Schweitzer Fachinformationen
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Sein Name sei Ernest Ramon Ariel Walker-Petrakis, sagte er, und er bewohne eine Suite in einem Hotel am Central Park. Die er mir für heute Nacht überlassen wolle. Als er ein Taxi heranwinkte - »Sechs Blocks zu Fuß sind sechs zu viel«, fügte er hinzu und wedelte mit seiner Gehhilfe -, stieg ich ein und nahm auf der Rückbank Platz.
Er selbst setzte sich neben den Fahrer, der im Rückspiegel argwöhnisch meinen nackten Oberkörper musterte.
»Zum Plaza, bitte.«
Das Auto fuhr los.
Panik hämmerte ihre Klauen in mein Herz. Was tat ich hier? Hatte ich vollständig den Verstand verloren? Alles, was ich besaß, war weg. Wollte ich auch noch mein Leben verlieren?
Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen. Wie sehr ich mich jetzt dafür verfluchte, dass ich mein Messer während der Auftritte immer im Rucksack ließ. Mit einem Wildfremden in einem der teuersten Hotels der Stadt abzusteigen - das war definitiv etwas anderes, als jemanden übers Onlinedating kennenzulernen. Anhand der Profile konnte ich inzwischen ganz gut einschätzen, wer eine Lüge präsentierte und wer die Wahrheit zeigte. Wenn der Kerl wirklich keinen Sex im Sinn hatte, dann könnte er mich immer noch an jemanden verkaufen. Oder Schlimmeres. Selbst wenn ich es körperlich mit ihm aufnehmen konnte, wer garantierte mir, dass er keine Waffe bei sich trug? Oder Komplizen hatte, die in seiner Suite auf mich warteten? Er hatte meinen Namen gekannt. Was wusste er noch über mich? Wie lang hatte er mich beobachtet?
»Hier.«
Ernest - oder wie auch immer er in Wirklichkeit hieß - streckte eine Hand in meine Richtung aus, ohne mich anzusehen. »Googel mich.«
Ich zögerte keine Sekunde, sondern schnappte mir sein Handy. Im Notfall würde ich damit abhauen, sobald das Taxi hielt. Mein eigenes Telefon befand sich in meinem geklauten Rucksack.
Da das Handy bereits entsperrt war, klickte ich auf das Browser-Symbol und begann in die Suchleiste zu tippen. Schon nach »Ramon« wurde mir der gesamte Name vorgeschlagen. Über zehntausend Treffer.
Der aktuellste war ein Artikel eines Diamanten-Unternehmens mit dem Titel Unser Ass im Ärmel. Darunter: Ältester Mitarbeiter wird geehrt. Ich überflog den Text und blieb an einem Zitat von irgendeinem hohen Tier hängen. »Ernie, wie seine Freunde ihn nennen dürfen, ist Diamond Cruises. Unsere Gäste können sich keine Kreuzfahrt ohne ihn vorstellen, und wir sind gottfroh, dass er auch bei der Jungfernfahrt unseres ganzen Stolzes als Croupier im Casino zu finden sein wird.«
Ich klickte zurück. Wie sollte mich das absichern? Nur weil er nach außen hin ein angesehener Mitarbeiter von irgendeinem protzigen Scheißunternehmen war, hieß das nicht, dass er keinen Dreck am Stecken hatte. Und dann auch noch Glücksspiel.
Es gab weitere Artikel dieser Art sowie unzählige Social-Media-Accounts - von ihm persönlich, von dem Unternehmen, von Influencerinnen und Influencern. Auf einigen Fotos war er an einem Roulettetisch zu sehen, mit Prominenten an seiner Seite.
Meine Mutter wäre ganz aus dem Häuschen gewesen. Man könnte meinen, wenn man in New York lebte, gewöhnte man sich irgendwann daran, berühmten Leuten zu begegnen. Mom nicht. Seit ich denken konnte, hatte sie mehrere Klatschmagazine abonniert gehabt. Es hatte sie schon in Aufregung versetzt, wenn sie nur jemanden kannte, der einen Star getroffen hatte. »Ich weiß schon, dass es theoretisch Menschen wie du und ich sind«, hatte sie mal kichernd gesagt, nachdem ich mich zum wiederholten Male über ihr Hobby lustig gemacht hatte. »Aber sobald sie berühmt werden, sobald sie Geld haben, werden sie unantastbar, verstehst du? Und der einzige Weg, an sie ranzukommen, ist, ihre Privatsphäre zu verletzen und darüber zu fantasieren, was sie wohl gerade denken, was sie essen, in wen sie sich verlieben.«
Ich verurteilte sie schon längst nicht mehr dafür. Es war eine Flucht aus ihrem miserablen Alltag gewesen. Aus ihrer Ehe zu einem Mann, der nicht mit Worten, sondern mit Fäusten kommunizierte. Aus ihrer Krankheit, der sie hilflos ausgeliefert war. Aus einer Realität, in der sie erst ihren Job verlor, dann ihre Krankenversicherung und schließlich ihr Zuhause. Meine Mutter hatte sich nie gewünscht, berühmt zu sein. Alles, was sie sich je für ihren Sohn und sich gewünscht hatte, war Unantastbarkeit.
Das Taxi stoppte, und mein Kopf ruckte hoch.
Ernest hielt seine schwarze American Express an das Kartenlesegerät und streckte dem Fahrer zusätzlich einen Zwanzig-Dollar-Schein hin, den dieser, ohne mit der Wimper zu zucken, entgegennahm.
»Einen angenehmen Abend noch, Mr. W.-P.«
»Ernie, wie oft noch?«
Der Fahrer lachte, stieg aus, lief um das Taxi herum und öffnete Ernest die Tür, ehe er ihm nach draußen half.
Wie in Trance stieg auch ich aus. Wir befanden uns an der Kreuzung von Central Park und Fifth Avenue. Das imposante Gebäude mit seinen zwanzig Stockwerken, zahlreichen Fenstern und markanten Ecktürmen erhob sich vor uns, direkt gegenüber vom südlichen Rand des Parks.
Der Regen war noch stärker geworden.
Als sich das Taxi wieder in Bewegung setzte, richtete ich meinen Blick auf den Mann neben mir.
»Ich lasse mich nicht verarschen.«
Ernest nickte. »Das ist eine gute Lebenseinstellung.« Und mit diesen Worten setzte er sich schlurfend in Richtung Eingang in Bewegung, ohne sich zu vergewissern, ob ich ihm folgte.
Der Portier eilte ihm entgegen und hielt einen Regenschirm über ihn.
»Danke, danke, Jeff.«
Ich holte tief Luft. Ein Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf. Ich, nackt und gefesselt an ein Himmelbett. Eine Messerklinge an meiner Kehle. Dann der Lauf einer Pistole zwischen meinen Lippen. Zwischen meinen Beinen. Ich atmete aus. Das Bild verschwand. Ein beheizter Raum. Heißes Wasser. Kein Regen. Keine Lungenentzündung.
Du darfst weder vom Schlimmsten noch vom Besten ausgehen, Viktor. Überleben ist ein Balanceakt. Und die meisten Menschen wollen weder dein Leben retten noch es zerstören. Die meisten Menschen denken nur an sich. Also finde raus, was sie wollen, und nutze es für das, was du willst.
Genau in der Sekunde, nachdem Ernest die Treppenstufen nach oben genommen hatte und durch den beleuchteten Eingang im Inneren des Hotels verschwand, setzte ich mich in Bewegung. Das Handy ließ ich in meine Hosentasche gleiten.
Jeff, der rothaarige Portier, hielt mir den Regenschirm nicht über den Kopf. Aus verengten Augen musterte er meine nackte Brust. Doch er sagte nichts, als ich Ernest ins Innere folgte, und hielt mich auch nicht davon ab.
Die Lobby sah genauso aus, wie man das von der Lobby eines Luxushotels erwartete. Protzige Kronleuchter, Marmorsäulen, üppige Blumenbouquets, Stuck an den Wänden, auffallend attraktives Personal. Und Gold. So viel Gold.
Es roch auch anders. Als hätte man beim Übertreten der Schwelle die schmutzige, stinkende Stadt hinter sich gelassen und wäre in einem duftenden Paradies gelandet. Lavendel dominierte. Von irgendwoher ertönten sanfte Klavierklänge.
Sämtliche Angestellte begrüßten Ernest überschwänglich, der sich seinen Weg an der Rezeption vorbei zu den Aufzügen bahnte. Er grüßte sie alle zurück.
Mir schlug Argwohn entgegen, doch jede einzelne Person sah rasch wieder weg. Ich dagegen versuchte, ihre Blicke ein wenig länger festzuhalten. Prägt euch mein Gesicht ein, beschwor ich sie innerlich. Erinnert euch an mich, falls ich verschwinde.
Wie oft er wohl jemanden mit ins Hotel brachte, der nicht hierher passte? War das bereits zur Normalität geworden, oder spielte es schlichtweg keine Rolle, was ein Gast tat, solange er zahlte?
Die Aufzugtüren öffneten sich, Ernest trat ein und drehte sich um. Als er mich sah, verzogen sich seine Lippen zu einem anerkennenden Lächeln.
Ich erwiderte es nicht, sondern stellte mich bloß neben ihn und hielt dabei so viel Abstand wie möglich zwischen uns.
Nachdem er eine Schlüsselkarte an das Kartenlesefeld gehalten, auf die Sechs gedrückt hatte und die Türen wieder zugeglitten waren, wandte ich mich von ihm ab - und blieb an meinem Spiegelbild hängen. Meine Augen waren blutunterlaufen, die Ringe darunter schwarz wie die Nacht. Mein Bart war so lang wie noch nie.
Es gab ein paar simple Tricks, um im Alltag nicht direkt als obdachlos gelesen zu werden. Doch diese Tricks musste man sich leisten können. Da ich seit Nat niemanden mehr an mich rangelassen hatte, hatte ich mir auch nicht die Mühe gegeben, mich herzurichten.
Erste Etage. Mein Magen zog sich zusammen. Meine dunklen Locken klebten an meinen Schläfen und meinem Nacken.
Zweite Etage. Mein Oberkörper glänzte, ein frischer Kratzer zierte meine Leiste, und meine Jeans haftete an mir wie eine zweite Haut.
Dritte Etage. Meine Wangen wirkten eingefallen. Ich musste mehr essen. Das letzte Mal, als ich mich im Spiegel betrachtet hatte, hatte ich älter gewirkt. Gefährlicher.
Vierte Etage. Meine Lippen waren bläulich angelaufen.
Fünfte. Meine Hände zitterten.
Ich sah weg.
Sechste Etage. Mit einem Pling öffneten sich die Türen. Zu einer Suite, nicht zu einem Hotelflur. Alles war in Blau und Silber gehalten. Die schweren, bestickten...
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