Schweitzer Fachinformationen
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Das Zimmer, drei mal vier Meter nach Augenmaß, sehr flüchtig gestrichen und mit zwei schmalen, nackten Stahlbetten, einem Kleiderschrank und einem Schreibtisch belegt, kommt mir auf Anhieb einladend vor. Jahre später werde ich über die Schwelle einer Dreizimmerwohnung und Jahrzehnte später über die eines zweistöckigen Einfamilienhauses als meine neue Wohnstätte treten. Ich weiß nicht, ob sie mehr Freude in mir auslösten als dieses Zimmer. Genauso werde ich, auf jeder neuen, vermeintlich höheren Stufe des Wohlstandes gelangt, nicht so recht wissen, ob ich das Glück der Zweisamkeit, ja, des Daseins noch intensiver erspüre, als ich es in dieser ersten Wohnstätte recht bald tun werde - merkwürdige Relativität der Dinge!
In jeder Lücke zwischen den dicht aneinandergereihten Unterrichtsstunden eines dahin und dorthin hastenden, überbeschäftigten Lehrerneulings - oder vielleicht: überambitionierten Neorevoluzzers von Hirn und Herz des träge-bequemen Mongolentums - eile ich zu einem Warengeschäft in erreichbarer Nähe und schaffe mir dieses und jenes an. So bin ich tagtäglich dabei, mir einen Haushalt, die Lebensgrundlage meiner künftigen Familie, aufzubauen. Da treffen auch die schweren Kisten und Kartons endlich ein, die ich vor Wochen zur Eisenbahn gebracht habe. Ich werkle und bastle Nacht für Nacht in meinem rappelvollen Zimmerchen und bringe schließlich eine recht gemütliche Wohnstätte zustande, die bereit ist, jederzeit beseelt zu werden durch eines der anmutigen weiblichen Wesen dieser Erde, um den auf es wartenden Platz einzunehmen und auch die ihm zufallenden Rechte und Pflichten mit mir zu teilen.
Eines Abends verlasse ich zu später Stunde das Hauptgebäude der Uni, mich endlich zu meiner Wohn- und Ruhestätte zu begeben. Da erblicke ich an der Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Seite der schwach beleuchteten Straße eine weibliche Gestalt, die zu mir herüberäugt, jedoch, sowie sich unsere Blicke treffen, schnell wegschaut. Das kommt mir irgendwie merkwürdig vor, sodass ich näher an den Straßenrand herangehe und genauer hinüberblicke. Eine kleine Weile später richtet die Gestalt ihren Blick noch einmal nach mir, und in dem Augenblick, wie sich unsere Blicke erneut treffen, merke ich, dass sie zusammenfährt. Im Bruchteil einer Sekunde wendet sie ihren Blick erneut ab und tritt hastig aus dem Licht. Irgendetwas kommt mir bekannt vor, oder es greift etwas Unbewusstes ins Spiel ein - rasch kreuze ich die Straße und eile auf den dunklen Umriss im Schatten zu. Da rennt sie vor mir weg. Ich beschleunige ebenso meinen Schritt, dem hellen Getrappel ihrer Absätze hinterher. Die nächste Lichtquelle rückt näher. So vermag ich ihre Gestalt genauer auszumachen. Dann rufe ich nicht allzu laut, aber gut hörbar: »Hassaa! Bleib doch endlich stehen!«
Sie bleibt abrupt stehen. Schaut zur Erde, anstatt sich zu mir zu drehen.
Ich frage, ob sie meinen Brief erhalten habe. Stumm schüttelt sie den Kopf.
Frage wieder, ob sie wenigstens den Brief vom Juli erhalten habe. Wieder dieselbe Geste. Ob sie in den letzten Monaten überhaupt zur Post gegangen sei? Abermaliges Kopfschütteln, ihr Gesicht immer noch stur zur Erde gerichtet.
Ich bin erschüttert. Doch muss ich weiter fragen: Ob sie beschlossen habe, mit mir Schluss zu machen? Sie zögert, weder ein Zeichen noch Bewegung.
Mit meiner Geduld am Ende, rufe ich: »Ist es so? Oder ist es nicht so? Rede doch endlich!«
Nächtliche Passanten nähern sich uns von hinten. Ich fasse sie behutsam am Arm und spüre durch ihren Mantel, dass sie heftig zittert. Ich führe sie mit sanftem Druck vom Bürgersteig. So treten wir, wie eingehakt, aus dem Licht in den Schatten naher Bäume.
Weitere Fragen, die mir in der Seele brennen. »Hast du schon einen Mann?«
Wieder schüttelt sie den Kopf, immer noch stumm und zur Erde schauend.
»Oder hast du schon jemandem dein Wort gegeben?«
Abermals stummes Kopfschütteln.
Ach, da fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich drehe sie schwungvoll zu mir und umarme sie fest. Doch nun spüre ich heftigen Widerstand, sie versucht, sich aus meiner Umarmung zu lösen. Dabei lässt sie erstmalig einen menschlichen Laut aus ihrer Kehle hören, in einem flehenden und klagenden Ton: »Nein, nein. Fass mich nicht an, bitte!«
Doch ich denke nicht daran, ihrem Jammern nachzugeben. Presse sie noch heftiger an meine Brust. Und fange an, ihr Gesicht und ihren Hals, wohin ich mit meinen Lippen nur gelangen kann, mit Küssen zu bedecken.
Sie indes kämpft weiter. Sie ist stärker als gedacht und entkommt schließlich meiner gewaltsamen Liebesbezeugung. Sodass ich mir wie ein Verlierer, ja wie ein plumper Gewalttäter vorkomme. Nun bin ich nicht nur wegen meines vergeblichen Gefühlsausbruchs beleidigt, sondern auch beschämt wegen meiner Unfähigkeit. Aber ich darf den Faden, den ich soeben um die Finger gehabt, auf keinen Fall reißen lassen und mich wie ein gedemütigter Hund mit eingezogenem Schwanz aus dem Staub machen. Denn ich spüre deutlich, es ist der Zipfel von den Zügeln meines Lebens gewesen, den ich in Händen gehabt.
So stammle ich mit stotternder Zunge: »Einen Mann hast du nicht . Einen Geliebten auch nicht . Was hindert dich dann, neben mir den Platz einzunehmen, den ich dir einmal versprochen habe? Und auch den Raum, den ich in den letzten Tagen und Nächten gerade errichtet habe? Sag es doch . Um des Ewigen Blauen Himmels willen!« Ich bin nah an den Tränen.
Sie flüstert mit ebenso zittriger Stimme: »Frage mich bitte nicht danach .«
Ich aber stammle weiter: »Oder . Hast du mich von Anfang an nicht gemocht? . Warum hast du es mir dann nicht gleich ins Gesicht gesagt? . Oder mir nicht geschrieben? . Warum dann all die Briefe, die mich denken ließen, du wartest auf mich?« Da fange ich an zu weinen.
Sie bringt, mit zittriger Stimme, mühselig aus sich heraus: »Nein, nein . Ich war dir so dankbar, dass du mir damals das gesagt hast. Ich habe auf dich gewartet . Jahrelang . Dann aber .«
»Was war da? Sag es mir bitte schnell!«
»Nein . Frag mich bitte nicht danach. Du weinst . Ich beneide dich um deine Tränen. Ich habe schon alle meine Tränen ausgeweint, mich leer und trocken geweint . Ich kann dir den Grund nicht sagen. Ohrfeige mich lieber!«
Ich bin verwirrt. Versuche zu überlegen. Was tun?
Dann hole ich, schmerzenden Herzens, aber im brennenden Willen, den Grund zu erfahren, den sie mir nicht nennen will, mit der rechten Hand aus und versetze ihr auf die linke Backe ihres hell schimmernden Gesichts eine mittelstarke Ohrfeige. Fahre sogleich zusammen ob meiner Untat: Sie strauchelt, wie vom Sturmwind getroffen, und plumpst auf den nackten, harten Erdboden, o Schreck! Ich zerre sie sofort in die Höhe und versuche, sie auf den Beinen zu halten. »O verzeih, verzeih - ich wollte nicht so stark hauen.«
Ich höre ein leises Wimmern, ihre flache Hand klebt auf der getroffenen Stelle. Ich lege meine Arme erneut um ihre Schultern, zunächst vorsichtig, darauf immer beherzter und schließlich schon fest und sicher. Dies, weil ich keinen Widerstand mehr spüre. Im Gegenteil, sie schmiegt ihr Gesicht an meine Brust.
Sie fängt an zu weinen, zunächst verhalten, dann immer heftiger, je beherzter ich sie an mich drücke. Ich halte die Augen geschlossen, ziehe ihren weiblichen, fast milchig zarten Duft gierig in mich ein und glaube sogar, in der Kühle der Spätherbstnacht die Hitze ihres so geschmeidigen, so jungen Körpers durch die dicken Polster unserer Bekleidung zu spüren. Selig genieße ich diesen Zustand, das Warten ist mir recht. Doch irgendwann endet das Schluchzen, sie befreit sich sanft aus meiner Umarmung. Sie tritt einen Schritt von mir weg und holt hörbar tief Atem, um mir zu sagen: »Der Grund, weshalb du mich nicht anfassen solltest, ist: Ich habe ein Kind bekommen!«
Mir ist, als wenn mich ein Schlag auf das Schädeldach träfe, mir vergehen Hören und Sehen. Dann höre und sehe ich doch etwas: Ein leises, in die Länge gezogenes Wimmern, das von mir ausgegangen sein muss, und ein tiefschwarzer Schatten, der vor meinen Augen niedergeht, der ringsum den letzten Nachtschimmer verschluckt. Da entsteht ein Raum, in dem die Zeit stehen bleibt.
Dann findet ein Wortwechsel statt, bei dem die Stimmen wie Misstöne aus geborstenen Holzinstrumenten wirken.
»Wann ist das gewesen?«
»Vor einem halben Jahr.«
»Und der Vater von dem Kind will euch beide nicht mehr haben?«
»Er ist gar nicht dazu gekommen, zur Kenntnis zu nehmen, dass ein Kind kommen würde. Er ist tödlich verunglückt.«
Durch mein Hirn zuckt es: Eine wahrhafte Unglückskreatur - schwängert zuerst ein armes Waisenkind, kratzt dann selber ab .
Später begleite ich sie, gegen ihren leisen Widerstand, nach Hause. In groben Zügen erfahre ich das Wesentliche über ihr derzeitiges Leben: Sie arbeitet weiterhin als Köchin, nun aber nicht mehr bei der Familie jenes Bonzen, sondern im Gästehaus der Regierung. Sie wohnt bei einem kinderlosen Ehepaar, dies seit einem guten Jahr als deren Wahltochter. Wir stolpern über manche Erdbeulen und Schlaglöcher durch enge, dunkle Gassen eines der innerstädtischen Jurtenviertel. Dann höre ich, sie sei angekommen, und ich solle...
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