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Ulrich Kulp - Soulguard
Der Mond hing tief wie nie über Nürnberg, so tief, dass man meinte, ihn mit einem Lasso vom Himmel holen zu können. Eine flache Schneedecke hatte sich übers Land gelegt. Selbst in der Stadt war genügend liegen geblieben, um den berühmten Christkindlesmarkt mit einem touristengerechten Puderzucker zu überziehen, der jetzt, am frühen Abend, im Mischlicht des Mondes und der Laternen und Girlanden, auch noch kitschig glitzerte. Auf der Bühne unterhalb der Frauenkirche hatte ein gemischter Chor gerade sein Rockin' Around The Christmas Tree zu Ende gebracht. Der Pulk vor der Bühne löste sich auf und schnell hing zwischen den Ständen wieder das übliche, fröhliche Stimmengewirr. Hier und da erklang ein Glöckchen, das an irgendeinem Stand aus Tuch und Holz zur geschäftigen Weihnachtsstimmung die nötige Akustik lieferte - etwas sanfter als es der gerockte Christmas Tree vermocht hatte. An manchem Stand kam die geschäftliche Seite der Weihnachtszeit ein wenig übertrieben daher. An einem, der Rauschgoldengel der besonders kitschigen Art ausgestellt hatte, gab es inmitten der Engelsschar eine hölzerne Krippe, deren Esel mit den Ohren wackelte und ein kräftiges »Iah« in den Nachthimmel rief.
Von dem Fluss, der mitten durch Nürnbergs Altstadt fließt, war naturgemäß nichts zu hören, außer dem für eine Stadt, die von der Nordsee genauso weit entfernt ist wie vom Mittelmeer, eigentlich fremd anmutenden Möwengeschrei. Seit Jahren schon tauchte immer mal wieder ein Schwarm dieser schwerelosen Flugkünstler über der Pegnitz auf, angefüttert von eben jenen Touristen, die jetzt ihr Geld in der Stadt ließen.
Und noch ein Flugkünstler war an diesem Abend in die Stadt gekommen. Von der Fleischbrücke herab hätte man ihn am Ufer sehen können, wenn man geahnt hätte, dass er da war. Aber so etwas ahnt ja niemand. Manchmal träumt jemand davon, dass es so einen wie ihn tatsächlich gibt, aber so richtig überzeugt von seiner Existenz ist dann wohl doch kaum jemand mit letzter Konsequenz. So also hockte er unbemerkt am Flussufer in der Dunkelheit, erschöpft, hatte seine großen Flügel ausgebreitet und stierte den Mann an, den er gerade vor dem Ertrinken aus der Pegnitz gefischt hatte, nachdem der sich, offensichtlich verzweifelt, kurz zuvor von der Fleischbrücke hinabgestürzt hatte. Wieder so ein Einsatz, für den er sich eigentlich viel zu alt und viel zu müde fühlte. Aber sein Antrag auf vorgezogenen Ruhestand war abgelehnt worden - wieder einmal. »Nein«, hatte der Chef geantwortet, bis zur Rente habe er doch nur noch hundertvierundfünfzig Jahre. Da könne er ihm keines von erlassen. Er wisse ja selber, dass die Ressourcen so gut wie aufgebraucht seien und man sparen müsse - auch an Weihnachten. Da beiße die Maus keinen Faden ab! Eine vom Chef gern und oft verwendete Redensart. Eine, die jeden seiner zahllosen Angestellten nervte, wenn der mal wieder die endlosen Belehrungen vom Oberboss über sich ergehen lassen musste.
»Ja, aber«, hatte er zaghaft einen Einwand versucht, er brauche doch nicht viel. Er lebe doch im Wesentlichen von Luft und Liebe, wie alle Engel. »Eben«, hatte der Chef geantwortet, davon sei einfach nicht mehr genug da. Da beiße die Maus . Auf seinen nächsten Einwand hin, er als Schutzengel habe doch wohl immer mit weit höherem Einsatz seinen Dienst versehen als z. B. ein reiner Botenengel und sei deshalb vielleicht etwas früher dran mit den Ruhestandsbezügen, war der Chef dann laut und deutlich geworden. Und wenn der Chef laut und deutlich wird, gibt es kein »Ja, aber« mehr. »Rehael Seheia«, hatte der CEO durch seinen langen weißen Bart gedröhnt, »an die Arbeit! Die Menschen brauchen Schutz. Da beißt die Maus keinen Faden ab!«
Also war er wieder aufgebrochen zum nächsten Einsatz. Längst rächte es sich, dass er sich vor zweiunddreißig Jahren in die mobile Einsatztruppe hatte versetzen lassen. Damals war ihm das aufregend erschienen. Nach mehr als achthundert Jahren, in denen er im Grunde immer nur einen Menschen nach dem anderen begleitet hatte, jeden ein Leben lang, vom ersten bis zum letzten Tag, hatte er etwas Neues ausprobieren wollen. Da war es ihm gerade recht gekommen, dass kurz zuvor das neue Soulguard-Team aus der Taufe gehoben worden war. Wo immer, wann immer, wie immer jemand in Gefahr geriet, um den sich der eigentlich zuständige Schutzengel einmal nicht kümmern konnte, weil er vielleicht gerade Überstunden abfeierte oder im Urlaub war oder auf Reha, musste ein Soulguard ran, einer, der flink war und trainiert für alle denkbaren Spezialeinsätze - zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Eine Weile war das auch ganz spaßig gewesen, aber dann waren die Freizeitbeschäftigungen der Schutzbedürftigen immer ausgefallener und gefährlicher geworden - zu Lande, zu Wasser und in der Luft. River-Rafting, Freeclimbing, Bungee-Jumping, Canyoning - bei all den »-ings« war das Life-Saving zu einer Tortur geworden. Er hatte begonnen, sich zurückzusehnen nach dem guten, alten »Angeling«, als man oft wochenlang einfach auf seiner Wolke gesessen und dem Kleinen da unten zugesehen und dabei wie nebenbei ein wenig auf ihn aufgepasst hatte. Natürlich war das nicht der ganze Job gewesen. Hier und da hatte man auch Verwandten und Freunden seines Schützlings geholfen, wenn Not am Mann war. Aber das war nichts gewesen gegen die jüngere Vergangenheit und vor allem die Gegenwart. Heute raste man von einem Einsatz zum nächsten. Hier war einer drauf und dran, beim Whale Watching von der Schwanzflosse eines Buckelwals erschlagen zu werden, bei dem Nächsten öffnete sich beim Tower-Jumping der Fallschirm nicht, und ein Übernächster stand bei seinem dritten Volksmarathoning innerhalb eines Jahres vor dem Herzinfarkt. Wenn er so einen dann bei Kilometer dreißig einfach mal stolpern ließ, sodass er hinfiel und sich den Fuß verdrehte und in der Folge dann nicht mehr in den Tod rennen konnte, schimpfte der höchstens noch auf seinen Schutzengel. Undank ist der Welten Lohn!
Auch damals war er schon mal zum Chef hoch und hatte zaghaft nachgefragt, ob er nicht vielleicht wenigstens nur Einsätze bei Kindern kriegen könnte. Kinder waren zwar in der Regel sogar noch etwas gefährdeter als diese erwachsenen Adrenalinjunkies, aber dafür war es wenigstens sinnvoll, ihnen beizustehen. Ihre Unbedachtheit war Unschuld. Die hirnlose Risikobereitschaft Erwachsener eine Sünde. »Da beißt die Maus keinen Faden ab«, hatte er noch hinzugesetzt. Eine sanfte Provokation, die er sich nicht hatte verkneifen können und die er nach lockeren achthundertsechsundvierzig Jahren Dienst meinte, sich auch einfach mal leisten zu können. »Ohne Ansehen der Person, Rehael«, hatte der Chef, humorlos wie immer, geantwortet, »ohne Ansehen der Person!« Und so saß er jetzt, den Rücken der Welt zugewandt, mit ausgebreiteten, pitschnassen Flügeln am Ufer der Pegnitz, weil er einen Lebensmüden aus dem Wasser geholt hatte, einen Geldverleiher, einen Hai. Wieder einmal hatte er eine eigentlich eindeutige Situation zu einen Unfall umdefiniert, um überhaupt eingreifen zu dürfen. Denn eigentlich stand das gar nicht in der Stellenbeschreibung für Soulguards, sondern war im Gegenteil sogar verboten. Wer seinem Leben selber ein Ende setzen wollte, sollte das ruhig tun. Dafür sind Schutzengel nämlich nicht zuständig. Nur er hatte diese Regel einfach nicht akzeptieren können und war in der Folge dann in den letzten Jahrzehnten wie ein Irrer durch die Lüfte gesegelt, um zu retten, was zu retten war. Wer zählt die Namen?
Während jedenfalls Haie verenden, wenn man sie aus dem Wasser zieht, lebte dieser hier unten an der Pegnitz also weiter - vorläufig. Hatte sich wohl verspekuliert. Oder tat er dem Fremden unrecht? Der Mann hatte einige kleine, nass gewordene Rosenblätter aus der Tasche seiner Hose gefischt und besah sie nun mit Tränen in den Augen. Ja, mein Freund, dachte Rehael, die Liebe bleibt. Da war genug von da. Da konnte der Chef meckern, wie er wollte, und seine Maus sich die Mäusezähnchen an allen Fäden der Welt ausbeißen.
Er sah dem Fremden noch eine Weile zu, wie der sich langsam berappelte und offensichtlich neuen Lebensmut fasste. Die Tränen waren jedenfalls aus seinen Augen verschwunden. Stattdessen war darin sogar so etwas wie ein Funkeln zu sehen. Irgendwie kam ihm der Mann mit einem Mal bekannt vor. Aber dann dachte er, dass er einfach schon so viele Menschen getroffen hatte, dass das kein Wunder war. Irgendwie waren sie sich doch alle viel ähnlicher, als sie selber meinten.
Er lauschte dem Rauschen des Flusses und war versucht, sich diesem Augenblick der Ruhe ein wenig länger hinzugeben, als ein Augenblick in der Regel währte. Aber das war natürlich sinnlos. Richtige Ruhe gab es für einen wie ihn nicht. Dafür hörten Soulguards viel zu gut. Und während die Menschen auf dem Weihnachtsmarkt nichts von hier unten mitbekamen, bekam er alles von da oben mit. Die Chöre und die Glöckchen. Die Menschen, die schwatzten und schmatzten. Das Quäken der Kinder, die an den Armen ihrer Eltern zogen und zerrten, weil sie was wollten. Das Klimpern der Münzen und das Rascheln der Scheine, die ihre Besitzer wechselten. Das unablässige Picken der Tauben, die mitten in diesem Überangebot an Brotkrumen und anderem Fresskram gar nicht zum Gurren kamen. Das alles hörte er, ohne allerdings zuzuhören. Wenn darin irgendeine Botschaft vorgekommen wäre, die seinen Einsatz verlangte, ein Verzweiflungsseufzer, ein Hilferuf gar, würde er sie heraushören aus dem Einerlei. Er war immer noch Soulguard, mit Leib und Seele, auch wenn er es so langsam müde geworden war und ab und zu mal eine etwas längere Pause brauchte als...
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