Schweitzer Fachinformationen
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Das älteste Dokument aus der Matrjoschka stammte aus dem September des Jahres 1977, verfasst von einem Major namens Novácek. Eine geheimdienstliche Aktennotiz der Art, wie ich sie nach jahrelanger Lektüre der Dossiers der Staatssicherheit verschiedener osteuropäischer Staaten zur Genüge kannte. Ich weiß sogar, wie sie realiter riecht. Während ich den Inhalt des Scans überflog, stellte ich mir den Major in seinem nüchternen Büro in dem schmucklosen Gebäude in der Bartolomejská vor, wie er an jedem seiner Diensttage damit beschäftigt war, für Ordnung zu sorgen. Mit Überzeugung. Es gibt Menschen, die an Gott glauben, an die Partei oder an sich selbst - der Major glaubte an die Ordnung der Abläufe. An die korrekte Ablage. An eine Präzision, die sich täglich wiederholen lässt. Improvisation ist was für Zigeuner, fand der Major, sollen die doch dudeln und fiedeln. Nicht angemessen für seriöse Berufe, für Ingenieure, Architekten oder Offiziere der Staatssicherheit. Wer die Ordnung missachtet, gefährdet die Gesellschaft. Hätte seine Ehefrau »Ordnung ist das halbe Leben« geseufzt, hätte er sie mit gespielter Strenge korrigiert: »Ordnung ist das ganze Leben.« Während der Major seine Berichte verfasste, seine Anweisungen hinzufügte, glitt sein Blick gelegentlich durch sein Büro (keine Familienfotos, keine Blumen, nur ein Aktenschrank und ein Kalender aus einem vergangenen Jahr mit farbschiefen Reproduktionen) zum Fenster hinaus. An diesem Septembertag schien die Sonne, auf unzuverlässige Weise. Er überlegte sich zwischen zwei Arbeitsabläufen, am Wochenende angeln zu gehen. Major Novácek schlug eine weitere Akte auf.
Der Sachverhalt: Eine Bürgerin der Volksrepublik hatte eine Person im feindlichen Ausland geehelicht. In so einem Fall war eine Akte anzulegen. Dies war vorschriftsmäßig erfolgt. In der Provinz, im fernen Zlín. Des Weiteren war der Vater der Bürgerin zu vernehmen. Diesem war aufzutragen, jedwede Veränderung im Lebensstand seiner Tochter unverzüglich der Státní bezpecnost (StB) zur Kenntnis zu bringen. Folglich hatte dieser den zuständigen Offizier informiert, als seine Tochter ein zweites Mal heiratete. An sich nicht bemerkenswert. Ehen scheiterten, im Osten wie im Westen. Was die Verantwortlichen in Zlín aufhorchen ließ, war die Behauptung, dass der neue Schwiegersohn ein »sehr reicher Mann ist, dem gehört die halbe Stadt, der ist so wichtig, der muss die nächsten dreißig Jahre keine Steuern zahlen«. Solch kleinbourgeoiser Stolz sollte dem Vater ausgebläut werden, dachte sich der Major. Was schneidet der auf, nur weil sich seine Tochter drüben einen fetten Parasiten angelacht hat. Die Information war an die Zentrale in Prag weitergeleitet worden. Die korrekte Vorgehensweise, registrierte Major Novácek zufrieden. Er merkte sich den Namen des jungen Offiziers in Zlín und las weiter.
Ein Informant mit dem Decknamen LUBOS berichtete, dass Ivana Z., seit 1968 im Ausland ansässig, zuerst in Österreich, wo sie (mit einem Skilehrer vermählt) als Kassiererin in einer Tankstelle gearbeitet hatte, im Juni in New York einen stadtbekannten Immobilienmakler geheiratet habe. Der Offizier in Zlín hatte LUBOS beauftragt, weitere Informationen einzuholen. Sein nächster Bericht behandelte den abgeschlossenen Ehevertrag (offensichtlich nicht von Staats wegen reguliert, sondern den Ehepartnern überlassen), in dem festgelegt worden sei, dass der Immobilienmakler mindestens drei Kinder erwarte und seine Frau, sollte die Ehe scheitern, mit einer Million Dollar entschädigen würde. Wie widerlich, dachte sich der Major und verspürte zugleich Hochachtung für die investigative Leistung von LUBOS.
Zwischen diesem Dokument und dem nächsten lagen Jahre, in denen Major Novácek des Öfteren angeln gegangen ist und die einstige Bürgerin aus Zlín dem steuerbefreiten Geschäftsmann vereinbarungsgemäß drei Kinder gebar, mit denen sie im Sommer die Großeltern besuchte, observiert von den Kollegen vor Ort, die nach ihrer Abreise jeweils den Vater zu sich bestellten (die Telefongespräche zwischen Ivana Z. und ihrem Vater wurden abgehört, die Post überwacht). Es wurde vermerkt, dass sie mit ihren Kindern auch in den USA Tschechisch sprach; die Freunde und Bekannten der Familie in der CSSR waren aufgezählt. Dem Vater wurde erlaubt, seine Tochter in den USA zu besuchen, vor seinem Abflug wurde er zu einem vertraulichen Gespräch vorgeladen. Er schien verstanden zu haben, was von ihm erwartet wurde, ohne dass Druck auf ihn ausgeübt werden musste.
Eines Tages entschied der Major, wesentliche Teile dieses Dossiers als Kopie nach Moskau zu schicken. Nichts Außergewöhnliches, die Geheimdienste der Bruderstaaten teilten ihre Erkenntnisse regelmäßig mit dem KGB, die Moskauer Behörde unterhielt ein großes Verbindungsbüro in Prag, und nicht wenige der StB-Offiziere (»die Freunde«) arbeiteten direkt für den KGB.
Major Novácek muss Mitte der achtziger Jahre in Ruhestand gegangen sein. Sein Name taucht nicht mehr auf, die Berichte aus den Jahren 1988 und 1989 sind schlampiger formuliert. Der Millionär habe den Ausgang der Präsidentschaftswahl 1988 vorausgesagt. »Das Ergebnis der Wahl bestätigt die Richtigkeit seiner Angaben«, folgerte ein gewisser Leutnant Surý in einem geheimen Dokument vom 23. Januar 1989 locherscharf. Beeindruckt von dieser außergewöhnlichen Kenntnis der politischen Prozesse, beschloss die Erste Direktion die Befassung mit dem Millionär von Manhattan zu »vertiefen«. Worauf in einem »Agenturvermerk« vom 10. Oktober 1989 der Informant A-JARDA mit kaum unterdrücktem Stolz vom USA-Besuch der Delegation einer heimischen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft berichtete:
»Sie wurden von einem der reichsten Männer New Yorks empfangen. Er ließ sich ausführlich über die Tätigkeit der Genossenschaft und ihrer Vorhaben hinsichtlich der Ausweitung der Handelsbeziehungen informieren. Zum Schluss nahm er eine Einladung zum Gegenbesuch in Slusovice an.«
Mit diesem zuversichtlichen Vermerk endet die Beschäftigung der tschechischen Staatssicherheit mit dem angeheirateten Millionär von Manhattan.
Müde blickte ich auf die Jungfernrebe, die über die Fassade des gegenüberliegenden Hauses kroch. Das Haus war hässlich, die Rebe schön. Ohne Haus gäbe es sie nicht. Wieso hat die unbekannte Person aus Moskau mir diese Informationen geschickt? Ich stärkte mich mit Gyokuro, einige Schlucke nur, so als wäre es Single Malt.
Das nächste Dokument läutete so laut wie die nahen Kirchenglocken. Eindringlich durchdringend.
Bevor Major Novácek pensioniert wurde, hatte er 1985 einen Bericht an seinen russischen Kontaktoffizier geschrieben. Trotz des behördlichen Tons war eine gewisse Vertrautheit zwischen den Zeilen zu spüren, vermutlich hatten die beiden sich getroffen, zu einem Pelmeni-Essen oder einem Spaziergang im Botanischen Garten. Das Schreiben begann mit dem Satz: »In Anbetracht der neuen Richtlinien .« Beide Seiten wussten offensichtlich, was gemeint war, denn alles Weitere bezog sich auf diesen anfänglichen Verweis.
Ich nicht.
Ich tappte im Dunklen.
Eine kleine Leiter führt zu den abgelegeneren Regionen meiner Bibliothek. Ich kramte aus dem obersten Regal (hintere Reihe) einige längst vergessene Bücher über den KGB hervor. Bei jeder meiner Recherchen bunkere ich Hintergrundwissen, in Sorge, meine Kenntnisse könnten nicht ausreichen, Dutzende von Monographien, die ihre Schuldigkeit allein durch ihr Vorhandensein tun. Obwohl ich sie selten konsultiere, kann ich mich nur schwer von ihnen trennen.
Ich begann nach Informationen über KGB-interne Veränderungen Mitte der achtziger Jahre zu suchen. General Wladimir Krjutschkow, Leiter der Ersten Hauptdirektion, war auf dem Höhepunkt seiner Macht, bevor er sich einige Jahre später als Putschist verausgabte. Als junger Offizier in Budapest war er 1956 von der Ungarischen Revolution überrumpelt worden. Wie sein Vorgesetzter, Botschafter Juri Andropow, war Krjutschkow erschüttert von der Rasanz des Volksaufstands. Gestern noch schien alles unter Kontrolle, heute baumeln die Leichen der ungarischen Kollegen von den Laternenpfosten. Der General haute unverrückbare Pflöcke in seine Lebenseinstellung: Wiege dich nie in Sicherheit!
1967 wurde Andropow Vorsitzender des KGB, der treue, arbeitswütige Krjutschkow stieg mit ihm auf. 1984 war seine Abteilung auf zwölftausend Offiziere angewachsen, weswegen die Zentrale in Jassenewo, am bewaldeten südlichen Stadtrand Moskaus, um einen zwanzigstöckigen Anbau und ein neues elfstöckiges Gebäude erweitert werden musste. Aber trotz der Expansion, trotz aller Arbeit und Disziplin, trotz immenser Anstrengungen und enormer Investitionen, hatte der KGB zuletzt kaum noch Agenten in den USA angeworben. Der General, wütend vor verbissenem Ehrgeiz, kanzelte seine Offiziere ab, weil sie es versäumt hatten, hochrangige Amerikaner zu »rekrutieren«.
Die Berichte der KGB-Offiziere im Ausland waren fehlerhaft und unzuverlässig. Vorspiegelung falscher Provenienz: Die Informationen stammten angeblich aus konspirativen Quellen. In Wirklichkeit bestanden sie aus recycelten Zeitungsberichten oder aufgewärmtem Klatsch und Tratsch. Manch eine Residenz im Ausland führte...
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