Schweitzer Fachinformationen
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Paul Arezzo lernte Farhat Anfang Mai 2000 kennen. Farhat war dreißig und Paul sechsundzwanzig, aber kein Mensch hätte gedacht, dass sie nur ein paar Jahre auseinander waren. Paul hatte das Gesicht eines Jugendlichen, eine glatte Stirn, glatte Wangen, Arme und Beine, die etwas zu lang für ihn schienen. Er hatte nur wenige Falten um die Augen, und sie waren kaum ausgeprägt. Ganz anders die Furchen im wind- und wettergegerbten Gesicht von Farhat. Das Salz hatte Rillen hineingefräst wie ein Pflug in ausgedörrtes Erdreich. Aber Farhats Gesicht war schön, so rissig es auch sein mochte, oder vielleicht gerade deshalb. Seine blauen Berberaugen brachten seinen Seemannsblick zum Leuchten. Er war eine Art tunesischer Olivier de Kersauson, bald charmant, bald mürrisch, ein Spaßvogel mit Tiefgang und meist lachenden Augen, über die manchmal ein Anflug von Traurigkeit wehte, wie ein Dunstschleier, der langsam schwand. Farhat war nicht sehr groß, einen Meter siebzig höchstens, ohne ein Gramm Fett auf den Rippen. Doch seine kräftigen Muskeln ließen ihn durchaus korpulent erscheinen.
Farhat hatte immer auf Kerkennah gelebt. Als er klein war, half er seinem Vater dabei, den Fang auszuladen, aber er schwänzte niemals die Schule. Die Schule war heilig. Seine Mutter war Französischlehrerin am Gymnasium von Remla. Damit war nicht zu scherzen. Eines Tages, als ihm die Hausaufgaben über den Kopf wuchsen, hatte Farhat sich bei seiner Mutter beklagt, dass das ja doch nichts brächte, weil er ohnehin Fischer werden wollte. Seine Mutter hatte ihm erwidert:
«Erinnerst du dich an das Wiegenlied, das ich dir vorgesungen habe, als du noch ganz klein warst?»
«Das Lied vom Ball? Ja natürlich.»
«Na los, dann sing es mal.»
«Mon ballon est tellement grand. Il vole comme un oiseau. Mon ballon m'amuse, il . il est .» (Mein Ball ist so groß. Er fliegt wie ein Vogel. Mein Ball macht mir Spaß. Er ist .).
«Siehst du, du hast es vergessen. Aber wenn du schreiben kannst, dann kannst du es aufschreiben, um dich später wieder daran zu erinnern. Und wenn du lesen kannst, dann kannst du es später deinen Kindern vorlesen.»
«Mama, kannst du es mir vorsingen? Bitte!»
«Mon ballon m'amuse. Il est tellement beau. Il court aussi vite que mon pied. (Mein Ball macht mir Spaß. Er ist so schön. Er saust schnell, so schnell wie mein Fuß.) Hier ist es zu Ende, glaube ich jedenfalls. Außerdem musst du, wenn die Touristen kommen, doch auch mit ihnen reden können. Dein Vater spricht Englisch und Französisch. Im Sommer nimmt er sie mit auf sein Boot, zu Ausflügen aufs Meer und zum Fisch-Couscous. Das bringt uns viel zusätzliches Geld ein.»
Farhat hatte bis zum Abitur durchgehalten. Seine Noten waren nicht berühmt, aber er hatte seinen Abschluss in der Tasche, immerhin. Trotzdem war er danach auf Kerkennah geblieben, und jetzt war er Fischer wie sein Vater. Er hatte die gleiche Feluke wie dieser, mit weißem Segel und blauem Rumpf, auch wenn er sich einen kleinen Außenbordmotor zugelegt hatte, um bei Gegenwind nicht unnütz Zeit zu verlieren. Und er besaß die gleiche Fischereikonzession. Rund ums Archipel war das Meer in chrafis unterteilt, Fischfangparzellen, die mitunter durch Barrieren aus zusammengebundenen Palmwedeln getrennt waren. Aber diese sichtbaren Abgrenzungen waren eigentlich überflüssig. Jeder Fischer wusste so ungefähr, wo er rechtens fischen durfte, und Betrug wurde nicht geduldet. Wehe dem, der sich dabei erwischen ließ! Und mit dem Fisch war es auch gar kein Problem, denn die Fischbänke zirkulierten gleichmäßig rund um die Insel herum. Sie wollten wohl niemanden neidisch machen. Mit den Schwämmen sah es da schon anders aus. Manche Stellen waren bevorzugter als andere, und zu denen gehörte auch die chrafi von Farhat, gleich rechts neben dem Hafen von Branca gelegen, am Ortsausgang von Remla. Sie war vor allem für ihre Garnelen berühmt. Gegen Ende Mai zog Farhat prall gefüllte Netze aus dem Meer. Die Garnelen waren nicht sehr groß, aber ihr leicht salziges Fleisch war fest und von delikatem Geschmack. Warum nur kamen sie am liebsten zu Farhat?
«Weil du ihnen so schöne Augen machst», erklärte seine Frau ihm lachend. «Sämtliche Garnelen der Insel träumen davon, sich von dir fangen zu lassen!»
«Das ist nur der Wille des Herrn», antwortete Farhat errötend.
Farhat und seine Frau waren unzertrennlich. Jeder Inselbewohner musste unwillkürlich lächeln, wenn er dieses schöne und so verliebte Paar vor sich sah. Farhats Frau war sehr hübsch, von höherem Wuchs als die meisten Frauen hier, mit einem sehnigen geschmeidigen Körper, schwarzem Haar und riesigen haselnussfarbenen Augen, die wohl jeder zum Anbeißen fand. Sie war Französischlehrerin in Remla, genau wie die Mutter von Farhat, die nicht ganz unbeteiligt war an der Annäherung zwischen ihrer jungen Kollegin und ihrem Dummerjan von Sohn. Beide kannten sich seit Kindertagen, aber hatten nicht recht begriffen, dass sie füreinander gemacht waren. Also hatte Fatima dem Schicksal ein wenig auf die Sprünge geholfen. Sie hatte sich gesagt, dass Nora ihr mit einem Körper wie diesem bestimmt schöne Enkelkinder schenken würde.
Und sie würde recht behalten. Mit zwanzig hatte Nora einen kleinen Jungen namens Issam zur Welt gebracht. Farhat war so stolz, dass alle Nachbarn ihn nur noch Abou Issam nannten, um ihn zu necken. Auch die Großmutter war überglücklich, selbst wenn sie zwei und zwei zusammenzählen konnte und es ihr so vorkam, als liege die Hochzeit von Farhat und Nora erst sechs Monate zurück.
Zwei Jahre später kam Ahlam zur Welt. Die Kleine war das Ebenbild ihrer Mutter. Issam und Ahlam wuchsen heran und wurden von Jahr zu Jahr hübscher. Issam hatte niedliche Pausbacken und runde Waden, dazu zwei hinreißende Grübchen in den Wangen, die die Touristen beglückten und die kleinen Mädchen entzückten. Ahlam war ein richtiges Püppchen, ganz zart, mit Haselnuss-Augen, die noch größer als die ihrer Mutter waren, und einer winzigen Stupsnase. Die ganze Familie war stets gut gekleidet, auf westliche Art. Farhat trug nie den traditionellen kadrun der Fischer, ein dickes Wollgewand, das man ständig hochkrempeln muss, damit es nicht nass wurde. Bei schönem Wetter hatte er dünne Baumwollhosen oder Shorts an, dazu falsche Lacoste-Poloshirts oder, besser noch, geblümte Hemden. Farhat liebte diese Blümchenhemden. Issam trug fast immer das Gleiche wie sein Vater. Im Winter dann wurde umgestiegen auf wärmere Hosen und Wollpullover, mehr brauchte es nicht.
Farhat und Nora hatten einen weiteren Grund, zufrieden zu sein: Issam und Ahlam waren beide hervorragende Schüler.
«Bei einer Großmutter und einer Mutter, die alle beide Lehrerin sind, hätte man schon das Schlimmste befürchten können», pflegte Farhat zu scherzen.
«Ja, zum Beispiel, als Fischer in Kerkennah zu enden», antwortete Nora dann.
Beiden war klar, dass ihre Kinder die Insel irgendwann verlassen würden. Das war das Paradox von Kerkennah. Alle Inselkinder gingen zur Schule, auf die Grundschule, ins Collège, aufs Gymnasium. Die Einschulungsrate war außergewöhnlich hoch, weit über dem tunesischen Durchschnitt. Aber alle Kinder gingen früher oder später von der Insel weg, das war der Lauf der Welt. Zunächst nicht sehr weit, nur nach Sfax, direkt gegenüber - zwanzig Kilometer mit der Fähre übers Meer und mit der Möglichkeit, jedes Wochenende daheim zu verbringen. Der Campus von Sfax war riesig. Die wichtigsten Fächer wurden hier gelehrt: Jura, Medizin, Literaturwissenschaft, Volks- und Betriebswirtschaft. Die Universität beherbergte auch die Nationale Ingenieurs-Hochschule, die Handelshochschule und die Hochschule für Gesundheitswesen. Und daneben gab es noch jede Menge anderer Institute: die Kunst- und Gewerbe-Hochschule, die Institute für Musikwissenschaft, Informatik, Multimedia, Elektronik, Biotechnologie.
Nach dem Studium jedoch schlug die Stunde der Entscheidung. Wer eine gute Ausbildung hatte, der fand auf Kerkennah keine Arbeit, oder nur sehr selten. Der Archipel brachte gute Schüler hervor und gab damit seiner Jugend den Laufpass.
«Auf Kerkennah sind die Männer Fischer und die Frauen Bäuerinnen. Das wird sich niemals ändern», bemerkte Farhat resigniert.
«Wieso?», konterte seine Frau trocken, die derartige Gemeinplätze nicht ausstehen konnte.
«Weil in Kerkennah der Mann aufs Meer gehört und die Frau aufs Land.»
«So ein Unsinn! Du kannst doch nicht mal schwimmen!»
Das war wohl wahr, Farhat konnte nicht schwimmen. In Kerkennah ist das Meer so seicht, dass man sein Leben lang im Meer baden kann, ohne schwimmen zu lernen. Dazu müsste man sich schon sehr weit hinauswagen. Und wer sich sehr weit hinauswagt, der braucht ein Boot. Und wer ein Boot hat, der muss nicht schwimmen können. Und außerdem konnte Farhat immerhin wie ein kleiner Hund im Wasser planschen.
Eigentlich hätten sich Farhats Weg und der von Paul niemals kreuzen dürfen. Es war wohl Schicksal, stand so geschrieben:
Mektoub.
Nachdem er die Insel kreuz und quer durchstreift hatte, zu jeder Stunde und unter allen nur denkbaren Lichtverhältnissen, wollte Paul sie vom Meer aus sehen, ihre Gestalt erkennen, ihre Konturen erkunden. Wonach sah dieser Fladen aus, wenn man ihn von außen betrachtete? Vielleicht würde er später gar das Bedürfnis verspüren, ihn aus der Luft zu sondieren, um ihn ganz zu erfassen? Für den Moment aber erschien ihm die Annäherung vom Meer her am vielversprechendsten für das Entdecken von neuen Perspektiven und...
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