Schweitzer Fachinformationen
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Aus dem Erdgeschoss drang der Lärm zu ihm herauf. Das Scharren auf dem Boden von schweren Gegenständen, die hin und her geschoben wurden. Türen, die aufgestoßen wurden und gegen Wände krachten. Gepolter, weil Dinge unsanft abgestellt oder fallen gelassen wurden.
Sixten Nordin starrte aus dem Fenster seines Büros über das Kattegat und seufzte.
Er wusste genau, was dort unten passierte. In der großen Halle, in der die Konstruktionstische und Modelle standen, wurde alles Arbeitsmaterial beiseitegeschoben. Stattdessen baute man eine Bühne auf, Stehtische mit weißen Lacktischdecken und ein exquisites Büfett. Die Firma, Nordins Schiffs- und Bootsbau, feierte ihr fünfundsiebzigjähriges Bestehen. Es würde Reden geben und Musik, Häppchen mit Kaviar und Lachs und natürlich Champagner. Politiker, Honoratioren, Geschäftspartner, alle würden da sein. Und niemand würde ahnen, wie dünn das Eis war, auf dem sie tanzten.
Sixten fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht. Er war ratlos, was er tun sollte.
Er hatte geglaubt, das beste Geschäft seines Lebens abzuschließen, und nun glitt ihm alles aus den Händen.
Eigentlich war es nicht seine Schuld. Sein Onkel Halvar hatte ihm den Kontakt zu dem deutschen Holzgroßhändler vermittelt. Er hatte ihm geraten, das Teakholz, das sich einer ihrer wichtigsten Kunden für das Deck seiner neuen Jacht wünschte, von dort zu beschaffen. Der Preis war günstig gewesen, die Lieferung schnell und unkompliziert, die Ware von hervorragender Qualität.
Wie hätte er wissen sollen, dass das Holz illegal geschlagen, falsch deklariert und gesetzeswidrig importiert worden war? Als ein paar Tage zuvor ein Ingenieur bei einem Treffen der Göteborger Schiffbau-Vereinigung davon berichtet hatte, dass das Lager des deutschen Großhändlers geräumt worden war und die Staatsanwaltschaft ermittelte, hätte ihn beinahe der Schlag getroffen. Noch hatte man die Lieferung nach Schweden offenbar nicht nachverfolgt, doch Sixten rechnete jeden Moment damit, dass die Sache aufflog. Der Schaden, der dem Familienunternehmen entstand, wenn er das Holz nicht verwenden konnte, den Kaufpreis nicht erstattet bekam und womöglich noch eine Geldstrafe zahlen müsste, wäre in der gegenwärtigen angespannten Lage nicht zu verkraften.
Fünfundsiebzig Jahre lang hatten drei Generationen von Nordins den Betrieb sicher durch unwägbare Gewässer geführt, Stürme und Flauten überstanden. Und er, Sixten Nordin, würde die Flotte möglicherweise im Handstreich versenken, zwei Jahre nur nachdem er die Geschäfte von seiner Mutter übernommen hatte.
Onkel Halvar hatte ihm geraten, das Angebot der Chinesen anzunehmen, ehe Polizei und Zoll in der Firma aufkreuzten. Zu verkaufen, solange der Betrieb noch etwas wert war. Aber das würde er nicht tun.
Er hatte das Geschäft mit den Deutschen nach bestem Wissen und Gewissen abgeschlossen. Die Rechtslage war kompliziert. Es war nicht gesagt, dass man ihn und die Firma zur Rechenschaft zog. Auf keinen Fall würde er einfach aufgeben. Er würde kämpfen und seiner Mutter beweisen, dass es kein Fehler gewesen war, ihm den Betrieb anzuvertrauen.
Allein um ihretwillen musste er weitermachen. Sie brauchte jetzt jeden Halt, den sie bekommen konnte. Alles andere würde über ihre Kraft gehen.
Sixten löste sich vom Fenster und ging über den Flur in den Waschraum. Er rückte den weißen Hemdkragen zurecht und korrigierte den Sitz der Krawatte, die das Firmenemblem trug, einen stolzen Dreimaster mit aufgeblähten Segeln. Sixten strich ein paarmal über die Aufschläge des dunklen Jacketts und befeuchtete seine Finger, um die blonden Haare zurückzustreichen. Er war zu blass, wie immer, aber daran konnte er nichts ändern. Seine Stärke waren nicht sein gutes Aussehen oder seine Ausstrahlung, sondern seine Intelligenz und sein Ehrgeiz. Zwei erfolgreich abgeschlossene Studiengänge und harte Lehrjahre im Bootsbaubetrieb. Er hatte das alles durchgestanden, weil er wollte, dass seine Mutter stolz auf ihn war.
Das war die Währung, in der man in ihrer Familie zahlte. Leistung und Anerkennung, nur darum ging es. Jedenfalls, seit sein Vater nicht mehr da war.
Sixten kehrte in sein Büro zurück und ließ den Blick erneut über die liebliche Göteborger Schärenlandschaft wandern. Kleine, graugrüne Perlen im blau schimmernden Meer. So unfassbar schön und friedlich. Und doch war genau dort das Schreckliche geschehen.
Sixten wandte sich vom Fenster ab. Er wollte nicht daran denken. Nicht an damals, nicht an seinen Vater und an das, was passiert war, und auch nicht an die Härte seiner Mutter. Die Vergangenheit spielte am heutigen Tag keine Rolle. Es ging einzig und allein um die Zukunft.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken.
»Herein«, rief er heiser.
Es war Tuva, seine Frau. Sie blieb im Türrahmen stehen, eine schlanke Gestalt, die ihn mit einem warmen Lächeln ansah, wunderschön mit ihren langen blonden Locken und dem blauen Kleid, dessen Farbe sich in ihren Augen spiegelte.
»Bist du bereit?«, erkundigte sie sich. »Die beiden deutschen Studentinnen, denen du die Werft zeigen wolltest, sind jetzt da.«
»Ja«, sagte Sixten, obwohl er es ganz und gar nicht war.
Tuva kam mit leichten Schritten auf ihn zu und korrigierte noch einmal den Sitz seiner Krawatte. »Um sechs solltest du zu Hause sein, damit wir uns in Ruhe umziehen können.«
»Das schaffe ich«, versprach Sixten.
Er sah ihr an, dass sie sich auf den Abend freute. Tuva ging gern unter Menschen, und sie liebte es, zu feiern und zu tanzen. Sixten fragte sich gelegentlich, warum sie einen Mann wie ihn geheiratet hatte, der steif, verkopft und unbeholfen im Umgang mit Menschen war, wenn es nicht ums Geschäft ging, aber das behielt er für sich. Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte.
»Dann lass die jungen Frauen nicht warten.« Tuva griff nach seiner Hand, zog ihn aus dem Büro, und sie liefen gemeinsam die Treppe in die Halle hinunter.
Sixten atmete tief durch.
Was auch immer geschah, vor den Studentinnen und bei der Feier heute Abend würde er sich nichts anmerken lassen. Er würde seine Rolle spielen. Sixten Nordin, der erfolgreiche Geschäftsführer von Nordins Schiffs- und Bootsbau. Er würde dafür sorgen, dass der Betrieb keinen Imageschaden erlitt. Und nach den Feierlichkeiten würde er darüber nachdenken, wie er den Karren am besten aus dem Dreck holte.
Jeder Schritt auf dem steinigen Weg war eine Qual. Ihre Nerven gehorchten ihr nicht mehr. Eine fremde Macht in ihrem Kopf hatte die Kontrolle übernommen und stahl ihr jeden Tag mehr von ihrer Selbstständigkeit und ihrer Würde. Ihr war ständig schlecht von den Medikamenten, und ihr Körper war zu einer absurden Monstrosität aufgedunsen. Sie vermied den Blick in den Spiegel, aber sie wusste, dass von der schönen Frau, die sie einmal gewesen war, nichts mehr übrig war.
Sie sah es auch in Halvars Augen. Früher hatte er sie angebetet. Jetzt stieß sie ihn ab.
Natürlich sagte er das nicht, und er versuchte auch, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie spürte es trotzdem. Er hatte aufgehört, sie zu begehren. Sie war nur noch eine Last für ihn.
Ihre Therapeutin riet ihr immer wieder, loszulassen. Es sich nicht unnötig schwer zu machen. Das Schicksal zu akzeptieren und ihren Frieden zu finden. Doch das konnte sie nicht.
Solange sie lebte, würde sie kämpfen. Schon allein deshalb, weil sie noch gebraucht wurde.
Sie blieb kurz stehen, um sich auszuruhen.
Das Haus war eigentlich ein alter Bootsschuppen. Es stand auf den flachen Felsen an der Küste vor Björlanda, direkt am Meer. Irgendwann einmal waren die Holzbretter tiefrot und die Kanten und Fensterrahmen weiß gewesen. Jetzt überwog das Grau; die typischen Schwedenfarben waren nur noch eine ferne Ahnung im verwitterten Holz. Das Dach sah aus, als müsste es dringend geflickt werden, und im großen Garten stand das Gras so hoch, dass man mit einem gewöhnlichen Rasenmäher kaum noch durchkommen würde.
Aber das alles interessierte Anders nicht. Er verwendete seine gesamte Energie auf die Skulpturen, die den Garten bevölkerten. Mannshohe, schlanke Figuren aus verschiedenen Holzarten, manche hell, aus Ahorn oder Birke, andere dunkel, fast schwarz wie Ebenholz. Es waren menschliche Gestalten, anmutig und zugleich verstörend, weil jede von ihnen Leid verkörperte. Grässliche, vor Schreck oder Schmerz verzerrte Gesichter, klagend zum Himmel gereckte Hände, weit aufgerissene Münder. Fehlende Gliedmaßen, gespaltene Schädel oder Stichwaffen, die noch im Körper steckten. Das Ausmaß des Grauens kannte keine Grenzen.
Handwerklich waren die Skulpturen Meisterwerke. Ernähren taten sie den Künstler nicht. Kein Wunder. Wer mochte sich schon solche fürchterlichen Gestalten ins Haus holen und sich beständig die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens vor Augen führen? Aber Anders war nicht bereit, irgendetwas anderes herzustellen. Angebote hatte es durchaus gegeben, doch seine Antwort war immer dieselbe gewesen.
Ich bin Künstler. Keine Hure.
Astrid verzog den Mund. So primitiv. So vulgär. Das war nicht der Ton, in dem man in ihrer Familie miteinander sprach. Aber auch hier waren sie gescheitert.
Sie ging weiter und stieß die Luft aus, als sie endlich die Tür erreichte.
Die Klingel funktionierte schon lange nicht mehr, also klopfte sie ein paarmal mit der Faust gegen das Türblatt, bis im Inneren schließlich Geräusche erklangen. Schlurfende Schritte, ein asthmatisches Husten, eine raue Stimme, die irgendetwas Unverständliches murmelte.
Man könnte denken, dass man einen Achtzigjährigen besucht, schoss es Astrid durch...
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