Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Eine Prophezeiung
Mädchen wie ich werden ins Irrenhaus gesperrt - oder einfach gesteinigt. Wer Glück hat, wird mit jemandem aus einem rivalisierenden Clan verheiratet, in der Hoffnung, das Blut dieses Stammes zu verunreinigen. Ich bin das Produkt einer solchen Strafehe zwischen zwei Clans. Die Verheiratung meiner eigenwilligen Mutter mit meinem rebellischen Vater, den sie vor der Hochzeit noch nie gesehen hatte, sollte eigentlich für beide die Verdammnis bedeuten. Was die Stammesältesten nicht vorhergesehen hatten, waren zum einen die Liebe auf den ersten Blick und zum anderen, wie sich der Mut meiner Eltern und ihre geteilten Ideale zu einer Kraft vereinten. Was sie nicht vorhergesehen hatten, war ich. Und sie konnten unsere Familie aus paschtunischen Rebellen nicht davon abhalten, sich schamlos zu vermehren.
Selbst unter meinesgleichen galt ich als eine aus der Art geschlagene Tochter. Ich verabscheute Puppen, war unglücklich, wenn ich schicke Kleider tragen musste, und lehnte alles auch nur entfernt Feminine ab. In der Küche oder innerhalb der vier Wände unseres Hauses legte ich keinerlei Ehrgeiz an den Tag. Um nicht verrückt zu werden, musste ich draußen sein, unter freiem Himmel herumlaufen - genau das, was das Stammesrecht untersagte.
Als ich noch sehr klein war, lieh sich mein Vater einen alten Zenith-Fernseher und einen Videorekorder aus und besorgte auf dem örtlichen Basar ein gebrauchtes Video über das Jagdverhalten von Löwen. In diesem Film verbarg sich, wie in allem, was mein Vater uns zeigte, sei es auf dem Bildschirm oder in alten Büchern, eine Lehre fürs Leben, die wir ausfindig machen sollten. Und so saßen wir auf dem kühlen Lehmboden unseres Wohnzimmers und sahen zu, wie ein Löwe im Herzen der heißen afrikanischen Savanne eine Herde Gazellen belauerte. Löwen sind im Grunde sehr langsame Raubtiere, auch wenn sie einigen der schnellsten Tiere der Welt nachstellen. Körperlich war der Jäger von Anfang an unterlegen. Dennoch hockte er, hungrig, wie er war, wie ein fauler König im wogenden Gras und hielt seine Umgebung beiläufig im Blick. Ab und zu stand er auf, streckte sich und näherte sich seiner Beute um wenige Zentimeter. Wenn die Gazellen zu ihm hinüberschauten, starrte er völlig ungerührt zurück, ohne seine Absichten zu verraten. Die Gelassenheit der Gazellen beruhte auf der Tatsache, dass sie dem Löwen leicht davonlaufen konnten, doch dieser falsche Glaube sollte ihr Untergang sein. Der Löwe verfügte über zwei entscheidende Talente - mörderische Geduld und eine phänomenale Fähigkeit, sich zu verstellen. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie das elegante Tier aus dem Gras sprang und Zähne und Klauen in den ungeschützten Hals einer verdatterten Gazelle schlug, die nicht mitbekommen hatte, dass es schon eine Weile dort gelegen hatte. Wie dumm die Gazelle ist, dachte ich, und wie listig der Löwe.
* * *
Kurz vor meinem fünften Geburtstag beschwerte ich mich bei meinem Vater, ich könne kein weiteres erdrückendes Kleid mehr aushalten und wolle lieber weite Kleidung tragen, wie die Jungs, die ich draußen hatte spielen sehen. Er lachte und sagte, ich solle mir keine Sorgen mehr darüber machen. Vielleicht waren das gelbe T-Shirt und die Shorts in derselben Farbe, die er mir daraufhin auf dem Basar kaufte, der Auslöser für alles, was kam. Ich hörte nicht auf seine Warnung, diese Kleidung nur innerhalb der hohen Mauern unseres Grundstücks zu tragen. In meinem Teil der Welt ist es Mädchen verboten, sich unverhüllt auf die Straße hinauszuwagen, es ist haram - eine Sünde gegen Gott.
An dem Tag, an dem ich mein gelbes Outfit trug, lockte mich das Panorama der Gipfel und Täler hinter dem eisernen Eingangstor zu sehr. Ich war noch nie zuvor allein vor der Haustür gewesen und wollte so gern unter freiem Himmel herumlaufen. Das saubere, dunkle Haar mithilfe von Haarbändern in allen Regenbogenfarben aufgewickelt und hochgebunden, schlüpfte ich in die Mittagsglut hinaus. Das T-Shirt klebte mir sofort am Rücken, von meinen Zöpfen und Beinen tropfte der Schweiß. Die Sonne erhitzte meine Glieder, und ich hielt im Hof kurz inne, streckte die Arme aus und spürte, wie mich ein enormes Freiheitsgefühl durchströmte. Ich sah auf meine Beine hinab, auf die glatte Landschaft meiner gelenkigen Glieder, die so oft verborgen wurden und schon ganz rosa waren. Dann schob ich den Riegel zurück, drückte das schwere Tor auf und rannte. Ich kehrte unentdeckt zurück und erzählte niemandem, was ich getan hatte.
Eines schwülen Nachmittags kniete ich vor einer niedrigen Fensterbank, das Kinn in eine Hand gestützt, und starrte hinaus auf die weite Flussebene hinter unserem Haus. Meine Mutter hatte mir ein neues Kleid angezogen, der schwere Stoff war mit lauter Mustern aus Perlen und Seidennähten verziert. Es umschloss mich von Kopf bis Fuß, wie ein Sarg. Von draußen, wo eine Gruppe von Jungen spielte, schallte Gelächter herein, sie rannten herum und traten ganze Wolken trockenen Staub in die Luft, die mir die Sicht auf den gezackten Horizont nahmen. Ständig hörte ich, wie Füße gegen einen Ball traten, und ich spürte, wie mir beim Zusehen und Zuhören plötzlich eine Faust aus intensiver Hitze in den Bauch schlug. Die Jungs waren mindestens zu zehnt, alle in locker sitzender Kleidung, sie kickten zwischen den niedrigen Felsvorsprüngen einen Fußball hin und her. Der Ball wanderte im Zickzack von einem flinken Fuß zum nächsten, und ich, die im Haus saß, geriet in Panik, weil ich auf einmal mein Schicksal so klar vor Augen sah, als hätte ich meine Zukunft in einem Buch gelesen - ich würde, in hübsche Kleider gehüllt, für immer dazu verdammt sein, entweder zur Schule zu gehen oder im Haus zu bleiben. In jenem Augenblick wurde mein Herz zu Stein. Es gab kein Dazwischen für Mädchen wie mich, die draußen herumlaufen, spielen und Sport treiben wollten. Mir wurde plötzlich klar, dass ich trotz aller Bemühungen meines liberalen Vaters, trotz seiner Geschichten und der großen Karten der Kontinente, trotz allem, was er versucht hatte, mir beizubringen, niemals wirklich frei sein würde. In unserer Kultur bleiben Mädchen im Haus, still und verschleiert, lebenslänglich.
Über das, was ich als Nächstes tat, dachte ich nicht weiter nach. Ich stand einfach auf, zog mich vom Fenster in den kühlen Schatten zurück und riss mir das Kleid vom Leib, ich zerrte an den Nähten und den Ärmeln. Dann zog ich in schweigsamer Wut durchs ganze Haus, holte jedes einzelne meiner Kleider aus den Schränken und trug sie in den Garten. Eins nach dem anderen. Sie waren so schwer, dass ich eine Stunde dafür brauchte.
Die Kochstelle unter den Bäumen war flach, sie bestand nur aus vier Backsteinen und ein paar Stöcken unter einem Rost, doch ich wusste, wo meine Mutter das Petroleum und die Streichhölzer aufbewahrte - in einem Schränkchen auf einem Regal in der Küche. Ich beeilte mich, bevor ich es mir anders überlegen konnte, denn mir war klar: Wenn ich mir erlaubte, zu viel darüber nachzudenken, würde ich einen Rückzieher machen. Ich holte den vollen Kanister Petroleum herunter und zog ihn mit beiden Händen über den Boden, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, durch die Hintertür hinaus und geradewegs zur Kochstelle. Dabei hinterließ er eine tiefe Furche in der Erde. Die Kleider hatte ich bereits auf den Kochsteinen aufgestapelt, ihre Verzierungen reflektierten die Sonnenstrahlen, die Stoffe waren bleischwer. Selbst wenn der Wind durch den Garten pfiff, blieben die Kleider wie tot liegen, nichts bewegte sich. Als ich auf den Haufen starrte, zögerte ich nur einen Augenblick lang: Es war eine Schande, so viel Schönheit einzuäschern, doch wenn ich ignorierte, was ich wusste, besiegelte ich mein Todesurteil. Ich durchtränkte die Kleider mit Petroleum, das so klar war wie Wasser, und entzündete ein Streichholz. Dann trat ich einen Schritt zurück und sah zu, wie die Flamme auf meinen Befehl hin wie eine kleine Sternschnuppe durch die Luft flog.
Mit Macht schoss die Luft empor, sie fuhr mir durchs Haar und nahm mir den Atem. Der Kleiderstapel verschwand plötzlich hinter einer Flammenwand. Alle Perlen und Steinchen entzündeten sich und stiegen in einer Explosion aus roten Funken in den blauen, von schwarzen Rauchwolken erfüllten Himmel hinauf. Der leuchtend bunte Seidenstoff zerfiel innerhalb von Minuten in braune und schwarze Farbtöne. Ich lief ins Haus, suchte ein Hemd und eine Hose von meinem Bruder heraus - ein Outfit, das wir shalwar kameez nennen - und schlüpfte hinein. Dann ging ich in die Küche und nahm ein scharfes Messer. Einen Augenblick später hackte ich mir bereits dicke Strähnen meines schwarzen Haares ab und warf es büschelweise in die Flammen, wo es umgehend zu Asche wurde.
Mein Vater stand lange da und sah mir zu, ohne dass ich ihn bemerkt hätte. Sein Blick wanderte von seinem wilden, tanzenden Kind zu dem leblosen Kleiderhaufen. Viel später erfuhr ich, dass er an jenem Nachmittag ein anderes Mädchen in mir sah - die Schwester, die er viele Jahre zuvor nicht hatte retten können. Damals hatte er von einem Fenster im Obergeschoss aus beobachtet, wie sie ein Paar schwerer Zinkeimer voller Wasser über den Hof der Familie schleppte. Plötzlich hatte sie innegehalten und seltsam unbeweglich dagestanden. Er sah, wie erst der eine Eimer fiel, dann der zweite. Vergossenes Flusswasser lief über die heißen Steine, während die Eimer an ihren Füßen vorbeirollten, der Saum ihres Kleides tropfnass. Mein Vater hörte seine Schwester einmal qualvoll nach Luft ringen und sah dann, wie ihr Körper wie vom Blitz getroffen zu Boden fiel.
Als er bei ihr ankam, lag sie...
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