Schweitzer Fachinformationen
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In Borneo, an einem Ort, der beispielhaft ist für eine globalisierte Welt, offenbart sich, dass aus vielfältigen und widersprüchlichen sozialen Interaktionen, die unsere heutigen Lebensrealitäten ausmachen, ebenso zukunftsträchtige wie monströse Kulturformen entstehen können.
Als ich 2022 nach fast zwei Jahrzehnten wieder in die Meratus-Berge wanderte, erwartete ich das Schlimmste. Ich hatte Fotos von Ölpalmenplantagen gesehen, die sich so weit das Auge reicht erstreckten. Ich wusste vom Vordringen des Kohlebergbaus, der ganze Dörfer verschluckt hatte. Auch als ich in Südkalimantan auf der alten holländischen Straße zu den weiter flussaufwärts gelegenen Städten fuhr, zeigte sich das gleiche Bild, bloß noch schlimmer. Kohlenstaub bedeckte die alten Häuser, nicht aber die neu errichteten glitzernden Villen der Kohlebosse dazwischen. Mein Bruder, mein Neffe bei den Meratus Dayak und ich übernachteten in der Grenzstadt am Ende der Straße, die einst ein Umsiedlerdorf war, jetzt aber noch schmutziger und krimineller wirkte, als ich sie je erlebt hatte. Ich erwartete nichts Gutes.
Am nächsten Tag brauchte ich sechzehn Stunden, um zum Dorf zu wandern. Die Erde war glitschig vom Regen und die Hänge überaus steil. Ich fiel gleich in den ersten Bach, den ich überquerte, woraufhin mir meine Meratus-Freunde den Rucksack abnahmen. Es war Nacht, als ich an dem Ort ankam, an dem ich die meiste Zeit meiner Feldforschung verbracht hatte, nicht nur für Friktionen, sondern auch für In the Realm of the Diamond Queen. Wegen einer Hochzeit drängten sich die Leute in dem Gemeinde-Balai; sie warteten auf meinen Meratus-Bruder, der während meiner Abwesenheit ein Dorfältester geworden war und die Hochzeitszeremonie leiten sollte. Aber ich war erschöpft und entschuldigte mich bald, um schlafen zu gehen.
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie überrascht ich am nächsten Morgen von der Schönheit und Gelassenheit des Dorfes war. Es war nicht mehr der Schauplatz meiner früheren Feldarbeit. Wie von den Regierungsvorgaben gefordert, hatten sich die Menschen an einem festen Ort zusammengefunden und Häuser gebaut, die durchaus zivilisatorischen Anforderungen genügten. Und doch handelte es sich, wie ich schon fast geahnt hatte, nur um Vorzeigehäuser; wie schon früher hielten sich die Leute die meiste Zeit auf den verstreut liegenden Brandrodungsflächen auf. Und es gab immer noch Wald! Die Geräusche des Waldlebens umgaben uns, nicht nur der ständig wechselnde Chor der Zikaden, sondern auch die Rufe der Gibbons in der Morgendämmerung, die Flügelschläge der Nashornvögel, die abendlichen Gesänge der Tausendfüßer und vieles mehr. Es gab noch immer das Essen! An einem Tag aßen wir Aal, am nächsten Hirsch; an einem Tag sammelten wir wilde Gurken, am nächsten Fackel-Ingwer. Noch immer herrschte ein Fest der Vielfalt zwischen dem Wilden und dem Angebauten.
Was war passiert? Es stellte sich heraus, dass mein Meratus-Bruder eine Schlüsselrolle bei der Blockade der Holzfällerstraße gespielt hatte, die in diesen Teil des Waldes eindringen und ihn zerstören sollte. Als ich Friktionen schrieb, waren die Meratus-Berge von Holzunternehmen bedroht, die mit dem Bau von Straßen vorrückten. Die Wälder im Tiefland waren nahezu erschöpft, und aus Sicht der Unternehmen waren die Berge das nächstbeste Terrain für die Abholzung. Die Straßen waren schlecht gebaut, und nach den achtzehn Monaten, die für den Abtransport der Stämme erforderlich waren, brachen die Brücken ein. Doch dann übernahm die Regierung das Kommando und baute die Holzfällerstraßen zu Transportwegen um. Die Siedler strömten ein, die natürlichen Ressourcen strömten heraus. Überall, wo die Straßen hinkamen, lösten sich die Möglichkeiten der Meratus, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, in Luft auf. Der Wald verschwand und hinterließ weite Flächen mit Problemunkräutern wie Imperata-cylindrica-Gräsern und Decalobanthus-peltatus-Reben. Wanderfeldbau wurde unmöglich. Die Meratus konnten sich nur der Flut von Siedlern anschließen, die versuchten, weitere Ressourcen zu finden, um sie zu veräußern. Goldschürfer gruben sich mit hydraulischen Hochdruckschläuchen durch den Boden. Die Erosion erreichte ihren Höhepunkt. Sand wurde abgebaut und aus den verbliebenen Wasserläufen verfrachtet, die nun nicht mehr als Wassereinzugsgebiete taugten. Plantagen- und Bergbauunternehmen übernahmen die Kontrolle. Selbst die Meratus, die blieben, wurden enteignet.
In diesem einen Teil des Waldes aber, in dem mein Bruder zu einem wirksamen Fürsprecher geworden war, fand keine Enteignung statt. Er ist ein scharfsinniger Kommentator und ein charismatischer Redner, der imstande ist, ein Publikum zu bewegen. Überdies erhielt er Unterstützung. In Friktionen wird diese Geschichte teilweise erzählt. Die Wende zum einundzwanzigsten Jahrhundert war eine Zeit, in der echte Veränderungen möglich schienen. Die autoritäre Regierung der Neuen Ordnung wurde 1998 abgesetzt, und einige Jahre lang schien die Reformation die alten Hierarchien zu erschüttern. Regionale Unabhängigkeitskämpfe, von Osttimor über Aceh bis Papua, brachten die Selbstgefälligkeit der Zentralbehörden ins Wanken. Umweltbewegungen blühten auf und verbündeten sich mit den neu entstehenden Mobilisierungen für die Rechte indigener Völker. All diese Bewegungen waren um die Jahrhundertwende in Südkalimantan aktiv; mein Bruder hatte Verbündete. Als er also auf einer regionalen Versammlung der Allianz indigener Völker für das Archipel, AMAN, sprach, entfaltete seine Rede eine gewisse Wirkung. Er fand Gehör im Radio und sogar im Büro des Gouverneurs. Die Pläne für eine Straße, die das Meratus-Gebirge durchschneiden sollte, wurden gestrichen.
Natürlich haben sich die Dinge seither geändert. Viele andere Straßen wurden gebaut, die sich kreuz und quer durch das Gebirge ziehen. In zahlreichen Meratus-Gebieten ist vom dörflichen Leben und seiner Ökonomie kaum noch etwas übrig. Alles ist den Plantagen, Minen und den Verschmutzungen durch die kleinunternehmerische Ressourcenextraktion untergeordnet. Selbst dort, wo die Straßen nur breit genug für Motorräder sind, hat die Ressourcenausbeutung das Land zerstört. Die Motorräder ziehen eine Bohle nach der anderen aus dem Wald, bis nichts mehr übrig ist. Im Dorf meines Bruders möchte eine neue Generation von Dorfvorstehern eine Straße bauen lassen, damit man bequemer in die Stadt fahren kann. Vielleicht wird die friedliche Szenerie, die ich im Jahr 2022 erlebt habe, nicht lange andauern. Dies ist jedoch umso mehr ein Grund, sie wertzuschätzen, solange sie anhält. Zerstörung ist nicht unvermeidlich.
Überraschenderweise hat es eine Wiederbelebung des adat, das heißt des traditionellen Rechts und Brauchtums, gegeben. Anstatt sich dem Christentum oder dem Islam zuzuwenden, wie ich es angesichts der nationalen Gesetzgebung und Politik einst für ausgemacht hielt, erlernten junge Männer den Schamanismus, um dessen Riten wiederzubeleben. Das traditionelle Recht wurde kodifiziert und für die Beilegung von Streitigkeiten disputiert. Der Wanderfeldbau mit seiner Vielfalt an Feldfrüchten und seinen vor Nahrung strotzenden Übergängen zwischen Feld und Wald geht weiter wie bisher. Der in letzter Zeit so populäre Begriff »Food Forest« scheint hier so passend wie überall sonst. Um einer neuen Generation die Fähigkeiten und die Sichtweisen der Meratus Dayak zu vermitteln, hatten mein Bruder und mein Neffe gerade eine adat-Schule gegründet.
Irgendwie hatte meine Forschung, ohne dass ich es wusste, eine kleine Rolle bei der Interessensvertretung der Gemeinschaft gespielt. Die vielen Stunden, die mein Bruder und ich damit verbrachten, über Kultur und Politik, das Schicksal des Waldes und die Möglichkeiten des Lebensunterhalts zu sprechen, haben - im Kontext der regionalen sozialen Bewegungen - etwas bewirkt. Inzwischen ist Friktionen ins Indonesische übersetzt worden. Als ich das Projekt 2005 beendet hatte, fühlte ich mich ziemlich entmutigt. Die Welt ging sozusagen den Bach runter. Jetzt spürte ich plötzlich einen Hoffnungsschimmer und das dringende Bedürfnis, wieder Kontakt zu den Meratus-Verwandten aufzunehmen, die ich zur Zeit meiner Feldforschungen kennengelernt hatte. Die Welt der Meratus schien mir wieder lebendig geworden zu sein . und nach vielen Jahren, in denen ich wiederholt gebeten worden war, ein neues Vorwort für Friktionen zu schreiben, fühlte ich mich endlich imstande dazu.
Friktionen: das produktive Aneinanderreiben verschiedener historischer Trajektorien oder Praktiken. Produktiv bedeutet hier, dass etwas Neues entsteht, ob positiv oder negativ. Es ist keine Form des Lobs. Friktionen sind ebenso nützlich für die Betrachtung großer Verbrechen wie unverhoffter Fluchten. Außerdem bedeuten sie in diesem Buch nicht »Konflikt«. Friktion ist das, was bei der Arbeit über Unterschiede hinweg auftritt; Kollaboration ist mit...
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