Schweitzer Fachinformationen
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FLIEDER UND LINDENBLÜTEN
Ein Licht flammt auf.
Bis zu diesem Augenblick, als die Flamme blau aufflackert, um dann ruhig und gelb in ihrer kunstvollen Glaskugel weiterzubrennen, war der junge Mann von der völligen Dunkelheit eingeschüchtert gewesen, der er sich bei seinem späten Eintreffen auf Schloß Rosenborg plötzlich gegenübergesehen hatte. Er war müde von der langen Seereise, seine Augen brannten, sein Gang war unsicher, und so war er sich über die Art dieser Dunkelheit nicht im klaren. Er hatte den Eindruck, sie sei nicht nur ein äußeres Phänomen, das mit dem tatsächlichen Fehlen von Licht zu tun hatte, sondern gehe von seinem Innern aus, als habe er die Schwelle zu seiner eigenen Hoffnungslosigkeit überschritten.
Er ist erleichtert, als er nun einen getäfelten Raum um sich herum Gestalt annehmen sieht und jemanden sagen hört: »Das ist das Vinterstue. Das Winterzimmer.«
Die Lampe wird hochgehoben. Sie brennt jetzt heller, als werde sie von reinerer Luft genährt, und der junge Mann sieht an der Wand einen Schatten. Es ist ein langer, gebeugter Schatten, sein eigener. Es sieht so aus, als habe er von den Schulterblättern bis fast zur Taille eine Mißbildung, einen Buckel. Doch ist das eine Täuschung. Bei dem jungen Mann handelt es sich um Peter Claire, einen Lautenspieler, und bei dem krummen Rücken um seine Laute.
Er steht bei zwei silbernen Löwen, die ihn durch das flackernde Licht zu beobachten scheinen. Dahinter erkennt er einen Tisch und ein paar hohe Stühle. Doch Peter Claire ist von allem abgetrennt, findet nirgends Halt, nirgends Ruhe. Und nun bewegt sich die Lampe weiter, und er muß ihr folgen.
»Möglicherweise«, sagt der große Herr, der mit der Lampe weitereilt, »müßt Ihr Seiner Majestät König Christian noch heute abend vorspielen. Er fühlt sich nicht wohl, und seine Ärzte haben ihm Musik verordnet. Deshalb müssen die Musiker des Königlichen Orchesters jederzeit spielbereit sein, bei Tag und bei Nacht. Ich hielt es für das beste, Euch gleich davon zu unterrichten.«
Peter Claires Unbehagen wächst. Er verflucht sich und schilt sich wegen seines Ehrgeizes, der ihn hierher nach Dänemark gebracht hat, so weit weg von all seinen geliebten Stätten und Menschen. Er ist am Ziel seiner Reise und fühlt sich doch verloren. In dieser Ankunft verbirgt sich eine schreckliche Abreise. Und plötzlich bewegt sich die Lampe seltsam schnell, alles im Zimmer scheint eine neue Gestalt anzunehmen. Peter Claire sieht seinen Schatten an der Wand länger werden, sich für ein paar Sekunden bis zur Decke hinauf ausdehnen, um dann von der Dunkelheit verschluckt zu werden, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen.
Sie erreichen nun das Ende des Flures, und der Herr bleibt vor einer Tür stehen. Er klopft und wartet, legt einen Finger an die Lippen und beugt sich zur Tür, um die Aufforderung zum Eintreten zu hören. Schließlich ertönt eine tiefe und gemächliche Stimme, und im nächsten Augenblick steht Peter Claire vor König Christian, der im Nachthemd auf einem Stuhl sitzt. Auf einem kleinen Tisch vor ihm befinden sich eine Waage und daneben ein Haufen Silbermünzen.
Als der König aufblickt, verbeugt sich der englische Lauten-spieler. Peter Claire wird sich immer daran erinnern, wie erstaunt König Christian aussieht, als er seiner in dieser dunklen Winternacht zum erstenmal ansichtig wird und ihm aufmerksam ins Gesicht schauend nur ein einziges Wort zuflüstert: »Bror.«
»Wie bitte, Sir …?« fragt Peter Claire.
»Nichts!« antwortet der König. »Ein Gespenst. Dänemark ist voller Gespenster. Hat Euch niemand davor gewarnt?«
»Nein, Euer Majestät!«
»Macht nichts. Ihr werdet sie noch selbst sehen. Wir gehören zu den ältesten Nationen der Erde. Ihr solltet jedoch wissen, daß wir jetzt eine stürmische Zeit haben, eine der Verwirrung, des Unfaßbaren, des brodelnden Durcheinanders.«
»Des Durcheinanders, Sir?«
»Ja. Deshalb wiege ich das Silber. Ich wiege dieselben Stücke immer wieder aufs neue, um jeden Irrtum auszuschließen. Auch die bloße Möglichkeit eines Irrtums. So versuche ich, dem Chaos Stück für Stück und Tag für Tag wieder Ordnung aufzuerlegen.«
Peter Claire weiß nicht, was er darauf erwidern soll; ihm wird bewußt, daß der große Herr, ohne daß er es bemerkt hat, aus dem Zimmer gegangen ist und ihn mit dem König allein gelassen hat. Dieser schiebt nun die Waage beiseite und macht es sich bequem.
Dann hebt König Christian den Kopf und fragt: »Wie alt seid Ihr, Mr. Claire? Woher kommt Ihr?«
In dem kleinen Raum, bei dem es sich um das königliche Studierzimmer, das Skrivestue, handelt, brennt ein Feuer, und es riecht süßlich nach Apfelbaumholz und Leder.
Peter Claire erwidert, er sei siebenundzwanzig Jahre alt und seine Eltern wohnten in Harwich an der Ostküste Englands. Er fügt noch hinzu, daß das Meer dort im Winter unerbittlich sein könne.
»Unerbittlich. Unerbittlich!« wiederholt der König. »Nun, wir müssen weitereilen, dieses Wort übergehen oder umgehen. Unerbittlich. Doch ich sage Euch, Lautenspieler, mich plagen die Läuse. Seht nicht so erschreckt aus! Sie sind nicht in meinen Haaren und nicht auf meinem Kopfkissen. Ich meine Feiglinge, Gauner, Lügner, Säufer, Betrüger und Lüstlinge. Wo sind die Philosophen? Das ist meine ständige Frage.«
Peter Claire zögert.
»Ihr braucht mir nicht zu antworten!« sagt der König. »Sie sind nämlich alle von Dänemark weggegangen! Nicht ein einziger ist geblieben!«
Nun steht Seine Majestät auf und geht hinüber zum Feuer und zu Peter Claire, greift nach einer Lampe und hält sie dem jungen Mann ans Gesicht. Er mustert ihn, und Peter Claire senkt den Blick, weil er angehalten worden ist, den König nicht anzustarren. Es ist ein häßlicher König. Die Könige Charles I. von England und Ludwig XIII. von Frankreich sind gutaussehende Männer in diesem bedrohlichen Augenblick der Geschichte, doch König Christian IV. von Dänemark soll zwar allmächtig, tapfer und kultiviert sein, hat aber ein Gesicht wie ein Laib Brot.
Der Lautenspieler, dem die Natur in grausamem Kontrast dazu ein Engelsgesicht verliehen hat, bemerkt Weingeruch im Atem des Königs. Er wagt es jedoch nicht, sich zu bewegen, nicht einmal, als der König die Hand ausstreckt und zart seine Wange berührt. Peter Claire galt mit seinen blonden Haaren und meerblauen Augen von Kindheit an als hübsch. Er macht nicht viel Wesens um sein Aussehen, vergißt es oft völlig, als warte er nur ungeduldig darauf, daß die Zeit es ihm nehme. Er hörte einmal, wie seine Schwester Charlotte Gott bat, ihr sein Gesicht zu geben, und dabei dachte er, daß es für ihn wirklich ziemlich wertlos sei und viel besser ihres wäre. Nun wird der Lautenspieler hier, an diesem fremden Ort, während er trüben und düsteren Gedanken nachhängt, wieder einmal unerwartet einer Musterung unterzogen.
»Aha! Aha!« flüstert der König. »Gott hat übertrieben, wie Er es so oft zu tun scheint. Hütet Euch vor der Aufmerksamkeit meiner Frau Kirsten, die ganz entzückt ist von blondem Haar. Ich rate Euch, in ihrer Nähe eine Maske aufzusetzen. Und alle Schönheit vergeht, doch das wißt Ihr natürlich, darauf brauche ich nicht eigens hinzuweisen.«
»Ich weiß, daß Schönheit vergeht, Sir.«
»Natürlich wißt Ihr das! Nun, Ihr solltet mir lieber etwas vor-spielen. Sicher ist Euch bekannt, daß wir Euren Mr. Dowland hier am Hof hatten. Es war mir ein Rätsel, wie so schöne Musik aus einer derart in Aufruhr befindlichen Seele kommen konnte. Dieser Mann war getrieben von Ehrgeiz und Haß, doch seine Weisen waren wie sanfter Regen. So saßen wir schluchzend da, und Meister Dowland tötete uns mit wütenden Blicken. Auf mein Geheiß hin nahm ihn meine Mutter beiseite und sagte zu ihm: ›Dowland, so geht das nicht, das können wir nicht dulden!‹ Doch er erklärte ihr, Musik könne nur aus Feuer und Zorn entstehen. Was meint Ihr dazu?«
Peter Claire schweigt einen Augenblick. Aus unerklärlichen Gründen tröstet ihn diese Frage, und er spürt, wie seine Erregung ein klein wenig abflaut. »Ich meine, daß sie zwar aus Feuer und Zorn entsteht, Sir«, erwidert er dann, »aber ebenso aus dem genauen Gegenteil – aus kühlem Verstand und Ruhe.«
»Das klingt logisch. Aber natürlich wissen wir eigentlich nicht, wo die Musik entsteht und warum, auch nicht, wann der erste Ton gehört wurde. Und das werden wir auch niemals wissen. Es ist die menschliche Seele, die ohne Worte spricht. Doch scheint die Musik Schmerzen zu lindern – das ist tatsächlich wahr. Ich sehne mich übrigens danach, daß alles durchsichtig, ehrlich und wahrhaftig ist. Nun, warum spielt Ihr mir nicht eine von Dowlands Lachrimae vor? Seine Begabung lag im sparsamen Einsatz der Mittel, und das liebe ich abgöttisch. Seine Musik läßt keinen Raum...
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