Schweitzer Fachinformationen
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Vorwort zu dieser Ausgabe
Während ich dies schreibe, befinden sich meine Frau, meine beiden Söhne (sieben und neun Jahre alt) sowie unser Jack Russell Terrier in einer Zeltstadt für Geflüchtete außerhalb von Przemysl an der polnisch-ukrainischen Grenze. Relativ betrachtet, haben sie Glück gehabt.
Das Kind eines engen Freundes dagegen liegt in Dnipro auf der Intensivstation. Zehn Tage zuvor war die gesamte Familie im Keller eines Gebäudes in Mariupol eingeschlossen worden, das nach einem russischen Bombenangriff eingestürzt war. Dieser Freund schrieb mir, sein Sohn sei gleich in Mariupol und dann noch einmal nach der Evakuierung in Dnipro operiert worden. Nun sei »das Schlimmste überstanden«. Der Zustand des Teenagers sei »kritisch, aber stabil«. Ich habe Angst davor nachzufragen, was das genau bedeutet.
Eine andere Freundin hat neulich versucht, von Irpin, einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt, nach Kyjiw zu gelangen, nachdem russische Granaten ihr Haus erwischt hatten. Eine umgestürzte Kiefer blockierte die Straße, sodass sie mit dem Auto stecken blieb. Da Google Maps nicht alle befahrbaren Waldwege anzeigt, wusste sie nicht, was tun. Also bat sie über einen Facebook-Post um Rat. Einige ihrer Freunde empfahlen ihr, die zehn, fünfzehn Kilometer bis Kyjiw zu laufen, zu Fuß durch die Wälder. Andere warnten sie vor russischen Minen und rieten ihr stattdessen, auf demselben Weg, den sie gekommen war, nach Hause zurückzukehren und auf eine organisierte Evakuierung zu hoffen. Seit diesem Post hat sie nichts mehr von sich hören lassen, auch jetzt nicht, während ich dies schreibe.
Der Bruder meiner Mutter war noch zu Sowjetzeiten aus der Ukraine nach Russland gezogen. Als wir ihm nun nach dem Beginn von Putins flächendeckender Invasion der Ukraine schrieben, lautete seine erste Antwort: »Das sind alles Fake News.« Auf die Nachricht seiner eigenen Schwester, dass ich - ihr Sohn, sein Neffe - in einem Luftschutzkeller ausharrte, erklärte mein Onkel: »Du hast deine Wahrheit, und wir haben unsere.« Das also war der maximale Kompromiss, zu dem er fähig war. Ich begreife immer noch nicht, wie jemand der Regierungspropaganda mehr Glauben schenken kann als Berichten der eigenen Verwandten aus erster Hand. In jedem Fall lässt es die Menschheit in einem sehr düsteren Licht erscheinen.
Den Entwurf dieses Textes tippe ich in mein Handy. Und zwar in meiner Freizeit nach einem Tag Dienst bei den Ukrainischen Streitkräften, zu denen ich mich vor einigen Wochen freiwillig gemeldet habe. Zu meinen Aufgaben im Rahmen des Armeedienstes gehört es, Informationen über drohenden Raketenbeschuss in der Befehlskette weiterzuleiten, sobald die Luftabwehr uns darüber in Kenntnis setzt. Gestern trafen einige Geschosse ihr Ziel. Heute gab es wieder Bedrohungen, aber alles verlief bisher »ruhig«, das heißt ohne Treffer. An den ständigen Luftschutzalarm haben wir uns im Laufe des letzten Monats bereits gewöhnt.
Während ich diesen Text fortschreibe - Absatz für Absatz, in den kurzen Zeitfenstern, die mir vor und nach den Schichten voller Armeepflichten bleiben -, kommen immer mehr schreckliche Ereignisse hinzu. Immer häufiger trifft es Menschen, die mir nahestehen. Gerade jetzt, da die Wunden noch frisch sind, würde ich mich aber schämen, dieses Leid auszuschlachten, nur um einen Text daraus machen zu können. Die Erfahrung der letzten Wochen hat mich gelehrt, dass die menschliche Fähigkeit zur Empathie begrenzt ist: Man schildert den erlebten Horror, die Qualen, und bemerkt, wie sich der Gesprächspartner aus purem Selbsterhaltungstrieb heraus weigert, die Schilderung in vollem Umfang aufzunehmen. Vor über einem Jahrhundert schrieb Mychajlo Kozjubynskyj, der wahrscheinlich stärkste Prosaautor in der ukrainischen Literatur, eine Kurzgeschichte. Darin liest der Erzähler in der Zeitung eine Meldung über Bauern, die während eines Streiks 1905 getötet wurden, während er gleichzeitig eine süße, saftige Pflaume mampft und sich dann genüsslich die Finger ableckt.
Am 24. Februar 2022 wachten meine Frau und ich noch im Dunkeln von den ersten Explosionen auf und sagten: »Ze wono« - »Das ist es« oder »Es hat angefangen«. Innerhalb von fünfzehn Minuten waren wir abfahrbereit, denn wir hatten längst eine Notfalltasche gepackt, obwohl wir den Warnungen nicht wirklich geglaubt hatten. Nach dem Motto: Ach, hör doch auf, es kann gar nicht sein, dass so etwas im Europa des einundzwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich passiert!
Ein Jahr zuvor hatten wir endlich unsere Wohnung abbezahlt. Jetzt wissen wir nicht, ob wir jemals zurückkehren werden. Und das, obwohl unser Gebäude, während ich dies schreibe, noch nicht durch russische Bomben beschädigt worden ist. Aber wie sich herausgestellt hat, gibt es sowieso weitaus Wichtigeres. Da wir kein Auto besitzen, brachten Freunde uns aus Kyjiw hinaus (und retteten uns damit höchstwahrscheinlich das Leben). Wir hatten nichts als einen Rucksack für uns vier dabei. Darin: Unterlagen, Bargeld, Bankkarten und Energieriegel aller Art für drei Tage. Sämtlichen übrigen Besitz haben wir verloren. Der einzige Verlust aber, den ich wirklich bedauere, ist der Science-Fiction-Roman, den mein neunjähriger Sohn handschriftlich in einem Notizbuch verfasst hat. Wir konnten dieses wörtlich zu nehmende manuscriptum nicht im Voraus einpacken, weil mein Sohn der Geschichte jeden Tag ein paar Seiten hinzufügte. Ich dachte immer wieder an dieses Notizbuch, ich dachte daran, aber in der Panik des Augenblicks vergaß ich es am Ende doch. Alle anderen materiellen Gegenstände spielen keine Rolle mehr, einzig wegen des Notizbuchs habe ich Tränen vergossen. Auch jetzt weine ich manchmal, aber der Grund ist nichts Materielles, sondern Ernsteres - wie die hier wiedergegebenen Geschichten.
Jede dieser Geschichten hat sich millionenfach abgespielt. Jede ist einzigartig, dennoch ähneln sie einander. Während ich dies schreibe, hat die Hälfte der ukrainischen Kinder ihre Heimat verlassen. Vier Millionen Menschen sind ins Ausland geflohen. Hunderttausende Männer und Frauen haben sich den Ukrainischen Streitkräften oder der Territorialverteidigung angeschlossen.
Ursprünglich waren wir aus Kyjiw in die Westukraine ausgewichen, ins Haus meiner Eltern. An dem Tag, an dem ich dieses verließ, um der Armee beizutreten, schenkten mir meine Kinder eine billige Magic Snake von Rubik. Natürlich brach die Verbindungsstruktur, die die Prismen zusammenhielt, noch bevor ich überhaupt in den Zug stieg. Inzwischen aber haben sich diese kleinen dreieckigen Plastikteile in eine Metapher für unser zertrümmertes Leben verwandelt. Die Spielzeugfragmente zählen plötzlich zu den wertvollsten Dingen, die ich bei mir trage. Meine Frau Oksana hat mir erklärt, dass sie um der Kinder willen versucht, Empfindungen nicht zuzulassen, gefühllos zu werden. Ich hingegen will alles fühlen und bin so glücklich, dass es Oksana, unsere Kinder, unsere Eltern und meinen Bruder gibt. Meine Liebe zu ihnen ist stärker denn je.
In den ersten Tagen des Krieges empfand ich für alle um mich herum große Zuneigung, und ich hatte das Gefühl, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Als ich etwa in eine Bank geschickt wurde, um mir meinen Armeeausweis ausstellen zu lassen, schob man Stühle herbei und brachte hervorragenden, frisch gebrühten Kaffee. An den benachbarten Schaltern standen die Menschen Schlange, um Geld für die Armee zu spenden. Großmütterchen aus der Nachbarschaft brachten schüsselweise frisch gekochtes Essen in die Kasernen. »Esst, sonst wird es schlecht«, forderten sie uns auf. Die Haltung der Führungsriege gegenüber den einfachen Truppen ist nicht mehr dieselbe, die ich aus Friedenszeiten kenne, als ich als junger Mann gedient habe: Statt schwachsinniger Vorschriften herrschen nun Sanftmut und Menschlichkeit vor. »Ruht euch aus, solange ihr könnt«, sagen sie. »Bitte schön, hier hast du eine Decke.«
Es ist ein seltsamer und surrealer Krieg, denn er findet nicht nur in der Realität statt, sondern gleichzeitig auch in der virtuellen Welt. Obwohl die Regierung dazu aufgerufen hat, keine Informationen weiterzugeben, die dem Feind nützen könnten, ist es möglich, dass Smartphones hin und wieder Sicherheitsprobleme verursachen. Aber ich bin davon überzeugt, dass der kumulative Effekt einer stetigen Unterstützung durch geliebte Menschen die Sicherheitslücke mehr als wettmacht. Zum ersten Mal in meinem Leben konsultiere ich sogar einen Psychotherapeuten, wenn auch auf virtuellem Wege.
Durch diesen beständigen Kontakt konnte ich beobachten, wie sich die Gefühle reproduzierten, scheinbar ebenfalls millionenfach. Die anfängliche allumfassende Liebe, die alle füreinander empfanden, wurde bald ersetzt durch ein vielschichtiges Gefühl der Survivor's Guilt. Als ob alle das Gefühl hätten, im Vergleich zu anderen ungerechtfertigtes Glück gehabt zu haben und zu wenig zu leisten.
Danach verbreitete sich eine andere Wahrnehmung: »Hey, hey, hey! Russland hat sich die Zähne ausgebissen, Putins Blitzkrieg ist ins Stocken geraten! Wir dagegen werden zu einer legendären Nation, unsere Geschichte wird zu einem Heldenepos, wir sind die dreihundert Spartaner des Leonidas! Statt >Das ist Sparta!< schreien wir >Das ist Butscha!<.« In diesem Vorort von Kyjiw waren ganze Straßen mit ausgebrannten Panzern der faschistischen russischen Invasionsmacht gefüllt. Faschistisch - so nannten wir sie nun, analog zum sowjetischen Terminus »faschistische deutsche Invasionsmacht« aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der insbesondere die Ukraine überrollt hatte. Ich bin zwei Generationen später...
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