Schweitzer Fachinformationen
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»Nell!«, rief Vian, als er durch die Haustür hereinplatzte. »Wo bist du?«
»Hier.« Sie saß am Küchentisch. Obwohl sie erst vor einer halben Stunde von der Schule heimgekommen war, begann sie schon mit ihren Hausaufgaben, die sie über das verlängerte Wochenende aufbekommen hatten.
Vian hatte wie immer keine Lust zum Lernen.
Er konnte sich kaum zusammenreißen, fuchtelte wild mit den Armen und rief: »Im Fluss ist ein Entenküken! Es hat seine Mutter verloren! Schnell!«
Sofort sprang Nell auf und lief ihm nach.
Schon oft hatten die beiden darüber gesprochen, wie viel Spaß es machen würde, ein Küken großzuziehen, doch bisher hatte keins das zweifelhafte Vergnügen genossen, sich ihnen zur Verfügung stellen zu müssen.
Scampi ließ sich von der Aufregung der Kinder, die den Hang hinunter ans Ufer rasten, anstecken, doch Nell konnte das Piepsen des Kükens trotz des lauten Hundegebells hören. Zwischen den Zweigen der Trauerweide erhaschte sie einen Blick auf das gelbbraune Federkleid.
»Bring Scampi ins Haus und hol die Rettungswesten!«, befahl Vian. »Ich mache das Boot fertig.«
»Aber deine Mum hat gesagt, dass sie nicht gestört werden will«, warf Nell ein.
Nells Vater war noch auf der Arbeit, und Ruth malte in ihrem Atelier - das kleine Nebengebäude, fünf Meter vom Cottage entfernt. In früheren Zeiten war darin eine komplette Familie untergekommen, doch schon in Geoffs Kindheit hatte man es renoviert und zu einem Spielzimmer umgebaut.
»Wir stören sie ja gar nicht«, erwiderte Vian mit durchtriebenem Grinsen. »Los, beeil dich, bevor das Küken weg ist.«
Aus der Fließrichtung der Wellen schloss Nell, dass gerade Ebbe war, und sie wusste, dass das Wasser erstaunlich schnell ablief. Sie war noch nie auf Grund gelaufen, aber es gab immer ein erstes Mal, deshalb war sie so klug, zwei Paar Gummistiefel und das Netz für die Fahrt im Boot mitzubringen, das sie immer zum Krabbenfischen benutzten.
Auch wenn Nell Angst hatte, später eine Standpauke zu bekommen, weil sie allein mit dem Boot rausgefahren waren, war ihr Verantwortungsgefühl stärker. Sie hatte schon gesehen, wie verirrte Küken von großen Reihern aus dem Fluss gefischt wurden, deshalb war ihr bewusst, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten. Mit dem Netz in der Hand saß Nell im Heck und drehte sich so, dass sie aufs Wasser schaute. Angestrengt lauschend, vernahm sie bald das Piepsen des Vogeljungen.
»Da!« Sie zeigte hinüber. Das Küken verschwand immer wieder zwischen den Zweigen, die übers Wasser strichen. Es bewegte sich in Richtung der Brücke. Dahinter würde es in einen Zufluss gelangen, der mit dem Boot nicht befahrbar war.
Mit frischer Entschlossenheit ruderte Vian weiter. Nell reckte sich über Bord, wollte ihre Beute fischen wie beim Entenangeln auf der Kirmes, doch das Küken paddelte erstaunlich schnell davon. Vian setzte ihm nach, und abermals blieb Nells Netz leer. Ein Auto fuhr über die Brücke. Nell schaute hoch und erkannte gerade noch das blasse Gesicht eines braunhaarigen Jungen, der zu ihnen hinunterschaute. Als sie den Blick wieder auf den Fluss richtete, war das Entlein verschwunden.
»O nein!«, rief Vian.
Nell hörte die Panik in seiner Stimme. Er hatte Angst vor den Sandbänken in der Mitte des Flusses, die glitschigen Walrücken glichen.
»Wir drehen besser um«, sagte er kleinlaut.
»Auf gar keinen Fall!«, entgegnete Nell. Sie hatte Nerven wie Drahtseile. »Notfalls steigen wir aus und waten da durch!« Sie schaute über das Wasser. »Wo bist du, kleines Küken?«, rief sie. »Wir wollen dich doch retten!«
»Da!«, meldete Vian und wies zur Brücke hinüber. Schnell ruderte er hin und verzog das Gesicht, als das Ruderblatt auf das Flussbett traf. In dem Bewusstsein, dass es ihre letzte Chance war, hielt sich Nell am Rand fest und beugte sich so weit wie möglich vor. Als es einen Ruck gab, fiel sie fast über Bord. Das Boot war auf Grund gelaufen und würde jetzt erst mal gute sechs Stunden bis zur Flut dort liegen bleiben, doch das störte die Kinder nicht, denn im Netz war das Entenküken. Nell und Vian waren überglücklich.
Als sie nach Hause kamen, stand Ruth mit einem Pärchen und einem Kind vor dem Cottage.
Ruth verkaufte nicht nur Bilder, sondern arbeitete auch als Verwalterin für den Besitzer mehrerer Ferienhäuser oben im Dorf. Wahrscheinlich war die Familie da, um die Schlüssel abzuholen.
»Was ist denn mit euch passiert?«, rief Ruth beim Anblick von Nell und Vian.
Sie hatten ihre Gummistiefel am Fluss gelassen und waren barfuß nach Hause gegangen. Ihre Beine waren bis zu den Knien mit dickem Schlamm überzogen.
Strahlend präsentierte Nell das Küken, doch schnell war sie ernüchtert, als sie Ruths entsetztes Gesicht sah.
»O nein!«, rief Ruth. »Bringt es zurück!«
»Das geht nicht, Mum«, mischte Vian sich ein. »Dann stirbt es.«
»Seine Mutter ist bestimmt irgendwo am Fluss und sucht es«, sagte Ruth.
»Nein, da war keine Ente«, beharrte Vian. »Es war ganz allein. Wir mussten es retten.«
Ruth seufzte, und als sie weitersprach, klang sie resigniert. »Kate, Simon: Das sind Nell und Vian.«
Nell lächelte die Erwachsenen an. Das Kleid der Frau gefiel ihr - es war hellblau und umspielte ihre Knöchel.
»Und das ist Edward«, stellte Kate ihren Sohn vor und schob ihn den Kindern entgegen.
Er war ungefähr so groß wie Nell, hatte hellbraune Haare und ein offenes, freundliches Gesicht. Seine Augen waren groß und dunkel. Sie erinnerten Nell an Bastian aus Die unendliche Geschichte. Den Film hatte sie einen Monat zuvor im Kino gesehen. Ihr hatte der Film sehr gefallen.
»Warum seid ihr so dreckig?«, fragte Ruth entnervt.
Nell sah zu Boden.
»Wir sind bei Ebbe auf Grund gelaufen«, murmelte Vian.
»Ihr seid mit dem Boot rausgefahren? Allein? Wo ist es jetzt?« Bei jeder Frage wurde Ruths Stimme höher.
Vian wies auf das Rinnsal unten. »Wir haben es an einem Ast festgebunden, damit es nicht aufs Meer rausgezogen wird.«
»Du liebe Güte!«, sagte Ruth kopfschüttelnd. Dann wandte sie sich Kate und Simon zu. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Kein Problem«, erwiderte Kate lächelnd. »Wir sind Ihnen dankbar, dass wir einen Tag früher kommen durften.« Normalerweise war samstags Bettenwechsel. »Wir können ja noch ein bisschen herumfahren und dann wiederkommen.«
»Sie können auch erst mal einen Tee trinken. Wie wäre das?«, schlug Ruth vor. »Die Putzfrauen sind gründlich und schnell. In einer halben Stunde können Sie bestimmt rein.«
»Eine Tasse Tee wäre herrlich«, sagte Kate. »Wir haben eine lange Fahrt hinter uns. Aber keine Eile. Machen Sie ganz in Ruhe.«
Alle schauten auf das Küken in Nells Händen. Die Augen des Entleins öffneten und schlossen sich schläfrig. Es war erstaunlich ruhig.
»Ich würde sagen, ihr setzt es erst mal in die Badewanne«, sagte Ruth. »Ich lasse schon mal das Wasser ein. Ihr zwei geht zum Wasserhahn im Garten und macht euch sauber. So dreckig kommt ihr mir nicht ins Haus.«
Die Erwachsenen gingen hinein, die drei Kinder liefen ums Cottage herum nach hinten.
»Ich kann es so lange halten«, bot Edward Nell an, als sie am Gartenschlauch standen.
»Nein, ich halte es«, bestimmte Vian. »Moment.« Er fing an, sich mit dem eiskalten Wasser zu waschen. Zu seiner Verärgerung blieb Edward stehen.
»Ist das winzig!«, sagte er, als Nell die Hände öffnete, um ihm das daunige Wesen zu zeigen. Das Küken reckte den Hals und versuchte, aufzustehen. Es piepste mehrmals schrill.
»Es ist wahrscheinlich erst ein paar Tage alt«, erklärte Nell und schloss die Hände wieder, so dass sich das Küken klein machen musste. Ihr gefiel es, wie sich die feuchten Schwimmflossen auf ihren Handflächen anfühlten.
Sie konnte immer noch nicht glauben, was für ein Glück sie gehabt hatten.
»Wie weit ist es von hier bis zum Strand?«, fragte Edward.
»Es gibt ganz viele Strände«, antwortete Nell. »An einem, der ganz in der Nähe ist, lernen wir gerade surfen, nicht, Vian?«
Er brummte nur.
»Ich würde auch gerne surfen«, sagte Edward.
»Dann komm doch mit!«, schlug Nell sofort vor.
»Geht das?«, fragte Edward. Vian warf Nell einen strafenden Blick zu.
»Ja, klar! Du musst nur deine Eltern fragen.« Sie ignorierte Vian. Nell freundete sich schnell mit anderen Kindern an, Vian gewöhnte sich erst mit der Zeit an sie. Am Anfang sträubte er sich immer gegen Neues.
»Gut, mach ich«, sagte Edward.
»Wie alt bist du?«, fragte Nell aus Höflichkeit, während sie darauf wartete, dass der Schlauch frei wurde. Vian schien Ewigkeiten zu brauchen und nicht voranzukommen. Der Flussschlamm klebte wie Kleister.
»Zehn, aber fast elf. Und du?«
»Auch zehn«, erwiderte Nell. Sie wies auf Vian. »Vian auch. Er hat zwei Tage vor mir Geburtstag.«
Edward war verwirrt. »Seid ihr Zwillinge?«
»Wie sollen wir wohl Zwillinge sein, wenn wir nicht am selben Tag geboren wurden?«, fragte Vian mürrisch.
»Wir sind keine richtigen Geschwister«, erklärte Nell, unbeirrt von Vians Laune. »Mein Vater ist mit seiner Mutter zusammen, aber meine richtige Mutter lebt in Frankreich und Vians richtiger Vater in Australien. Wo wohnst du?«
»In London«, antwortete Edward.
»Ich auch!«, rief Nell. »Ich meine, da habe ich gewohnt, bis meine Mutter weggezogen ist. In den Sommerferien fahre ich zu ihr nach Frankreich.«
Die Erinnerung daran schien Vian merklich zuzusetzen. Er tat...
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