zum ersten Mal begegneten. Ich denke an die kleinen Schwächen, die die Reise unserer Liebe geprägt haben - daran, wie unordentlich er zum Beispiel ist, wie er seine Klamotten und Handtücher im Schlafzimmer und im Bad verstreut - und wie mich das bis aufs Blut reizte, wie wir deswegen stritten . bis etwas in mir nachgab, Entrüstung in Resignation überging, dann in Amüsement und schließlich in Hingabe. Wenn ich seine Kleidung jetzt auf dem Boden liegen sehe, lächle ich und spüre eine solche Liebe in mir aufwallen, dass ich meine, ich müsste platzen. Natürlich nicht immer; manchmal würde ich ihn am liebsten umbringen.
Gabriel ist zweifelsohne die Liebe meines Lebens. Ich werde ihn bis zum Ende meiner Tage lieben. Ich werde ihn lieben, ganz gleich, was er tut oder was geschieht - ganz gleich, wie sehr er mich aus der Fassung bringt - ganz gleich, wie unordentlich oder chaotisch er ist - wie gedankenlos, wie selbstsüchtig -, ich werde ihn so nehmen, wie er ist, bis dass der Tod uns scheidet. Ich liebe ihn so maßlos, mit Haut und Haar, dass mich meine Liebe mitunter zu überwältigen droht. Manchmal denke ich .
Nein. Das werde ich nicht schreiben. Das hier wird eine freudige Aufzeichnung von Ideen und Bildern sein, die mich künstlerisch inspirieren, von Dingen, die mir kreativen Input geben - ich werde nur positive, glückliche, normale Gedanken festhalten.
Verrückte Gedanken sind nicht erlaubt.
Kapitel 1 Alicia Berenson war dreiunddreißig Jahre alt, als sie ihren Ehemann umbrachte.
Sie waren seit sieben Jahren verheiratet. Beide waren Künstler - Alicia war Malerin, Gabriel ein bekannter Modefotograf. Er hatte einen unverwechselbaren Stil, fotografierte halb verhungerte, halb nackte Frauen aus merkwürdigen, unvorteilhaften Blickwinkeln. Seit seinem Tod war der Preis für seine Aufnahmen ins Astronomische geschossen. Ich finde sein Zeug ziemlich glatt und seicht, um ehrlich zu sein. Es hat nicht die intuitive Qualität von Alicias besten Werken. Natürlich weiß ich nicht genügend über Kunst, um vorherzusagen, ob Alicia Berenson vor dem Wandel der Zeit als Malerin besteht. Ihr Talent wird stets überschattet werden von ihrer traurigen Berühmtheit, deshalb ist es schwer, objektiv zu sein. Außerdem könnte...