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ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Suhrkamp Verlag Berlin 2010
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Erste Auflage 2010
eISBN 978-3-518-74100-9
Bei ihrer ersten Begegnung waren sie beide Mitte Zwanzig und lebten zwar in der gleichen südlichen Hafenstadt, aber in vollkommen unterschiedlichen Welten. Sie hatte alles, was zu einem sorgenfreien Leben gehört. So empfand er es zumindest. Sie war mit einem erfolgreichen Mann verheiratet, der in Málaga als leitender Beamter in der Regionalverwaltung arbeitete. Sie besaß eine großzügige Eigentumswohnung in der Nähe der Strandpromenade, die ihre Eltern ihr vorausschauend zu einer Zeit gekauft hatten, als sie noch ein Kind war, und die sie seit ihrer Hochzeit mit ihrem Mann bewohnte. Darüber hinaus würde sie irgendwann ein auf den olivenbestandenen Hügeln außerhalb der Stadt gelegenes Grundstück mit Meerblick erben, das den Eltern gehörte. Mit einem Grundstück in solch einer Lage würde sie mehr als ausgesorgt haben, auch wenn María ihm versichert hatte, daß ihr das Grundstück heilig sei und sie es nie verkaufen würde.
Das Grundstück war bereits über mehrere Generationen in Familienbesitz und lange schon als Bauland ausgewiesen. Früher war es nur ein einfaches Stück Land gewesen, auf dem ihre Großeltern väterlicherseits Gemüse und Obst für den Eigenbedarf angebaut hatten und das von ihren Eltern auf die gleiche Weise genutzt wurde. Vor Jahren hatte ihr Vater dort sogar einmal ein paar Ziegen gehalten, was ihm aber irgendwann zuviel geworden war, denn es bedeutete, jeden Tag das Grundstück aufzusuchen, sich um Wasser, Futter und Stroh für den Stall zu kümmern, den Zaun in Ordnung zu halten und sich um Klauenpflege, Parasitenbehandlung und anderes mehr zu kümmern. María hatte Paul einmal ausführlich über die Vor- und Nachteile der Ziegenhaltung aufgeklärt. Sie kannte sich überraschend gut damit aus, dabei war sie nicht gerade der ländliche Typ, auch wenn sie aus Südspanien stammte. Sie war nicht dunkel- oder gar schwarzhaarig, sondern blond, allerdings in einem dunklen, honigfarbenen Ton, was in Andalusien gar nicht so selten vorkam und möglicherweise ein Erbe der Wikinger oder Normannen war. Paul beneidete María und die Familie um das Grundstück. Nicht so sehr wegen des Geldes, das man mit ihm gegebenenfalls erzielen konnte, sondern wegen der Sicherheit, die sein Besitz vermittelte. Wer Bauland, dazu noch mit Meerblick, in dieser Region besaß, der brauchte sich zumindest in finanzieller Hinsicht um nichts mehr Sorgen zu machen und würde für immer von Existenzängsten verschont bleiben.
Existenzängste hatte es in Pauls Familie immer gegeben, was auch damit zusammenhing, daß sein Vater einer einfachen Handwerkerfamilie entstammte. Der Großvater war Tischler gewesen, sein Vater hatte nach der Schule ebenfalls eine Tischlerlehre absolviert und sich unter größten Anstrengungen und in Abendkursen zum technischen Zeichner weitergebildet. Seine Mutter dagegen hatte noch nicht mal eine vernünftige Berufsausbildung, sondern bis zur Heirat und Familiengründung als ungelernte Kraft in einem Textilgeschäft gearbeitet. Zwar hatten sie es zu einem eigenen Haus im Braunschweiger Ortsteil Gliesmarode gebracht, waren aber viele Jahre mit dem Abzahlen der Kredite beschäftigt. Seine Eltern waren stolz auf ihr Haus, aber so sehr von den jahrelangen Schulden geprägt, daß sie sich auch dann nur wenig leisteten, als das Haus schon längst abbezahlt war. Wenn überhaupt, investierten sie in das Haus. Damit es immer anständig aussah. Der Gartenzaun, die Fassade, die Terrasse, die Fenster und das Dach – alles wurde beständig in einem perfekt renovierten Zustand gehalten, und sobald sich irgendwo kleine Schäden oder Spuren von Verwitterung zeigten, bestellte der Vater die Handwerker, falls er sich nicht selbst um die Reparaturen kümmerte. Seine Eltern wollten keinesfalls unangenehm auffallen, was allerdings mit den Jahren immer schwieriger wurde, da die ehemals bescheidene Wohngegend zusehends mit größeren Häusern von weitaus wohlhabenderen Besitzern bebaut wurde, als sie es waren. Die Siedlung für Arbeiter und kleine Angestellte verwandelte sich mit den Jahren in eine Siedlung für Bessergestellte, und das Häuschen seiner Eltern strahlte trotz der regelmäßigen Renovierungen eine zunehmende Ärmlichkeit aus, was die Mutter mehr als den Vater beschämte. Dem Vater genügte das Haus. Er war überhaupt ein genügsamer Mensch, ein wenig zu korrekt und pedantisch vielleicht, aber im Grunde gutartig und warmherzig.
Paul konnte sich über seine Eltern nicht beklagen. Sie hatten alles für ihren Sohn getan und auch sein Studium unterstützt. Daß er studierte und Akademiker wurde, war ihr größter Wunsch. Für Paul dagegen war das Studium der einzige Ausweg, da er handwerklich unbegabt war. Ihm schien es viel schwieriger, eine Tischlerlehre oder eine Ausbildung zum technischen Zeichner zu absolvieren, als beispielsweise Geschichte zu studieren. Die Tischlerei war eine hohe Kunst, das Anfertigen von Bau- oder Konstruktionszeichnungen ebenfalls, der Besuch von Seminaren und das Lesen und Referieren von Büchern fiel ihm dagegen nicht allzu schwer. Genausowenig wie das Schreiben von Referaten. Im Grunde mußte man ja gar nicht selbst denken als Student. Man mußte nur das bereits Gedachte halbwegs verstehen, speichern und gegebenenfalls wieder von sich geben. Das genügte. Irgendwo hatte er einmal gelesen, daß es zwei Sorten von Gelehrten gebe: zum einen die wahrhaften Denker und zum anderen die Denker von Gedachtem. Er zählte die meisten seiner Kommilitonen und auch viele Dozenten, die er während des Studiums kennengelernt hatte, zu letzteren. Und sich selbst natürlich auch. Er war ein Denker von Gedachtem und würde damit sicher keine glänzende akademische Laufbahn machen, aber die Prüfungen in Geschichte und Sozialkunde konnte man damit bestehen, und selbst der Doktortitel war nicht ausgeschlossen. Allenfalls Fremdsprachen empfand er als eine Herausforderung, denn er hatte sich nie für sonderlich sprachbegabt gehalten – und gerade deshalb und gleichsam aus Trotz während des Studiums beschlossen, neben Geschichte und Sozialkunde auch noch Spanisch zu studieren. Die spanische Sprache war ihm schließlich leichter gefallen, als er vermutet hatte. Und dies vielleicht allein deshalb, weil er Spanisch beziehungsweise Hispanistik nur nebenbei betrieb. Es kam nicht darauf an, wie gut oder schlecht er Spanisch sprach, und weil es nicht darauf ankam, entwickelte er eine ungehemmte Lernfreude, ging so oft wie möglich ins Sprachlabor, kaufte sich die entsprechenden Lehr- und Wörterbücher, darunter den zweibändigen Diccionario del uso del español und den Diccionario de la lengua española de la Real Academia Española, und war geradezu euphorisch, als er zum ersten Mal einen spanischen Text, und zwar einen mehrseitigen Auszug aus Juan Rulfos Pedro Páramo, lesen konnte, ohne ein einziges Mal im Wörterbuch nachschlagen zu müssen.
Die steinschweren Wörterbücher gehörten zu den Büchern aus seiner Studienzeit, von denen er sich wohl niemals trennen würde. Vieles andere war nicht nur dem Zeitgeist oder den verschiedenen Umzügen zum Opfer gefallen, sondern auch seiner Aufräum- und Wegwerfwut, die ihn des öfteren überkam. Er ertrug es nicht, wenn die Wohnung sich mit Dingen füllte. Wozu auch Bücher, Zeitschriften, Broschüren und Zeitungen gehörten, die für einen Studenten der Geschichte unerläßlich waren. Er hatte Kommilitonen, die lebten in ihren Wohnungen oder Wohngemeinschaftszimmern auf eine Weise, wie man sich das bei alten Gelehrten vorstellte. Die waren im vierten Semester und hatten Zimmer, die mit Büchern, Broschüren und Papieren vollgestopft waren. Paul hatte das eine Zeitlang enorm beeindruckt, diese bis unter die Decke reichenden Bücherregale und die Bücher- und Zeitschriftenstapel neben Schreibtisch und Bett. Hier waren geistige Existenzen zu Hause, hatte er immer gedacht, bis er irgendwann feststellen mußte, daß es sich dabei oft genug nur um Menschen handelte, die ihren Sammeltrieb nicht bändigen und keine Ordnung halten konnten und beileibe nicht alles, was sie um sich herum an geistigen Schätzen anhäuften, gelesen oder gar durchdacht hatten. Ein mit Büchern vollgestopftes Haus garantierte noch längst keine geistige Existenz. Im Gegenteil: Der Historiker Gerber, einer der Professoren, die Paul am meisten geschätzt hatte und noch immer schätzte, war seiner Meinung nach kein Denker von Gedachtem, sondern ein wirklicher Denker. Gerber lebte ohne viele Bücher um sich herum. Und dies trotz seiner Forschungstätigkeit und den zahlreichen Publikationen vor allem zur preußischen Geschichte einschließlich einer Monographie über den Großen Kurfürsten, die als Standardwerk galt. Aber auch zur Kultur- und Kunstgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts hatte Gerber publiziert, und hier wiederum speziell zu Karl Friedrich Schinkel und zum preußischen Klassizismus.
Paul hatte einmal ein Schinkel-Seminar bei Gerber besucht, das mit einer Exkursion auf die Berliner...
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