Schweitzer Fachinformationen
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Langsam fügten sich hinter meiner pochenden Stirn Erinnerungsstücke zusammen und mir dämmerte, wo ich war: auf der Happy Days. Einem alten kleinen Kahn im Yachthafen mitten in Köln. Ich schaute auf die Uhr. Halb neun. Mein Zuhause, eine behagliche Villa im Stadtteil Rodenkirchen, nur ein paar Kilometer von hier, hatte ich verlassen, um mich hierher zurückzuziehen. Mein Leben dort hatte nach fast 25 Jahren geendet. Das war gestern. Heute traf es mich wie ein Schlag.
Ich hatte Mühe, die kaum anderthalb Meter hohe Holzklappe meiner Schlafkabine aufzustoßen, auf deren Boden sich eine Matratze befand. Endlich gelang es mir und ich robbte durch sie hindurch. Als ich mich aufrichten konnte, stand ich gleich neben dem Steuerrad, dahinter die Bootstür. Durch ihre milchige Scheibe erkannte ich die Umrisse meiner Cousine Maike, die draußen vor dem Boot auf dem Steg stand. Ich zog die Schiebetür auf, die zu meinem Schrecken gar nicht abgeschlossen war. Mein Boot zog seitlich an Maike vorbei. Ich hatte keine Kontrolle darüber. Dann zog es sich zu meiner Erleichterung wieder zurück. Vor Maike kam es zum Stillstand, nein, bewegte sich aufs Neue. Ein Schiff fuhr durch den Hafen, das Wasser war unruhig, meine Happy Days auch. Aber sie war angeleint, bewegte sich nur an den Tauen, die nicht stramm gezogen waren, vor und zurück.
Maike stand auf dem Steg und schaute dem Boot zu. Sie trug einen ihrer Kaftane, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, darunter eine Hose aus demselben Stoff im gleichen, hellen Blau. Eine Bäckertüte, randvoll mit Brötchen, verströmte ihren Duft, den ich tief in mich hineinsog. Uns trennten drei Stufen im Inneren und eine kleine Laufleiste außen ums Boot herum, kaum einen Fuß breit. Ihr linker Ellenbogen war aufgeschürft. Ich sah mich um. Über dem alten Holzsteuerrad hing ein alter Putzlappen. Wohl kaum das Richtige für die Erstversorgung ihrer Wunde.
»Dachte schon, du wärst heute Nacht mit diesem Ding abgesoffen oder vor Kummer ins Wasser gegangen.«
»Hab ich erwogen, dann aber gelassen.« Ich beugte mich vor über die Stufen und nahm ihr die Brötchentüte ab. »Komm rein.«
»Wie soll das gehen?«, fragte sie.
Meine Eingangstür lag etwa einen halben Meter höher als der Steg, hinzu eine circa zehn Zentimeter hohe Umrandung der Laufleiste, über die man hinübersteigen musste, und die Bewegung des Bootes. Auf einen ausgewachsenen Hengst stieg es sich leichter auf.
»Stell dich seitlich zum Boot und setze einen Fuß auf diese kleine Laufleiste hier oben. Halte dich an dem Griff über der Türe fest. Dann ziehst du den anderen Fuß nach, drehst dich leicht, sodass du mit dem Rücken zur Tür stehst, duckst dich und kommst rückwärts nach vorne gebeugt herein. Achtung, es folgen sofort Stufen auf der Innenseite. So jedenfalls mache ich es.«
Maike raffte ihren Kaftan hoch und folgte meinen Anweisungen. Sie stellte sich seitlich zum Schiff, hob den linken Fuß, setzte ihn auf die schmale Laufleiste der Bordwand, ich nahm ihre freie Hand, um ihr Halt zu geben. In diesem Moment fuhr hinter uns eine Yacht aus dem Hafen. Es kamen Wellen im Hafen auf, mein Boot driftete leicht ab, der Steg kam etwas hoch, als sie das zweite Bein anhob, sie schwankte, mir flog ein Brötchen aus der Tüte. Eilig zog sie den anderen Fuß nach und drehte sich rückwärts zur Tür. Mit eingezogenem Kopf und vorgebeugtem Oberkörper kam sie wie ein Klappmesser zu mir herein.
Ich versuchte, sie zu dirigieren. Dieses Manöver erforderte ein wenig Geschick, wenn man nicht die Stufen hinunterfallen wollte, die gleich hinter der Türe lauerten und ins Innere des Bootes führten. Auch die ging man besser rückwärts herunter, in gebeugter Haltung und mit eingezogenem Kopf. Maike meisterte den Aufnahmetest in mein neues Zuhause und stand nun mit mir im Eingangsbereich, gleich neben dem alten Steuerrad, dessen Holz schon einige Kerben aufwies. Das gefallene Brötchen gab ich verloren. Es war ins Hafenwasser gefallen und weichte darin auf.
Maike schnaufte ein wenig, als ich sie bat, mit mir drei weitere Stufen, ebenfalls rückwärts, hinabzugehen. Dort unten befand sich ein kleiner Raum mit Tisch und zwei gepolsterten Sitzbänken. Der Durchgang dorthin war schmal und niedrig, man zog besser den Kopf ein.
»Hast du einen Erste-Hilfe-Kasten?«, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. So weit hatte ich meine neue Bleibe noch nicht erkundet. Ich folgte ihr die Stufen herunter, bat sie, sich hinzusetzen, damit ich an ihr vorbeikam, und ging durch den engen Raum, den ich Salon taufte, in eine Mini-Küchenzeile, die sich dahinter befand. Hier passte auch nur einer von uns rein. Ich öffnete einen kleinen Holzhängeschrank, dessen Türen so laut knarzten, als würde es sie schmerzen, sich zu bewegen. Darin fand ich ein paar Heftpflaster und klebte ihr eins davon auf die Wunde.
»Habe einen von diesen E-Scootern ausprobiert«, erklärte sie, »weil ich die letzten Meter vom Auto nicht zu Fuß gehen wollte. Parke unter der Severinsbrücke. Es lief ganz gut, bis mir so ein junger Typ mit seinem Fahrrad die Vorfahrt nahm. Dann verlor ich die Balance und flog hin.«
»Ich weiß nicht, ob wir in unserem Alter noch auf diesem Kinderspielzeug unterwegs sein sollten.«
»Warum nicht? Ich bin doch jetzt im richtigen Alter.«
»Wofür?«
»Für alles.« Sie strich über ihr Pflaster. »Er war bestimmt zur Sturzgeburt seines ersten Kindes unterwegs.«
»Hat er das gesagt?«
»Nein. Aber ich nehme das zu seinen Gunsten an. Sonst müsste ich denken, er sei ein rücksichtsloser Dummkopf - und das möchte ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Es fühlt sich nicht gut an.«
»Wenn er es aber ist?«
»Bevor ich schlecht über jemanden denke, denke ich lieber gar nicht an ihn.«
»Klappt das?«, fragte ich.
»Ich übe es.«
Das musste ich auch mal ausprobieren und aufhören, an Adrian zu denken.
»Und du?«, fragte sie, »Überfallen worden? Vom Klabautermann?«
»So ungefähr. Die Schlafkajüte ist eng und niedrig. An der Decke hängt ein Balken, an den bin ich wohl gestoßen.« Ich fasste mir an die Stirn. »Habe geträumt, dass ich ertrinke. Kein Wunder, so wie sich das Boot hin und her bewegt.«
Die Happy Days war mit der Bugspitze am Steg festgemacht und längsseits rechts an einem schmaleren Seitensteg. Sie zog sich an ihren Leinen vor und zurück.
»Anfangs hatte ich Angst, dass ich aus der Parkbucht heraus in den Hafen treibe und das Schiff ohne mein Zutun ablegt. Aber dann zog es sich wieder sanft zurück. Ich kann ja so ein Boot gar nicht steuern. Ich wäre verloren, wenn es sich wirklich losreißen würde.«
»Besonders weit wärst du nicht gekommen, bevor die Hafenmauer dich aufgehalten hätte. Das Hafenbecken ist ja nicht sehr groß. Du hättest von Bord springen und zurück zum Steg schwimmen können«, sagte Maike.
»Nachts im Nachthemd.«
»Im Dunkeln hätte das ja keiner gesehen. Sonst gehst du heute Nacht besser im Badeanzug schlafen.«
»Danke für den Tipp.«
»Jederzeit.«
»Kaffee?«
»Bitte.«
Sie sah sich um. »Wo ist denn das Bett? Ich sehe keins.«
»Schau mal geradeaus die Stufen hoch.«
Ich zeigte auf die kleine Holzklappe oben gleich neben dem Steuerrad.
»Passt du da durch?«
»Ich robbe.«
»Das ist nichts für Phobiker.«
»Man spürt einen Hauch von Endlichkeit. Es fühlt sich an wie im Sarg.«
»Damit wollte ich mir eigentlich noch Zeit lassen.«
»Mach das.«
»Was?«
»Das mit dem Zeit lassen.«
Vornübergebeugt hatte sie sich in den schmalen Spalt zwischen Tisch und Bank geklemmt, um sich zu setzen. Alles war am Boden befestigt und ließ sich nicht verschieben.
»Hier wohnst du also nun«, sagte Maike.
»Erst mal«, antwortete ich.
Sie grinste. »Gemütlich.«
Ich war froh, dass sie meinen Entschluss weder hinterfragte noch kommentierte, und bot an, Kaffee zu kochen. In der winzigen Küche standen eine kleine Kaffeemaschine, ein Porzellanfilter und ein Wasserkessel. Ich suchte Tassen und Teller zusammen und legte die Brötchentüte auf den Tisch. Im Kühlschrank befanden sich noch ein bisschen Butter und Marmelade. Ansonsten war er leer.
»Ist mal was anderes.« Maike schnitt eines der Brötchen auf.
»Ja ja, das ist es.« Eigentlich fühlte ich mich selbst auf diesem Schiff, das inklusive Bugspitze kaum sechs Meter lang war, wie eine Sardine in der Dose. Aber ich war froh, erst mal eine Bleibe gefunden zu haben, die nichts kostete. Ich wunderte mich selbst, dass ich diese Entscheidung spontan getroffen hatte und wirklich von zu Hause weggegangen war.
»Du tauschst also ein Haus mit vier Schlafzimmern gegen ein altes, enges Boot auf dem Rhein und dein sicheres Leben an der Seite eines erfolgreichen Apothekers gegen eine ungewisse Zukunft ohne festen Boden unter den Füßen.«
»Der erfolgreiche Apotheker ist leider ein Hallodri.«
Sie nickte. »Mutig, Linda. Respekt.«
»Was ich jetzt brauche, ist nichts weniger als ein neues Leben. Und Geld. Ich brauche Arbeit.« Ich reichte ihr die Marmelade. »Willst du dir nicht schnell die Blutflecken aus deinem Kaftan waschen?«
»Jetzt bleibe ich erst mal sitzen. Ob ich je wieder herauskomme, ist fraglich. Schon beim Einatmen stößt mein Bauch an die Tischkante.«
Maike war mit ihren 1,70 Meter etwa so groß wie ich und rundum rund. Dieses schmale Boot war für jemanden...
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