Schweitzer Fachinformationen
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Heute
Der folgende Morgen war für Hugo kein Grund gewesen, das Bett zu verlassen, auch wenn er schon seit Tagesanbruch wach lag. Traktoren und Gemeinde-Unimogs taten draußen ihre Pflicht auf den frisch verschneiten Straßen. Hugo hörte, wie Traktorschaufeln über den Asphalt geschoben und ausgekippt wurden. Immer wieder fuhren sie vor und zurück, nahmen Schnee auf und entluden ihn auf größer werdenden Haufen. Dabei schepperten ihre Schneeketten, und geräuschvoll presste sich das Profil ihrer überdimensionierten Reifen in den trockenen Neuschnee. Ganz leicht wurde ihr oranges Signallicht von der Zimmerdecke aufgefangen. Es musste viel geschneit haben.
Nach einigen Minuten entfernten sich die Fahrzeuge, um andernorts Schneeberge aufzutürmen. Manch einer hätte sich vielleicht durch die lauten Motoren gestört gefühlt. Nicht so Hugo. Es gab einiges, womit er sich an diesem Morgen vertraut machen musste. Die Stille, die das entschwindende Brummen gemeinsam mit Schneebergen zurückgelassen hatte, gehörte ebenso dazu wie das unbekannte Rauschen der Leitungen im Haus. Das Schlimmste war aber, dass er es nicht gewohnt war, allein aufzuwachen. Jemand anderem beim morgendlichen Herumwälzen zuzusehen hatte etwas Meditatives. Er konnte dabei genüsslich wegdämmern. Morgens einsam im Bett zu liegen erzeugte bei Hugo Hektik. Da signalisierte einem niemand, dass man sich an keinem anderen Ort aufhalten musste. Dass man genau da, wo man war, richtig war. Nein, wenn man allein aufwachte, dann musste man seinen Platz erst finden. Dann brauchte man eine Idee oder zumindest eine Vorstellung davon, was die ersten Schritte eines Tages waren. Und genau über diese Schritte wollte Hugo sich nicht klar werden müssen.
Also verharrte er, solange er konnte, am Rücken liegend in dem viel zu warmen Bett mit der Hirschbettwäsche. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man das Zimmer »Hirschzimmer« nennen müssen. Überall waren abstrahierte springende, äsende oder kämpfende Hirsche abgebildet. Auf der Bettwäsche, der Tischdecke, den Bezügen des Fauteuils. Nur auf den Vorhängen nicht. Die waren chalethüttenrot-weiß kariert.
Lediglich fürs Notwendigste stand er ein paarmal auf. Er dachte daran, den »Bitte nicht stören«-Aufhänger an der Türschnalle anzubringen. Dabei hatte er schon von Weitem das Klappern nicht geschlossener Schnallen von Skischuhen vernommen. Diese Geräusche schwollen gegen neun Uhr stark an, um dann wieder völlig abzuklingen.
Er warf einen Blick aus dem Fenster. Vor ihm türmte sich das Wettersteinmassiv auf, dessen höchster Gipfel die Zugspitze war. 2.962 Meter und damit der höchste Berg Deutschlands. Die Grenze zwischen Österreich und Deutschland verlief gerade über den Westgipfel des Berges. Hugo fiel ein, dass er mal gehört hatte, dass der österreichische Kaiser Franz Josef den Ostgipfel der Zugspitze an Deutschland verschenkt haben soll. War ja nicht einmal ein Dreitausender, dachte sich Hugo. Aber es war nur eine Legende. In Tirol war einem Deutschen noch nie etwas geschenkt worden. Für Hugo sah der Berg klobig aus, wie er so isoliert in der Landschaft stand. Er erinnerte ihn stark an den großen Backenzahn eines Hundes. Über den bewaldeten Fuß des Berges, der sich wie Zahnfleisch um dessen Saum schmiegte, stachen steile Felswände empor. Die Gratlinie war gespickt mit zahlreichen Gipfeln, die aus Hugos Perspektive höher aussahen als der eigentliche Zugspitzgipfel. Wenn er dem Kartenmaterial, das im Flur ausgehängt war, Glauben schenken konnte, dann war das Wettersteinmassiv Teil der Nördlichen Kalkalpen. Im Westen und Norden vom Loisachtal, im Osten von der Isar und im Süden von der Leutasch und dem Gaistal begrenzt. Von Ehrwald aus führte die Tiroler Zugspitzbahn direkt auf den Gipfel der Zugspitze. Auch von deutscher Seite gab es eine Seilbahn und sogar eine Zahnradbahn. Die einzige Qual an einer Zugspitzbesteigung lag heutzutage dann wohl in der Wahl des Fortbewegungsmittels.
Sarah hätte es gefallen, auf den Gipfel hinaufzugondeln. Ski fahren. Fünf-Sterne-Hotel. Den Tag verschlafen. Schon komisch, dass er dies alles jetzt ohne sie machte. Eigentlich hatte er nie wieder etwas ohne sie machen wollen, seitdem sie in die Wohnung gegenüber eingezogen war.
Hugo verbrachte die Stunden abwechselnd mit Nickerchen, Fernsehen und Chips aus der Minibar. Am Nachmittag aber gewann der Hunger, und er ließ sich in der Hotelbar einen Toast zubereiten. Aber auch dort ganzjährige Deko-Hirschbrunft. Und nicht nur die. An den Wänden hingen ringsherum echte Geweihe, sodass Hugo das Gefühl bekam, in das Mexican-Stand-off einer Rotwildauseinandersetzung geraten zu sein.
Hugo hatte sich an ein abgeschiedenes Nischentischchen gesetzt. Hinter ihm hingen Schwarz-Weiß-Bilder, die die Geschichte einer Flugzeuglandung auf der Zugspitze im Jahr 1922 erzählten. Damals hatte es noch keine Seilbahnen auf den Gipfel gegeben. Daneben war ein Zeitungsbericht angebracht, wonach sich der auf der Zugspitze dienstversehende Meteorologe von den Piloten hatte frisches Fleisch und Senf mitbringen lassen. Es gab aber noch weitere Zeitungsberichte, wie den, der vom Brand des Kammhotels an der Zugspitze im Jahr 1962 berichtete, oder den von dem verheerenden Lawinenunglück am Zugspitzplatt nur wenige Jahre danach. Nun war es aber vier, und Hugo wandte sich von den historischen Bildern ab, um sich dem zu widmen, weswegen er gekommen war. Er fragte den Barmann, ob es möglich sei, das Programm auf dem Fernseher zu wechseln, und bestellte ein weiteres Bier, als die Vorberichterstattung zum Skisprungwettkampf begann.
Es dauerte nicht lange, bis die bislang fast leere Hotelbar sich zu füllen begann. Die Leute kamen jetzt zum Après-Ski und erzeugten ein undurchdringliches Stimmengewirr, sodass Hugo von den Kommentatoren nicht mehr viel hören konnte. Es reichte ihm aber aus, wenn er die Namen lesen und sehen konnte, wie nah die Athleten der grünen Linie entgegensprangen.
»Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir sagen, ob der Oberstdorfer schon gesprungen ist?«, wurde Hugo plötzlich gefragt. Hugo sah auf und erwiderte den freundlichen Blick eines Sportfans.
»Nein, Sie kommen gerade recht! Setzen Sie sich doch zu mir!«, bot Hugo an. »Ich bin der Clemens!« Er biss sich auf die Zunge. Es hatte nicht an ihm gelegen, das Du-Wort anzubieten. Das universale tirolerische Du-Wort galt nicht für Deutsche. Da war schließlich jeder mit jedem per Sie.
»Gern, danke! Ich heiß Kerstin. Kerstin Schlegele. Was trinkst du da, Clemens? Hausbier?«, fragte Kerstin und machte Anstalten, an die Bar zu gehen.
Hugo nickte dankbar. Auch dafür, dass sie seinen Etiketten-Fauxpas entweder nicht bemerken wollte oder taktvoll überspielte. Sie kam mit zwei vollen Gläsern wieder zurück. Dabei hatte sie den Bildschirm nicht aus den Augen gelassen. Ein polnischer Sportler hatte gerade einen ausgezeichneten Sprung hingelegt.
Der Österreicher und die Deutsche sahen wenig amüsiert zu, wie ein Norweger das Auftaktspringen in Oberstdorf gewann. Hugo hatte zum Trost eine weitere Runde holen müssen. Kerstin war fast direkt von der Piste in die Bar gekommen. Sie hatte zwar keine Skikleidung mehr an, aber am Farbunterschied in ihrem Gesicht konnte man das erkennen. Ihre Wangen waren noch immer gerötet. Das Haar leicht zerzaust und ihre Bewegungen von der Kälte leicht steif. So wie Hugos Finger noch von der Kiste vom Vortag.
»Du bist gar nicht zum Skifahren hier?«, wollte Kerstin wissen.
»Sieht man das? Ich war eigentlich auf dem Weg nach Oberstdorf«, antwortete er und deutete mit dem Kinn auf den Fernseher, um zu untermauern, dass er sich den Wettkampf hatte aus nächster Nähe ansehen wollen. »Dann ist mir vor Ehrwald das Auto eingegangen, und ich hab mich kurzerhand für Urlaub entschieden«, log Hugo. Er fand, diese Lüge ließ ihn lässig ungebunden wirken.
»Ich komm selber aus Oberstdorf. Für das Event muss ich nicht dahoim sein. Sind mir zu viel Leute. Hier in Ehrwald bin ich ja eigentlich auch nicht zum Skifahren, sondern beruflich. Ich arbeite für die Allgäuer Allgemeine und recherchiere für einen Artikel über die Fernpassmaut.«
»Davon hab ich gehört. Ich müsst dann vierzehn Euro über den Fernpass zahlen.« Zusätzlich zu der horrenden Strafe und den übrigen Kosten, die ihn erwarteten, wenn er seinen Führerschein zurückhaben wollte, fiel ihm ein. Er nahm schnell einen Schluck von seinem Bier, um den bitteren Geschmack zu vertreiben.
»Ja, jedes Mal vierzehn Euro. Zusätzlich zu eurer Autobahnvignette. Da wird's teuer, wenn unsereins mal an den Gardasee will.«
Obwohl Kerstin ungefähr in Hugos Alter war, ließ sie diese Knausrigkeit richtig alt wirken. Sarah war kein bisschen geizig gewesen. Sie hatte Hugo immer gescholten, wenn er zu wenig Trinkgeld geben wollte.
»Aber die Vignette zahlen wir ja auch«, beschwichtigte Hugo.
»Noi, das ist nicht das Gleiche. Wir sind ja so gut wie einheimisch hier. Da sollt's neben den Außerfernern auch eine Ausnahme fürs Allgäu geben. Dafür möchte sich die Lokalpolitik bei uns einsetzen.«
Hugo konnte sein amüsiertes Schmunzeln gut zurückhalten.
»Da kommt mir ein Rechercheaufenthalt hier im Hotel Gamslechner Hof aber extra umfangreich vor«, antwortete Hugo. Dafür besaß sie immerhin das nötige Kleingeld. Er hatte wieder Glück, dass sie diese flapsige Frage geflissentlich überging.
»Weißt, ich hab der Redaktion eine umfassende Reportage zum Fernpass vorgeschlagen. Das war mal die Verkehrsverbindung von Venedig nach Augsburg. Du würdest dich wundern, wer alles hier hat durchmüssen auf seinen Reisen. Goethe zum Beispiel.«
Hugo staunte nicht schlecht. Manch einer hielt das Außerfern tatsächlich für das Ende...
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