Schweitzer Fachinformationen
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Kaum erreicht das Taxi die Hügelkuppe, kommt der Hof in Sicht.
»Gleich sind wir da«, sage ich zum Fahrer.
»Schwer zu verfehlen«, erwidert er freundlich.
Als ich um halb sechs dort aufbrach, war es noch hell, doch jetzt, um kurz vor acht, breitet sich Dunkelheit über die Felder, nur hier und da sieht man ein erleuchtetes Fenster in den benachbarten Bauernhäusern. Unser Haus dagegen strahlt wie ein riesiger Weihnachtsbaum.
An den Lichterketten hat Jamie wirklich nicht gespart, denke ich mit einer Mischung aus Schuldgefühl und Neid.
Eigentlich hätte ich ihm gerne mehr bei den Vorbereitungen geholfen. Heute ist die große Party zu Mums siebzigsten Geburtstag und zur Pensionierung meiner Eltern, und ich habe es nicht mal geschafft, die ganze Zeit dortzubleiben. Um drei Uhr ging es los, aber nach nur zweieinhalb Stunden musste ich Emilie in unser Airbnb nach Harrogate bringen, und sie brauchte Ewigkeiten, um zur Ruhe zu kommen. Hoffentlich schläft sie durch, bis wir wieder da sind. Katy, die Babysitterin, macht einen kompetenten Eindruck, dennoch weiß ich nicht, wie sie damit zurechtkommen würde, wenn unsere fünfzehnmonatige Tochter so richtig zu schreien anfängt.
Mir fällt etwas ein. »Könnten Sie später noch mal wiederkommen und mich und meinen Mann abholen?«, frage ich den Fahrer.
»Leider nicht, ich habe jetzt Feierabend. Aber mein Kollege könnte die Tour wahrscheinlich übernehmen. Wann wäre das denn?«
»Um zwölf? Könnte er dann anschließend auch unsere Babysitterin nach Hause bringen? Sie wohnt nur wenige Minuten von uns entfernt.«
Ich warte, bis er die Rückfahrt organisiert hat, dann erst steige ich aus. Ich zögere, denn ich will mit meinen schwarzen High Heels nicht in den Dreck treten. Zum Glück steht der Wagen so, dass ich die Schuhe in den Kies setzen kann, und mir fällt wieder ein, was heute Nachmittag erzählt wurde: Jamie war den ganzen Morgen draußen und hat den Hof und die Einfahrt gefegt.
Jamie, Jamie, Jamie .
Mein Bruder, der, so kommt es mir oft vor, meinen Eltern deutlich nähersteht als ich, obwohl er nicht blutsverwandt mit uns ist.
Nachdem ich das Taxi bezahlt habe und ausgestiegen bin, muss ich gestehen, dass Jamie sich wirklich selbst übertroffen hat. Das Gehöft sah noch nie schöner aus.
Kreuz und quer über den Hof sind die vielen Lichterketten gespannt, die sich in den dunklen Scheiben der Fenster im ersten Stock spiegeln. Sie werfen einen warmen Schein auf die Sandsteinmauern von Wohngebäude und Scheunen. Teelichter in Laternen flackern auf pastellfarben gestrichenen Metalltischen, bunte Girlanden baumeln über den Köpfen im aufsteigenden Qualm der Zigaretten.
Ich lasse den Blick über die Gäste schweifen und stelle fest, dass sich meine Eltern mit ihren Bekannten ins Haus zurückgezogen haben. Sie haben noch nie zu denen gehört, die sich der jüngeren Generation zwanghaft aufdrängen.
Mein Blick bleibt an Theo hängen, der mit Jamie und einer mir nicht bekannten jungen Frau an einem himmelblauen Tisch sitzt. Sein dunkles Haar reicht nicht ganz bis zum Kragen seines schwarzen Hemds. Zwischen seinen langen, schlanken Fingern wippt eine qualmende Zigarette, ein nur allzu vertrauter Anblick. Er führt sie an die Lippen und inhaliert tief, kurz leuchtet sein Gesicht auf, und man erkennt seinen markanten Kiefer und die absolut gerade Nase.
Das Taxi wendet, ich trete zur Seite und verfolge, wie die Scheinwerfer über das Feld schweifen und auf das kleine Wäldchen an der unteren Weide fallen. Der weiße Stamm der einsamen Birke dort blitzt auf wie ein Leuchtturm, bevor der Baum wieder in der Dunkelheit verschwindet.
Aus den Außenboxen erklingen Synthesizer und Schlagzeug, und »Repeat« von Cid Rim feat. Samantha Urbani ertönt.
Die Musik hat Jamie sicher auch ausgesucht. Lächelnd gehe ich in den Innenhof.
Jamie entdeckt mich als Erster. Er springt auf und stößt sich fast den Kopf am Heizpilz. Mit seinen knapp eins achtzig ist er schon ziemlich groß, doch seine schwarzen Haare, an den Seiten kurz, oben wild und lockig, lassen ihn noch mal mindestens fünf Zentimeter größer erscheinen.
Mit weit ausgestreckten Armen, ein breites Grinsen im Gesicht, ruft er aus vollem Halse: »SCHNEEWITTCHEN!«
Den Spitznamen hat er mir vor vielen Jahren einmal im Winter verpasst, als mein Gesicht zugegebenermaßen wirklich blass war - besonders im Vergleich zu seinem warmen braunen Hautton. Mehr Ähnlichkeit mit der Märchenprinzessin habe ich allerdings nicht: Meine langen Haare waren damals hellbraun, nicht schwarz wie Ebenholz, und meine Augen sind graugrün statt braun. Bevor ich mir damals eine Erwiderung einfallen lassen konnte, mahnte er mich mit todernstem Gesicht: »Hey, keine rassistischen Sprüche!«
Theos Kopf schnellt zu mir herum - so wie alle anderen Köpfe draußen im Hof -, hastig drückt er seine Zigarette aus. Als ich mich ihm nähere, grinst er mich frech und gleichzeitig schuldbewusst an.
»Ich habe aufgehört! Diesmal wirklich. Hundertprozentig!«, zitiere ich sein Versprechen, das er mir noch vor wenigen Monaten gegeben hat.
»Das war nur die eine«, entgegnet er mit rauerer Stimme als sonst.
»Klar«, sage ich trocken.
»Okay, vielleicht die zweite.« Er lächelt mich an und setzt seinen besten beschwichtigenden Welpenblick auf. »Du warst ewig weg!«
Ich lasse mich auf den Themenwechsel ein. »Ich weiß«, brumme ich.
Die junge Frau am Tisch stutzt demonstrativ und sieht mich mit großen leuchtenden Augen unter einem dichten kupferfarbenen Pony an. »Leah?!«, fragt sie.
Unvermittelt habe ich sie in jüngeren Jahren vor Augen, allerdings unscheinbarer und pummeliger.
»Hallo!«, sage ich, und sie springt auf, um mich in den Arm zu nehmen.
Mir will ihr Name einfach nicht einfallen.
»Danielle«, artikuliert Jamie lautlos hinter ihr.
Wie konnte ich das vergessen?
»Danielle!«, rufe ich und halte sie auf Armeslänge Abstand, um sie näher zu betrachten. Theo zieht einen rosafarbenen Stuhl an den Tisch. »Ich muss was trinken«, murmele ich vielsagend.
»Ich hol dir was«, bietet er an.
»Warum hast du denn so lange gebraucht?«, erkundigt sich Jamie, als ich mich hinsetze.
»Emilie war total aufgedreht. Als hätte sie ein ganzes Kilo Zucker gegessen.«
»Sie hat heute Nachmittag zwei Stück von der Geburtstagstorte gehabt, außerdem den restlichen Zuckerguss von deinem Vater«, erklärt er belustigt.
»Verdammt nochmal! Warum hat er das erlaubt?«
»Ich glaube, er hat's gar nicht gemerkt.«
»Warum hast du nichts dagegen getan?«, frage ich.
»Sie war so glücklich«, erwidert Jamie fröhlich und hebt kapitulierend die Hände.
Leidgeprüft verdrehe ich die Augen und lächele Danielle an. »Wie geht's dir denn?«
Danielle, Jamie und viele andere Gäste im Alter zwischen zwanzig und vierzig, die heute hier sind, waren früher mal Pflegekinder meiner Eltern. Ich bin mit achtzehn zum Studieren nach London gegangen und habe die Hauptstadt zu meiner neuen Heimat gemacht, deshalb sind auch Ehemalige dabei, die ich noch nie gesehen habe. Andere sind mir vertrauter, so wie Shauna, die zwei Jahre bei uns war und noch immer in der Nähe wohnt.
Manche lebten nur kurz bei uns: Danielle blieb lediglich wenige Monate, solange ihre Mutter im Entzug war. Genau wie George, der dennoch eine Narbe in meinem Herzen hinterließ, an die ich auch heute noch manchmal erinnert werde, obwohl ich ihn eigentlich nur kurze Zeit kannte.
Jamie hingegen rauschte mit dreizehn Jahren in unser Leben, um zu bleiben. Vor kurzem ist er dreißig geworden, und obwohl er schon seit zehn Jahren nicht mehr auf dem Hof lebt, schaut er doch fast jeden Tag bei meinen Eltern vorbei. Ohne ihn wären sie ziemlich aufgeschmissen.
Mum und Dad sind nun endlich im Ruhestand, ihre Erziehungskompetenz werden sie aber nie verlieren, und so sehen sie sich auch in Bezug auf alle jungen Menschen, die jemals bei ihnen lebten: als Eltern. Die, die bei ihnen in Pflege waren, verließen das Haus irgendwann mit dem guten Gefühl, dass die Tür immer für sie offen stehen würde. Pflegekinder zu haben war für meine Eltern kein Beruf, sondern eine Berufung. Das ist auch der Grund, warum sie mit so vielen ehemaligen Schützlingen noch Kontakt haben und warum sich so viele die Mühe gemacht haben, heute herzukommen.
Natürlich gibt es auch Ausnahmen.
»Ich schaue mal nach Mum und Dad«, sage ich zu Theo, als er mir mein Getränk bringt.
Sie sitzen im Wohnzimmer, umringt von Freundinnen und Freunden. Meine Eltern sind...
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