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(1823-?1882)
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Patricio Lafcadio Hearn war von Geburt an hungrig. Das sah ich an der Art, wie er trank. Von dem Moment, da er die Brustwarze zum ersten Mal gefunden hatte, war er nicht mehr gewillt, sie wieder loszulassen, und starrte mich mit offenen Augen warnend an, falls ich ihm die Brust entziehen sollte.
Alle Babys werden mit leerem Magen geboren, aber nicht alle haben einen so bedürftigen Blick.
Seinen älteren Bruder Giorgio, meinen seligen Erstgeborenen, musste ich locken und überlisten. Das Erste, was er in seinen Rosenknospenmund nahm, war mein mit Honig benetzter kleiner Finger, mit dem ich ihn dann geduldig zu meiner Brust lotste, wo sich Honig und Milch vermischten. Das beruhigte ihn, genügte jedoch nicht, um ihn zu behalten. Nicht einmal zwei Monate lang teilte sich Giorgio meine Milch mit Patricio.
Bitte nenn die beiden nicht und . So heißen sie nämlich nicht. Die Sprache ihres Vaters ist nicht meine Sprache.
Noch bevor ich mir gewiss war, dass ich ein zweites Mal gesegnet worden war, hatte ich seine Esslust, die zunehmend stärker wurde. Patricio verlangte nach Kleinigkeiten vom Meer. Wellhornschnecken, die man nicht zu kaufen bekam, weil die Leute auf Santa Maura genau wie diejenigen auf Cerigo, der Insel, auf der ich geboren wurde, nichts kauften, was sie wie Kiesel am Strand selbst sammeln konnten. Morgens ließ ich meinen Erstgeborenen bei der alten Iota, der einzigen Frau in unserer Gasse, die keine Kinder hatte, und beugte mich über den nassen Sand, bis mir schwindelig wurde oder mein Korb voll war. Patricio wollte gekochte Wellhornschnecken, deren Fleischspiralen jeweils herausgelöst werden mussten. Er hatte nichts gegen Olivenöl und Zitronensaft, verbat sich jedoch Essig.
Als es keinen Zweifel mehr gab und mir das Wellhornschneckensammeln zu große Mühe bereitete, wollte Patricio unbedingt Herzmuscheln, die man kaufen konnte, weil sie fern der Küste auf Sandbänken zu finden waren, zu denen die Flut kam wie Gottes Hand.
Bloß wegen Herzmuscheln ums Leben zu kommen ist ein Fluch, der so alt ist wie das Meer. Mögest du vor ihm bewahrt bleiben.
Patricio mochte keinen Knoblauch, genau wie sein Vater. Er wusch mich von allen Nahrungsmitteln rein, die nach Knoblauch schmeckten, selbst wenn es sich um die in seiner Gunst stehenden Herzmuscheln handelte. Ich konnte ihm noch so sehr zuflüstern, dass diese Zehen die Perlen des Landes seien, und sie dicht an meinen dicken Bauch halten, damit er sich an den Geruch gewöhnen konnte, er ließ sich dennoch nicht überzeugen. Er entleerte mich immer wieder, bis ich ganz ausgehungert war. So begrub ich die Hoffnung auf Knoblauch und dämpfte die Herzmuscheln stattdessen mit einem Stückchen Schalotte. Patricio konnte von diesen salzigen Geschöpfen gar nicht genug bekommen. Um satt zu werden, brauchten wir ganze Eimer davon.
Während der letzten Monate, in denen wir eins waren, beschränkte uns Patricio auf Seeigel, deren Eigelbkörper mit Brotstücken ausgeschaufelt wurden. Damit wir genug Seeigel hatten, heuerte die alte Iota jeden Tag vier Jungen an, die bei Ebbe durch die seichten Stellen wateten, wo diese Stachelgestirne das flache Wasser verdunkelten wie die Schatten der darüber hinwegfliegenden Möwen. Tagein, tagaus von dieser Kost gemästet, nahm ich so zu, dass ich nur noch ein paar Schritte ums Bett herum tun konnte, ein Tier, das man an einen Pflock gebunden hatte.
Damals war Charles - der Vater von Giorgio, Patricio und, so Gott wollte, meinem gesegneten Dritten - bereits auf einer anderen Insel, in Gewässern, die so weit weg waren, dass ich die Entfernung zwischen uns nicht begriff. Bevor sein Schiff auslief, hatte Charles mir gesagt, wie viele Seemeilen es genau zwischen den Inseln von Santa Maura und Dominica waren, doch mit einer so langen Zahlenfolge konnte ich genauso wenig anfangen wie mit den Buchstaben des Alphabets.
Wenn ich den Mund aufmache, habe ich die Wahl zwischen zwei Sprachen: dem Venezianischen und dem Neugriechischen. Keine von beiden kann ich auf Papier entziffern. In jungen Jahren wollte ich unbedingt dabei sein, wenn meine älteren Brüder ihren täglichen Unterricht erhielten, doch mein Vater schlug mir meine Bitte ab. Er sagte, wenn ich je sein Haus verließe, dann um das Haus Gottes zu betreten oder dasjenige meines Ehemannes. In beiden Gebäuden gebe es einen Mann, der mir sagen könne, was geschrieben stehe und was wichtig sei.
Als mein Vater mir mein Los verkündete, dachte er nicht an einen Mann namens Charles Bush Hearn von der Insel Irland. Mein Vater hatte keine originellen Gedanken. Er wiederholte, was aus dem Mund anderer Männer kam, vorwiegend Adeliger, die ebenso unbedeutend waren wie er selbst. Dies lehrte er auch meine beiden Brüder. Sie glaubten allesamt, diese Nachäfferei mache sie klug und viel klüger als mich.
Eine Tochter zu sein war noch ein Fluch, der so alt ist wie das Meer, und er drang bei meiner Geburt an mein Ohr.
Als Charles uns in der Stadt Lefkada auf der Insel Santa Maura in der Obhut der alten Iota ließ, war Giorgio schon sechs Monate auf der Welt und Patricio fünf Monate in mir. Dass die alte Iota eigentlich gar nicht alt war, sah ich bei unserer ersten Begegnung. Ich erkannte sie als die Frau wieder, die ein paar Türen weiter in derselben Straße wie ich gewohnt hatte. Wir hatten noch nie ein Wort gewechselt. Um vor Gott die Wahrheit zu sagen, wechselte ich mit keiner Frau unserer Gasse ein Wort, nicht bevor Giorgio, mein Erstgeborener, diese Gasse in Myrtenblätter gehüllt verlassen hatte. Als mein heiliger Junge, mein Schatten von einem Kind, vor der Vollendung seines ersten Lebensjahres dahinschied, wollte ich Gott die Schuld geben und Ihm all die frevelhaften Flüche entgegenschleudern, die meine Brüder gegen Charles und mich ausstießen, hielt mich aber zurück. Ich brauchte Ihn noch für Patricio.
Wegen meiner Sünden wurde Giorgio das Sakrament der heiligen Taufe verweigert. Als er mir geboren ward, wollte die orthodoxe Kirche seine Seele nicht, und als er mir genommen wurde, wollte die orthodoxe Kirche seine Seele nicht. Einen Trauergottesdienst mit Ikonen, Weihrauch und Bienenwachskerzen konnte es für Giorgio nicht geben. Kein dreimal wiederholtes «Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser». Kein «Selig, deren Weg ohne Tadel ist», eine so treffende Beschreibung meines seligen Erstgeborenen. Kein «Mit Den [sic] Heiligen, Christe, lass ruhen, die Seelen Deiner Knechte, da wo kein Schmerz ist, kein Leid, kein Seufzen, sondern Leben ohne Ende».
An jenem Morgen voller Sonnenschein und Regen, als ich Giorgio nicht aus dem Schlaf wecken konnte, brach, was ich getan hatte, mit ganzer Wucht über mich herein und zerschmetterte mich. Ich wollte meine wertlosen Scherben aufs Kopfsteinpflaster werfen und von den Absätzen der Passanten zu Staub zerstampfen lassen, doch für Patricio musste ich sie wieder auflesen. Ich konnte nicht zwei Söhne im Stich lassen. Damals wusste ich noch nicht, dass ein gesegnetes drittes Kind unterwegs war, das, so Gott wollte, wieder ein Sohn sein würde.
Am Grab hielt ich Patricios schlafenden Körper so fest, dass die alte Iota mir die Arme auseinanderziehen musste, damit er nicht erstickte. An diesem Nachmittag atmeten wir zu dritt. Der Bauer, der die kleine Mulde unter seinen Quittenbäumen gegraben hatte und einen unverschämten Preis dafür verlangt hatte, weil er wusste, dass sonst nur noch das Meer infrage kam, weigerte sich, dabei zu sein, so als bliebe Gott seine Gier verborgen, wenn er sich im Haus versteckte. Während das Sonnenlicht auf uns herabfiel, wusste ich in meinem Herzen, dass nicht Gott meinen Sohn abgewiesen hatte, sondern dass es die Menschen gewesen waren. Vielleicht war dieser Gedanke auch eine Sünde. Vielleicht verlängerte ich meine Sündenliste noch, indem ich dreimal «Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher sei uns gnädig» sagte.
Als die alte Iota diese Worte aus meinem Mund dringen hörte, holte sie geräuschvoll Atem. Beide wussten wir, dass sie am Grab in den Mund eines Priesters gehörten. Doch was hätte ich in Anbetracht der Abwesenheit und Stille tun sollen? Giorgio war mein Kind und er war ein Kind Gottes. Ich wusste, dass beides stimmte. An jenem Tag hörte ich auf mein Herz, das eine vor Zorn hämmernde Faust war. Mein Herz öffnete mir den Mund. Auch wenn es nichts nützen sollte, verwendete sich mein Mund für meinen gesegneten Giorgio.
Patricio schlief, in meine Arme geschmiegt....
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