Das Erwachen
Die Kälte kroch durch seine Kleidung. Sie kam von unten, durch den gefrorenen Boden, sickerte in seine Knochen. Er lag wach. Es war nicht die Kälte allein. Es war nie nur die Kälte.
Er lauschte. Die Nacht hatte ihre eigene Sprache. Ein feines Knacken im Unterholz. Ein entferntes Summen. Metallisches Klicken. Er unterschied jedes Geräusch, katalogisierte es in seinem
Kopf. Bekannt. Unbekannt. Gefährlich.
Der Wind strich über den Graben. Er zog die zerlumpte Decke enger um sich. Nutzlos. Sie hielt keine Wärme mehr. Nichts hielt Wärme in diesem gottverlassenen Abschnitt der Front.
Er dachte an die Wärme. Seine Wärme. Wie sie ihn verriet. Jede Nacht. Infrarotsensoren. Die Maschinen konnten sie riechen. Elektronische Nasen, empfindlicher als die eines Wolfes. Sie jagten nach Körperwärme. Nach Leben.
"Schlaf endlich", flüsterte eine Stimme von rechts.
Er antwortete nicht. Der andere verstand es nicht. War zu alt. Zu lange hier. Hatte die neuen Maschinen nicht gesehen.
Er schloss die Augen. Sah den letzten, den sie geholt hatten. Vor drei Nächten. Kein Geräusch. Keine Vorwarnung. Die Maschine war einfach da. Ein lautloses Ding ohne erkennbare Sensoren, ohne verräterisches Leuchten. Nichts, das sie ankündigte. Sie war einfach da, direkt am Posten.
Er öffnete die Augen wieder. Starrte in die Dunkelheit. Das Bild verfolgte ihn. Kein Schrei. Nur das dumpfe Geräusch der Detonation. Dann die Schreie danach. Stundenlang.
"Die Verwundeten sind besser als die Toten", hatte der Leutnant gesagt. "Binden mehr Ressourcen. Vier Mann für einen Verwundeten. Keiner für einen Toten."
Die Maschinen waren darauf programmiert. Sie zielten auf die Beine. Auf den Unterleib. Nicht auf den Kopf. Nicht auf die Brust. Sie sollten nicht töten. Nur verstümmeln.
Er rieb sich die Augen. Sie brannten vom Mangel an Schlaf. Drei Nächte jetzt. Oder vier? Die Tage verschwammen. Nachtwache.
Grabenarbeit. Essensausgabe. Wache. Alles ein endloser Kreis.
Er nickte ein. Sein Kopf fiel nach vorne. Ruckte wieder hoch. Das Gewehr rutschte fast aus seinen tauben Fingern. Er umklammerte den Lauf fester. Der kalte Stahl gab ihm einen Moment Klarheit.
In der Ferne hörte er ein leises Surren. Seine Muskeln spannten sich unwillkürlich an. Seine Hand umfasste das Gewehr so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das Surren wurde lauter. Deutlicher.
"Drohne", murmelte jemand vom Posten aus. Nicht die Jagdmaschinen. Nur eine Aufklärungsdrohne. Schwebte über ihnen.
Suchte nach Wärmesignaturen. Nach Bewegung.
Er rollte sich enger zusammen. Machte sich kleiner. Als könnte er verschwinden. Als könnte er unsichtbar werden für die elektronischen Augen über ihm.
"Die neuen können durch die Erde sehen", hatte der Junge behauptet. Mit seinem blassen Gesicht. "Sehen deine Körperwärme durch einen Meter Erde."
"Schwachsinn", hatte der Ältere geantwortet. Aber er sah, wie er beim nächsten Schichtende seinen Unterstand tiefer grub.
Das Surren verblasste. Die Drohne zog weiter. Für den Moment.
Er dachte an die Maschine, die den anderen geholt hatte. Sie nannten sie Hunde, weil es einfacher war. Etwas Bekanntes für das Unbekannte. Sie liefen nicht auf vier Beinen. Hatten keine Schnauzen. Keine Schwänze. Waren flache, gepanzerte Kästen auf Beinen. Mit Kameras, die man nicht sehen konnte. Mit Sprengstoff.
Mit künstlicher Intelligenz, die Befehle befolgte: Finde den Feind.
Verwunde ihn.
Das Schlimmste an ihnen war ihre Lautlosigkeit.
Ihre Unvorhersehbarkeit. Man hörte sie nicht kommen. Sah sie nicht im Dunkeln. Sie waren einfach plötzlich da. Und dann war es zu spät.
Zwei Nächte später erwischten sie den nächsten. Ein Neuer. Frischer Transfer von der Ostfront. Wusste nichts von den Maschinen. Er rauchte im Dunkeln. Ein winziger glühender Punkt. Genug für die Sensoren. Sie fanden ihn in Sekunden.
Er sah es nicht. Hörte nur die Explosion. Die Schreie. Dann das Funken nach einem Sanitäter. Niemand kam. Nicht in der Nacht.
Nicht wenn die Jagd begann.
Im Morgengrauen trugen sie ihn zurück. Was von ihm übrig war.
Die Beine zertrümmert. Das Gesicht eine Maske aus getrocknetem Blut und Schock.
Er starrte durch die Dunkelheit. Suchte nach Bewegungen. Nach Schatten, die sich anders bewegten als der Wind.
Die Müdigkeit übermannte ihn. Seine Augenlider wurden schwer.
Seine Gedanken verschwammen. Er kämpfte dagegen an. Dann gab er nach.
Ein Knacken. Näher. Real. Er riss die Augen auf. Sein Herz raste.
Sein Atem ging schnell und flach. Seine Hand tastete nach dem Gewehr.
Nichts. Nur der Wind in den kahlen Ästen über ihm.
Er schloss die Augen wieder. Seine Gedanken drifteten zu dem Brief, den er schreiben wollte. Seit Wochen wollte. Die Worte kamen nicht. Was sollte er schreiben? Über den Schlamm? Die Kälte? Die Maschinen, die lautlos im Dunkeln jagten? Über die Verstümmelten, die Schreie? Er würde lügen müssen. Kleine Lügen, um nicht zu beunruhigen.
Um die Wahrheit zu verschleiern. Aber die Lügen kamen ihm nicht mehr leicht über die Lippen. Nicht einmal auf Papier.
Der Schlaf kam und ging in Wellen. Sein Kopf fiel nach vorne. Er schreckte hoch. Fiel wieder in unruhigen Schlummer. Die Zeit dehnte sich. Schrumpfte dann wieder. Minuten wurden zu Stunden.
Oder Sekunden.
Dann kam der Donner.
Die Erde bebte. Ein grelles Licht flammte am Horizont auf. Dann ein zweites. Ein drittes. Die Artillerie eröffnete das Feuer. Ihre Artillerie. Oder die des Feindes. Es spielte keine Rolle mehr.
"Einschlag!" Die Schreie hallten durch den Graben. Männer warfen sich zu Boden, pressten sich in jede Vertiefung, jeden Winkel des Schützengrabens.
Er presste sich flach in den Schlamm. Der Donner vibrierte in seiner Brust.
Eine Explosion erschütterte den Boden zehn Meter entfernt. Erde, Steine und Splitter regneten auf sie nieder.
"Luftminen!" Das Wort jagte Eiseskälte durch seine Adern.
Die nächste Explosion war anders. Ein scharfes, metallisches Krachen über ihnen. Die Detonation erfolgte drei Meter über dem Boden. Optimal kalibriert für maximalen Schaden.
Splitterregen peitschte durch die Luft. Das Zischen, das Einschlagen in Holz, Erde, Fleisch. Ein Schrei, schrill und unmenschlich.
Er presste sich noch tiefer in den Schlamm. Versuchte, mit der Erde zu verschmelzen. Sich unsichtbar zu machen für den Tod, der vom Himmel regnete.
Eine weitere Detonation. Näher. Metallregen auf Metall.
Peitschende Splitter.
Er sah zum Älteren hinüber. Der hatte sich in eine Nische der Grabenwand gedrückt, den Helm tief ins Gesicht gezogen. Ihre Blicke trafen sich. Das gleiche Wissen in beiden: Es gab kein Entkommen. Nur Glück. Nur den Zufall.
Der Beschuss ging weiter. Minuten. Eine Ewigkeit. Dann endete er so plötzlich, wie er begonnen hatte. Stille. Durchbrochen nur von Stöhnen und dem Klingeln in den Ohren.
"Alle heil?" Die Frage ging leise durch den Graben.
Er hob langsam den Kopf. Spuckte Erde aus. "Heil", murmelte er.
Von dem Jungen kam keine Antwort.
Er sah ihn zusammengesunken in der Deckung. Der Helm durchschlagen. Die Augen starrten in den grauen Morgenhimmel.
"Er ist weg", sagte er.
Der Ältere nickte nur. Kein Bedauern. Keine Überraschung.
Er lag im Schlamm und dachte an Roboterhunde. Nicht an die, die hier lautlos durch die Nacht jagten. An andere.
An den BioRobo X-12.
Die Erinnerung kam plötzlich. Neben ihm griff jemand nach seinem Wasserkanister. Das mechanische Klickgeräusch war genau wie das des BioRobo in der Werbung. Dieses hydraulische Surren der Gelenke.
Es war Weihnachten gewesen. Er war zehn. Vielleicht elf. Die Lichter des Baumes spiegelten sich in den Fenstern, draußen fiel leiser Schnee. Er saß mit seiner kleinen Schwester vor dem Fernseher.
Dann kam die Werbung. "Kinder, aufgepasst! Hier kommt der beste
Freund, den ihr je haben werdet - der brandneue BioRobo X-12!" Ein glänzender, metallischer Hund sprang über Hindernisse. Spielte Fußball. Drehte sich auf Kommando im Kreis. Ein technisches Wunder im Format eines echten Hundes.
"Mit seinem revolutionären 4D-LiDAR-System kann der BioRobo X-
12 seine Umgebung perfekt erkennen!" Der animierte Hund scannte einen Raum. Identifizierte Hindernisse.
Erkannte Menschen.
"Dank seiner fortschrittlichen KI lernt er jeden Tag dazu!" Er reagierte auf Stimmen. Merkte sich Namen. Passte sich an.
Seine Hände umklammerten die Sessellehnen. "Der BioRobo X-12
ist kinderleicht zu bedienen, braucht kein Futter und macht nie
Unordnung!" Ein lachendes Mädchen umarmte das Ding, als wäre es ein echter Hund.
Der Preis wurde eingeblendet. Sein Herz sank. Zu viel. Viel zu viel.
Trotzdem schrieb er den BioRobo auf seinen Wunschzettel. Ganz oben. In Großbuchstaben. Mit drei Ausrufezeichen.
Am Weihnachtsmorgen lag kein...