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Es war wie ein seltsamer, unwirklicher Traum für sie, an Deck eines Dampfers zu stehen, über ihr der blaue Himmel, unter ihr das endlose Meer, das wie Millionen Diamanten glitzerte. Rechts sah sie die Stadt Dover, deren Häuser mit den grauen Schieferdächern sich fast entschuldigend unter den majestätischen Klippen zu ducken schienen, die so viel gewaltiger und weißer wirkten, als sie sie in Erinnerung hatte.
Sie konnte kaum glauben, dass sie im Begriff stand, England hinter sich zu lassen, zum allerersten Mal in ihrem Leben. Und das, obwohl sie sich dieses Abenteuer keineswegs selbst ausgesucht, geschweige denn es sich gewünscht hatte. Weshalb sollte sie auch den Ärmelkanal mit seinen hohen Wellen und tückischen Strömungen überqueren wollen, nur um ein Land zu besuchen, in dem vier Jahre lang ein barbarischer Krieg getobt hatte, der nichts als Ruinen, Schutt und Asche sowie unvorstellbares Elend zurückgelassen hatte? Sie war gerade mal einundzwanzig und hatte selbst einen bitteren Verlust hinnehmen müssen. Musste sie sich da wirklich neuen Kummer aufladen? Eigentlich nicht, fand sie, herzlichen Dank.
Nun, da endlich Frieden herrschte, wünschte sie sich lediglich eines: ein ruhiges, geordnetes Leben zu führen und sein Andenken zu wahren, indem sie in seinem Sinne weitermachte und all jenen mit Freundlichkeit begegnete, die ebenso trauerten wie sie selbst. Und von denen gab es weiß Gott eine Menge. Keine Familie war von der Tragödie verschont geblieben. Sie jedenfalls würde für sich bleiben und nie wieder jemanden in ihr Herz lassen, um es am Ende womöglich zu brechen.
Das ist das Beste, was ich tun kann, hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben. Und zudem das Einzige. Schließlich hat er seine Zukunft geopfert, um uns vor den Deutschen zu schützen. Welchen Sinn hätte all das denn sonst gehabt?
Als seine Eltern sie also eines Nachmittags Anfang Juni nach dem Tee in einen der tiefen, üppig gepolsterten Wohnzimmersessel dirigiert und ihr die Reisebroschüre von Thomas Cook in die Hand gedrückt hatten, war sie im ersten Moment davon ausgegangen, dass das ein Scherz sein sollte.
Touren zu den Schlachtfeldern von Belgien und Frankreich, stand auf dem Umschlag.
»Weshalb um alles in der Welt sollte jemand dorthin fahren und sich diese Orte ansehen .?«, fragte sie verwundert ihre Schwiegereltern.
Sie unterbrach sich, als sie sah, wie Ivy zusammenzuckte. Ihre Schwiegermutter war so zerbrechlich wie hauchfeines Glas und absolut nach wie vor nicht bereit zu akzeptieren, dass ihr einziges Kind tot war. Nun ja, Ruby kannte Ivy seit jeher als einen scheuen, in sich gekehrten Menschen, der dazu mit einer angegriffenen Gesundheit geschlagen und immer irgendwie leidend war. Zu Beginn ihrer Romanze mit Bertie hatte sie es sogar seltsam gefunden, dass er sie nie zu sich nach Hause einlud und immer seine Mutter vorschob, der alles zu viel wurde.
Inzwischen war Ivy bloß noch ein Schatten ihrer selbst, mehr tot als lebendig, bleich und schwach infolge eines Mangels an frischer Luft und Bewegung, denn sie verbrachte viel zu viel Zeit im Bett oder zumindest in ihrem Schlafzimmer.
Ruby und Bertie kannten sich aus der Schule und waren einfach Freunde gewesen, bis er eines Tages auf dem Heimweg seine Hand in die ihre schob. Keiner von ihnen sagte ein Wort, doch die Wärme seiner Berührung durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag. In diesem Moment wusste sie, dass sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen würde.
Ich liebe Bertie Barton, vertraute sie an diesem Abend ihrem Tagebuch an und umrandete den Satz mit einer Ranke aus schiefen Herzchen. Wieder und wieder schrieb sie diese Worte nieder, auf ihr Federmäppchen, in ihr Schulheft, auf den Einkaufszettel, auf die Innenseite ihres Handgelenks. Niemand bezweifelte, dass Ruby Bertie liebte und er sie.
Kurz danach die Tragödie. Rubys Vater, Vorarbeiter eines Schiffbauunternehmens in ihrer Heimatstadt Ipswich, wurde von einem Schiffsmotor erschlagen, der von einem Kran fiel. Er war auf der Stelle tot. An die folgenden Tage erinnerte Ruby sich lediglich verschwommen - aber es blieb ihr deutlich in Erinnerung, dass ihre Mutter am Boden zerstört gewesen war. Eine leere Hülle in ihrer abgrundtiefen Trauer, die Ruby keinerlei Trost zu spenden vermochte.
Bertie dagegen war die ganze Zeit an ihrer Seite, hielt sie in den Armen, wenn sie weinte, bereitete zahllose Tassen Tee mit viel Zucker zu und unternahm ausgiebige Spaziergänge mit ihr, auf denen er sie dadurch auf andere Gedanken zu bringen versuchte, indem er sie auf die kleinen Begebenheiten in der Natur hinwies und ihr so manches erklärte: welcher Vogel gerade sang, welche Blumen an welchen Stellen wuchsen, wie perfekt die Blütezeit mancher Pflanzen auf den Zeitpunkt abgestimmt war, wenn bestimmte Insekten schlüpften, und welche Löcher im Erdreich auf einen Dachs-, Fuchs- oder Hasenbau hindeuteten. In ihren Augen reifte Bertie quasi über Nacht vom Schuljungen zum Mann.
Nicht lange, und aus Umarmungen und Händchenhalten wurden scheue Küsse und unbeholfene Schmusereien hinter dem Gartenhäuschen, gefolgt von dem Moment, als er ihr seine Liebe gestand. Eines Abends, sie waren allein im Haus, ging er auf die Knie und präsentierte ihr einen Verlobungsring mit einem Brillanten, wobei er beschämt gestand, dass er sich das Geld dafür von seinem Vater hatte leihen müssen.
Bertie wurde ihr Ein und Alles. Niemals schenkte sie einem anderen Jungen bloß einen Blick, und sie wusste, dass es für immer so bleiben würde. Zumal Bertie seinerseits versicherte, sie sei die Einzige für ihn. Für immer. Bertie und Ruby. Für immer, schrieb sie in riesigen Lettern auf eine neue Seite ihres Tagebuchs und verzierte die Worte mit noch mehr Herzen.
Sie waren in jeglicher Hinsicht das perfekte Paar. Rein äußerlich sahen sie einander sogar ein wenig ähnlich mit ihren hellbraunen Locken und den sommersprossigen Gesichtern, wobei sie beide weder übermäßig gut aussehend noch unscheinbar waren. Mittelmaß eben, Durchschnitt, wie er gern betonte, und in dieser Normalität ergänzten sie einander. Ihn erinnerte die Farbe ihrer Augen an Ingwerwein, sie die seinen an Haselnüsse. Beide gingen gern tanzen, liebten Spaziergänge, erzählten sich gegenseitig alberne Geschichten oder trafen sich abends mit ihrer Clique zum Kartenspielen im Pub. Dass sie für den Rest ihres Lebens miteinander glücklich sein würden, daran bestand für Ruby kein Zweifel.
Als am Rathaus die Rekrutierungsplakate aufgehängt wurden, flehte sie ihn an, die Appelle zu ignorieren. Doch der Druck wuchs zusehends, immer mehr junge Männer meldeten sich freiwillig, und so stimmte sie schweren Herzens zu, dass er ebenfalls für König und Vaterland in den Krieg ziehen wollte. Allerdings erst nachdem er ihr hoch und heilig versprochen hatte, unversehrt zu ihr zurückzukehren. Ein absurdes Versprechen, das er aber zunächst zu halten schien, denn zweimal während der Grundausbildung bekam er Urlaub.
Überrascht musste sie feststellen, wie sehr er sich verändert hatte. Er schien ein paar Zentimeter gewachsen zu sein, war kräftiger geworden und ließ plötzlich Muskeln erkennen, die ihr nie zuvor aufgefallen waren. Darüber hinaus war sein Verhalten ein anderes geworden. Bertie, der ewige Spaßvogel, wirkte mit einem Mal ernster, nachdenklicher, reifer irgendwie. Was nicht hieß, dass ihm sein Vorrat an flotten Sprüchen völlig abhandengekommen wäre, doch es wirkte aufgesetzter, weniger echt. Ruby spürte, dass ihm die neue Situation zu schaffen machte, und zudem beunruhigte sie, dass er sich standhaft weigerte, ihr zu erzählen, was er bei der Ausbildung so alles erlebt hatte. Und erst im allerletzten Moment vor seiner Abreise gestand er ihr, dass dies sein letzter Urlaub auf unabsehbare Zeit sein werde. Er hatte den Stationierungsbefehl erhalten, durfte jedoch nicht verraten, wohin es gehen würde.
Sie heirateten in einer hastig vollzogenen Zeremonie auf dem Standesamt. Ihre Mutter, die jahrelang auf diesen Moment gewartet hatte, brach beim Anblick der Tochter im Brautkleid in Tränen aus.
»Krieg hin oder her, jetzt habt ihr wenigstens einen Tag, an den ihr euch für den Rest eures Lebens erinnern könnt«, schluchzte sie.
Und was für ein Tag ihnen vergönnt war: strahlender Sonnenschein, weiße Schäfchenwolken am Himmel, all ihre Freunde kamen, die sich mit ihnen freuten. Ruby glaubte vor Glück schier zerspringen zu müssen. Und die beiden Nächte im Mill Hotel, sozusagen ihre Flitterwochen, gehörten zu den schönsten in ihrem ganzen Leben. Anfangs noch scheu und zurückhaltend, entdeckte sie eine ungekannte Leidenschaft und Hingabe in sich, die offensichtlich jahrelang verborgen in ihr geschlummert hatte. Endlich fühlte sie sich erfüllt und vollständig.
Die Tage verbrachten sie mit Spaziergängen durch die Flussauen, wobei sie immer wieder stehen blieben, um den braunen, müßig gegen den Strom schwimmenden Fischen zuzusehen und dem Gesang der Lerchen zu lauschen. Einmal sahen sie sogar einen Eisvogel mit dem typisch leuchtend blauen Gefieder.
»Ach, könnte es für immer so bleiben«, rief sie voller Überschwang. »Bitte, geh nicht, Bertie! Ich ertrage es nicht, ohne dich sein zu müssen.«
»Bestimmt bin ich bald wieder zurück, versprochen«, erwiderte er. »Hand aufs Herz.«
Und sie glaubte ihm. Selbst als er endgültig in den Krieg zog, verbot Ruby es sich, ihre Sorgen wirklich an sich heranzulassen, war fest entschlossen, stark und guter Dinge zu bleiben, so wie er es sich von ihr gewünscht hatte. Ihr Glaube an sein...
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