Schweitzer Fachinformationen
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Sigrun Arenz - Füße im Feuer
»Mein ist die Rache, redet Gott.«
(C. F. Meyer, Die Füße im Feuer)
Der Glühwein lag in der Tasse, rot und duftend, mit einem leicht öligen Film darauf. Ruhte und duftete nach Nelken und warmem Alkohol. Eine einzelne Schneeflocke segelte auf ihn herab und funkelte einen Augenblick lang beinahe, ehe sie auf der Oberfläche des heißen Weins zerschmolz. Rot lag er in der Tasse, schwer und duftend und flüchtig. Er roch nach Nelken und Zimt und Zitrone. Er roch, wie alle roten Dinge, nach Liebe und nach Blut.
Ein seelenloser Korridor, in hartes Kunstlicht getaucht, ohne Blick hinaus. Die Tür vor ihr öffnete sich, und trotz allem, was vorausgegangen war, zögerte sie, hindurchzutreten, die Hand krampfhaft um den Riemen ihrer Tasche geschlossen. Jenseits der Tür lag ihre Befreiung, und doch war sie sich für einen langen Moment des Zweifels nicht sicher, ob sie diesen Schritt wirklich machen sollte. Vielleicht war es Furcht vor dem, was danach folgen würde. Was kommt nach der Hölle?
Sie zögerte und ging dann doch weiter, hatte tief drinnen ja gewusst, dass sie es tun würde, wunderte sich immer noch, wie leicht es gewesen war. Die Tür hatte sich aufgetan, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, ihr den Weg frei zu machen. Vielleicht lag es daran, dass Weihnachten war und selbst Beamte der Justizvollzugsanstalt es an diesen Tagen nicht so genau nahmen. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass jetzt alles anders werden würde, sie wirklich frei werden und die Vergangenheit hinter sich lassen würde. Ein Schritt hindurch, und die Tür zum Zellentrakt schloss sich hinter ihr. Sie war drinnen.
Ein Besuchsraum, dessen kahle Nüchternheit durch einen Adventskranz halbherzig aufgebrochen war. »Besuch für Sie«, das war alles, was Meier zu ihm gesagt hatte, und ein wenig gegrinst hatte er dabei, ein wenig anzüglich, ein wenig verschwörerisch, als ob das alles ein abgesprochenes Spiel zwischen ihnen sei. Vielleicht, weil Weihnachten war und selbst Beamte der JVA an so einem Tag ein wenig anders tickten.
»Besuch für Sie.«
Mit ihr hatte er nicht gerechnet. Sie trug ihr Haar anders, kurz geschnitten und glatt geföhnt, und es dauerte einen Augenblick, bis er wirklich begriff, wen er da sah. Es war Weihnachten, und sie war gekommen. »Besuch für Sie.« Die Tür mit dem vergitterten Sichtfenster darin schloss sich hinter ihr. Sie waren allein.
Die Luft war frostig, und ein paar Schneeflocken segelten träge durch die Luft, fingen im Fallen das Licht von Hunderten von Lämpchen auf, um dann sofort unter Hunderte von Füßen getreten zu werden. Und überall gerötete Hände und Ohren und aufgestellte Kragen und Schals und Wollmützen und die Kälte. Christkindlesmarkt in Nürnberg; sie waren zu sechst, außer ihm noch das unattraktive blonde Mädchen, der Kommilitone mit den Hundeaugen, dann das Pärchen aus dem Proseminar, ineinander versunken die zwei, als gäbe es die Welt um sie herum nicht. Und sie, mit ihrer bunten Umhängetasche und ihrem Lachen, das in der kalten Luft glitzerte wie die wenigen Schneeflocken, die es schafften, durch ihr Blickfeld zu treiben. Frostiger Atem dampfte vor den Gesichtern. Zugleich die Hitze: Körper, aufgeheizt von Glühwein und Feststimmung, die Menschenmassen, die Lichter, und die Gerüche nach Holz und Alkohol, feuchter Wolle, menschlichen Ausdünstungen, Zimt und Nelken, nach Fleisch, das auf den Grills der Würstchenbuden zischte und brutzelte. Der Gedanke an menschliches Fleisch, das sich unter Lagen von Jacken und Pullovern und Unterwäsche verbarg, und man konnte nicht wissen, ob es fror oder erhitzt war und aufgeregt.
Irgendwann sah er, wie sie mit einer ungeduldigen Handbewegung ihre Mütze vom Kopf zog und in die blaue Winterabendluft atmete, ihr Gesicht ein wenig gerötet, und das lange Haar rollte, rötlichbraun, befreit, über den Kragen ihrer Winterjacke.
Er wusste, warum sie ihre Haare abgeschnitten hatte.
Sie setzte sich ihm gegenüber, ohne ein Wort zu sagen, schlüpfte unter dem Riemen ihrer Umhängetasche durch, die sie über der Schulter getragen hatte - war das erlaubt? Er konnte sich nicht erinnern, es war so lange her seit dem letzten Besucher, er hatte nie darauf geachtet. Vielleicht hatten sie eine Ausnahme gemacht, weil Weihnachten war, aber jedenfalls hatte sie eine Tasche dabei und legte sie auf den Tisch vor sich, die Hände ruhten auf dem bunten Stoff, ohne loszulassen. Schöne Hände, schlank und wohlgeformt, schmal, aber nicht schwach, nicht zerbrechlich.
Er wusste auch, dass die Tasche eine Mauer war zwischen ihm und ihr. Früher wäre ihm das nicht aufgefallen. In seinem alten Leben, als er nur wahrgenommen hatte, was er sehen wollte, als die Welt sich um ihn gedreht hatte und alles, alles nur in Bezug auf ihn und seine Wünsche und Abneigungen wichtig gewesen war. Halsstarrig war sie gewesen, damals. Schön und halsstarrig. Nicht, dass er das Wort jemals benutzt hätte in seinem alten Leben - jetzt kam es ihm in den Sinn, mit den Worten aus einer Ballade, die er gelesen hatte - »ein fein, halsstarrig Weib«. Auch Balladen gehörten zu seinem neuen Leben, in dem er in den Gesichtern seiner Mithäftlinge lesen konnte und Dinge verstand, die niemand aussprach. In dem er wusste, warum sie sich die Haare abgeschnitten hatte, warum sie nicht mehr dieselbe sein wollte, weder äußerlich noch innerlich.
Was er nicht deuten konnte, auch nicht nach diesen zwei Jahren, nicht nach dem Prozess und nicht nach den vielen einsamen Stunden des Lesens und Beobachtens, war ihr Gesichtsausdruck, als sie die Tasche zwischen ihnen öffnete und einen länglichen Gegenstand heraushob.
»Ich habe dir etwas mitgebracht«, erklärte sie und schraubte den Deckel der Thermoskanne auf.
Zwischen ihnen, auf dem blanken Holztisch, stand eine Tasse mit dampfendem Glühwein.
»Ich hol uns noch was zu trinken«, hat er gesagt und ist zum Stand zurückgegangen, wo er erst einmal stehen bleibt, dankbar für den Anorak, der lang genug ist, um seine Erregung zu verbergen. Er ist überhitzt, die paar Schneeflocken, die aus der immer dunkler werdenden Luft auf sein Gesicht fallen, bewirken nichts weiter, als ihm zu zeigen, wie heiß er ist. Der Schnee scheint auf seiner Haut zu glühen, ihn zu verbrennen, ist so heiß wie die Berührung ihrer Hand vorhin, als sie ihn gestreift hat. Beim Umdrehen, im Gespräch mit der blonden Freundin, die er hasst, weil sie sich für sie umdreht, mit dem Kommilitonen, den er verachtet, weil er dieses Lächeln aufsetzt, wenn er mit ihr redet, bewundernd, ein bisschen hilflos. Der Typ ist verliebt in sie, sie, die er hasst, weil sie halsstarrig ist und schön und ihn anmacht und dann so tut, als sei nichts gewesen.
Wie sie ihr Haar befreit hat, als sie die Mütze abgestreift hat, wie es, rötlichbraun und plötzlich lose, das Licht gefangen hat von den Weihnachtssternen und Lichterketten über dem Christkindlesmarkt. Wie sie sich umgewandt hat, sodass ihr bloßer Hals direkt vor seinen Augen lag, weiß und glatt, und das Blut hat in ihren Adern gepocht. Wie ihre Hand ihn gestreift hat beim Umdrehen, tausend Grad heiß, sodass er die Stelle noch jetzt spürt wie eine Wunde, wie ein Brandzeichen - und dann hat sie sich abgewendet und mit den anderen geredet, und als er etwas zu ihr gesagt hat, hat sie ihm diesen Blick zugeworfen. Einen Blick, als ob er ein Niemand wäre, oder jemand, der da sein könnte oder auch nicht, der keinen Unterschied macht, der keine Bedeutung hat. Du Schlampe, hat er gedacht, und dann hat er ihr Haar wieder gesehen, mit den Lichtpünktchen darin, und hat die Worte gesagt. Um wegzukommen von ihr, ja, aber vor allem, um sie zu bestrafen.
»Ich hol uns noch was zu trinken.«
Der Glühwein lag in der Tasse, ein leicht öliger Film darauf, und erfüllte den kleinen Besuchsraum der JVA mit dem Duft nach Nelken und Zimt und Zitrone. Er roch, wie alle roten Dinge, nach Liebe und nach Angst.
Ihm wurde kalt, als er ihr ins Gesicht sah. Ihre Augen - ein lichtes Braun - waren unverwandt auf ihn gerichtet, unerbittlich, rätselhaft. Sie sagte nichts. Nicht »trink« und nichts sonst, starrte ihn nur an, auffordernd, erbarmungslos. Und er wusste, dass sie gekommen war, um mit ihm abzurechnen, mit ihm abzuschließen, die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen.
Was er nicht wusste, was er nicht deuten konnte, war das Wie.
Er hatte erst dem Kommilitonen seinen Becher gereicht, dann der Blondine. Für das ineinander versunkene Pärchen hatte er keinen Glühwein mitgebracht. Seinen eigenen Becher stellte er auf dem wackligen Tisch ab, um den sie herumstanden; es war der dritte - oder der vierte? Ganz sicher war er sich nicht.
Den letzten Becher reichte er ihr. »Danke«, erwiderte sie, und ihr Lächeln hatte dieselbe Farbe wie die Lichterketten an der Bude neben ihnen, wie der Schnee und wie die vereinzelten Sterne am dunkelblauen Winterhimmel. »Ich sollte gar nichts mehr trinken, ich hatte schon zwei«, fügte sie hinzu, mit einem Kichern, das nicht ganz so klar klang wie noch vor einer Stunde, »aber ich bin ja mit der U-Bahn da, gut, dass ich nicht mehr fahren muss, aber hoffentlich sind nachher nicht so viele Betrunkene unterwegs, die...
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