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In der Politikwissenschaft gibt es nicht viele Binsenweisheiten, doch die Ansicht, die Repräsentation gehöre zum Wesenskern eines jeden Systems demokratischer Herrschaft, gilt vermutlich als Selbstverständlichkeit. Manche Menschen sprechen und handeln im Namen einer Gruppe, eines politischen Anliegens oder Ziels und repräsentieren damit die Gruppe und das Anliegen; andere verstehen sich in diesem Diskurs als Objekt und fühlen sich von ihm repräsentiert. Manche haben als Repräsentanten Macht inne; andere werden repräsentiert. »Für andere zu sprechen« und »vertreten zu werden« ist laut Hanna Pitkin, Autorin des Grundlagenwerks zu diesem Thema, The Concept of Representation, fundamental für das Verständnis des politischen Geschehens. In Pitkins Worten: »In der Moderne möchte fast jeder von Repräsentanten regiert werden [.]; jede politische Gruppe oder jedes politische Ziel wünscht sich Repräsentation; jede Regierung beansprucht zu repräsentieren.«1
Nur wenige Leser Pitkins sahen einen Grund, ihre Analyse infrage zu stellen, als sie 1967 veröffentlich wurde. Inzwischen jedoch erscheint sie zunehmend problematisch. Der Behauptung, fast jeder wolle »von Repräsentanten regiert werden«, steht eine anwachsende Fülle von Belegen entgegen, die darauf schließen lassen, dass viele Menschen von der Politik und den Politikern desillusioniert oder im Begriff sind, es zu werden - desillusioniert von unseren Repräsentanten und der Repräsentation.2 Im Vergleich mit den 1960er Jahren gehen wir seltener zur Wahl, wenn überhaupt. Immer weniger Menschen treten einer politischen Partei bei, immer weniger sind an Staatsbelangen und an der politischen Klasse interessiert (es sei denn, sie produziert einen Skandal). Die Bürger der fortgeschrittenen Demokratien trauen Politikern weniger über den Weg als jedem anderen Berufsstand, einschließlich Gebrauchtwagenhändlern. Angesichts solch alarmierender Indikatoren wollte der britische Guardian kürzlich in einer Umfrage wissen, ob die repräsentative Demokratie im »endgültigen Niedergang« begriffen sei.3
Was den zweiten Teil von Pitkins Feststellung betrifft (»jede politische Gruppe oder jedes politische Ziel wünscht sich Repräsentation«), stellen viele neu entstehende politische Gruppen und Initiativen explizit und implizit in Abrede, das Erbe der repräsentativen Politik antreten zu wollen. Occupy zum Beispiel weist ähnlich wie andere kürzlich entstandene Bewegungen die Vorstellung von sich, repräsentieren zu wollen, auch wenn sie behauptet: »Wir sind die 99 Prozent.« Lassen wir vorläufig die Frage beiseite, ob und in welchem Maße solche Erklärungen erfüllen, was sie beanspruchen: Repräsentation zu vermeiden, sie infrage zu stellen und hinter sich zu lassen. Zunächst einmal wollen wir uns mit dem Repertoire der Mittel, Manöver und Gesten beschäftigen, die Gruppen zu ihrer Distanzierung von der »repräsentativen Politik« verwenden. Anstelle einer Politik, die auf der Praxis des Sprechens und Handelns für andere basiert, finden wir eine Vielzahl von Formen und Stilen, die man als unmittelbare oder nicht vermittelte Politik bezeichnen könnte: direkte Aktionen, Flash-Mob-Proteste, über Twitter mobilisierte Bewegungen, Klingeldemonstrationen, Hacking, Sitzblockaden, Boykotte, Buycotts, Besetzungen und andere Interventionen direkter und praktischer Art. Politisch engagierte Bürger gehen in steigendem Maße nicht mehr zur Wahl, sondern handeln selbst. Sie treten keinen Massenparteien mehr bei, die um die Macht konkurrieren, sondern gründen Initiativen, Mikroparteien, Netzwerke, Nachbarschaftsgruppen, Runde Tische und erproben partizipatorische Experimente. Sie warten nicht auf Wahlen, sondern versuchen, ihre Ansichten, ihre Wut und ihr Missfallen unmittelbar zu äußern, hier und jetzt. Sie ignorieren die Medien, sie sind (um Indymedia zu zitieren) die Medien.
Selbst wer nicht besonders politisch aktiv ist, teilt das Misstrauen der Aktivisten gegenüber den Politikern und der politischen Klasse (den »Pollies«, wie sie hier in Australien wenig schmeichelhaft genannt werden). Wie es scheint, hören viele lieber auf Leute wie Bono, Slavoj Zizek, Jeremy Clarkson, Zac de La Rocha, System of a Down, Russell Brand, Glenn Beck und Michael Moore - nicht zuletzt, weil diese sich von der Welt der Politik und der Politiker distanzieren. Die Tatsache, dass Prominente, darunter so mancher Millionär, als authentische Stimmen einer entrechteten Bevölkerung verstanden werden können, während ihr Leben weiter von dem eines Durchschnittsbürgers entfernt ist als das vieler Politiker, verdeutlicht, wie verzweifelt die Lage bereits ist. Dasselbe gilt für den Erfolg antipolitischer und Protestparteien. Tatsächlich scheint sich eine Wechselwirkung zwischen der Antihaltung einer politischen Partei, ihrem Bestreben, sich vom politischen Mainstream abzugrenzen, und ihrer Popularität abzuzeichnen. Zurzeit ist die Tea Party ein klassisches Beispiel hierfür. Doch der Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des Beppe Grillo bei den italienischen Parlamentswahlen 2013 ist vielleicht noch symptomatischer für den Selbst-Widerspruch unserer Zeit: ein reicher Prominenter, der gegen die Korruption und Dekadenz der politischen Klasse lästert, während er selbst in relativem Luxus lebt. Die gegenwärtige Politik hallt zunehmend wider vom Klang der antipolitischen Politik und der antirepräsentativen Repräsentation.
In Anbetracht dieser Entwicklungen sollte es vielleicht kaum überraschen, dass die Frage der Repräsentation - was sie ist, wie sie funktioniert - von einem ziemlich vernachlässigten Aschenputtel-Thema zu einem, wenn nicht dem Gegenstand der heutigen politischen Debatte geworden ist. Nach dem Ruhen der wissenschaftlichen Debatte um das Konzept der Repräsentation (zweifellos zum Teil als Ergebnis der herausragenden Arbeit von Pitkin) erschienen in rascher Abfolge mehrere wichtige Texte, die sich mit einer Neubewertung des Wesens der Repräsentation beschäftigen: Bernard Manins Kritik der repräsentativen Demokratie, Nadia Urbinatis Representative Democracy: Principles and Geneaology, Mónica Brito Vieiras und David Runcimans Representation und Mike Sawards The Representative Claim, um nur einige zu nennen.
Neben diesen Arbeiten zur Bedeutung der Repräsentation hat sich ein akademischer Zweig etabliert, der sich mit der Krise der Repräsentation beschäftigt, mit Erklärungen und Empfehlungen, wie die repräsentative Politik zu erneuern oder zu regenerieren sei. Viele dieser Studien behandeln die Frage, wie man den einen oder anderen Aspekt des Systems der Repräsentation wieder instand setzen könnte. Sollte das Wahlsystem proportionaler werden? Sollten wir Minderheiten oder Frauen mehr ermutigen, sich zu engagieren? Sollten mehr Versammlungen stattfinden oder anders gestaltete Versammlungen oder mehr Möglichkeiten der Teilnahme geschaffen werden? Nach Ansicht vieler Experten sind junge Menschen besonders unempfänglich für Wahlen und die Mainstream-Politik. Sollten wir also politische Bildung in Schulen anbieten? Vielleicht liegt die Antwort im Beispiel Australiens oder Belgiens, wo eine Wahlpflicht besteht, durch die sich mit einem Streich ein Symptom unseres sinkenden Interesses beseitigen ließe. Auch über die staatliche Finanzierung politischer Parteien findet eine lebhafte Debatte statt.4 Wenn politische Parteien der Ort des demokratischen Lebens in repräsentativen Systemen sind, sollten wir dann nicht mehr tun und mehr Finanzmittel aufwenden, um sicherzustellen, dass die politischen Parteien angemessen funktionieren? Sollten wir nicht neue politische Parteien ebenso fördern wie die etablierten?
Andere Experten sehen jedoch das Kind bereits im Brunnen liegen. Der sorgenvolle Titel von Donatella Della Portas Buch Can Democracy Be Saved? spricht ebenso für sich wie Colin Hays Werk Why We Hate Politics. Wie aus den Analysen der beiden hervorgeht, mögen wir weder die Politik noch die Politiker und wünschen ihnen die Pest an den Hals. Mehr noch, wir geben den Politikern die Schuld an den meisten Übeln, die uns heimsuchen, sei es die Verarmung des öffentlichen Lebens oder die steigende Zahl von Immigranten im Zuge der Globalisierung. Die Politiker haben unsere Welt ins Chaos gestürzt, und jetzt bekommen sie ihre Quittung. John Keanes The Life and Death of Democracy, eine monumentale Geschichte der Demokratie von der Antike bis zur Gegenwart, benennt das Problem unverblümt: Die Demokratie scheint tot zu sein, ein Opfer der zunehmenden Unfähigkeit der Politik und der Politiker, die entscheidenden Fragen unserer Zeit anzupacken, geschweige denn zu lösen. Uns bleibe nur zu hoffen, dass man mithilfe von unabhängigen Beobachtern in irgendeiner Form jene, die Macht ausüben, zur Verantwortung ziehen kann gegenüber jenen, die unter den Launen der im Übrigen entrückten Politiker und Technokraten zu leiden haben. Wie es scheint, war der Guardian auf der richtigen Spur: Der endgültige...
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