1. | Darstellung von Juden im dichterischen Werk
Eine Studie mit dem ausdrücklichen Anspruch, systematisch in sämtlichen dichterischen Werken Tolstois die Darstellung von Juden und Judentum zu erforschen, liegt - zumindest im deutschsprachigen Raum - nicht vor. Im vorliegenden Band (Texte II) stützen wir uns besonders auf die Beobachtungen von Rainer Goldt8, dem zufolge "jüdische Protagonisten und Themen" nur in wenigen, episodischen Passagen aufzuweisen sind. 1906 schrieb Rabbiner Prof. Dr. Simon Stern bezogen auf die Dichtungen: ". Juden kommen meines Wissens in keinem Werke Tolstois vor. Sie schlecht zu zeichnen, verbot ihm sein Gerechtigkeitsgefühl, sie zu karikieren seine Nächstenliebe, sie ideal zu schildern der Pessimismus. Tolstois Ideal kann nicht der optimistische Jude sein"9 (XVII). 'Juden' sind nun zwar kein prominentes Thema in den Romanen und Erzählungen, aber sie kommen an einigen - wenigen - Stellen sehr wohl vor.
Über frühe Einblicke in jüdische Lebenswirklichkeiten während der Militärzeit des Dichters teilt Inessa Medzhibovskaya zusammenfassend mit: >Vor Sewastopol und der Krim diente Tolstoi in der Donauarmee und war mehrere Monate im Donaubecken auf dem Gebiet Rumäniens und Bessarabiens einquartiert, . sowie in den Agrarprovinzen Südosteuropas, wo er in engen Kontakt mit dem städtischen Leben des osteuropäischen Judentums kam. Dort wurde er Zeuge der Realität des Schtetls und erlebte, was Schnaps verkaufende Marketenderinnen und Gasthäuser mit von Juden auf Franchisebasis betriebenen Kneipen wirklich bedeuteten. Er erwähnt diese Begegnungen kurz, geht aber nicht näher darauf ein, sondern weist nur mit einigen anschaulichen Details darauf hin, dass sowohl das Militär als auch die örtliche Bevölkerung Juden mit abscheulicher Verachtung und herzloser Gerissenheit behandeln. Die Juden werden bei diesen früheren Auftritten in Tolstois Werken und in seinem Tagebuch als kikes oder Yids [zid] bezeichnet: Diese [verächtlichen, Anm. pb] Bezeichnungen werden in der Regel von Personen geäußert, deren Herz und Verstand man nicht trauen kann, während das Mitleid mit den Juden von Personen zum Ausdruck gebracht wird, deren Verstand und Herz am rechten Fleck sind.<10
Als Beispiel für die Spiegelung der frühen eigenen Erfahrungen in den Schriften nennt die Autorin u. a. einen Tagebucheintrag während der Soldatenzeit auf der Krim: >Bei einem der Aufenthalte mit Pferdewechsel fiel dem Offizier Tolstoi eine Szene auf, in der ein kosakischer Gastwirt einem kleinen Juden (zhidenok) namens Tabun eine Portion Sonnenblumenkerne im Wert von fünf Kopeken gab. Zwar wird das tatsächliche Alter des Juden nicht angegeben und es bleibt somit unklar, ob es sich um ein Kind oder einen Erwachsenen von geringer Größe oder um einen Juden als [dann 'per se'] geringeren Menschen handelt, doch ist die Kosakin der Meinung, dass bei diesem Tausch kein Geld angemessen ist, da Tabuns Familie und die Familie ihres Onkels nach dem ethischen Prinzip der Kosaken Brüder sind, was sie Tabun zu erklären versucht. Tolstoi ist von dieser Episode so fasziniert, dass er sie in offensichtlicher Eile am 31. Oktober 1853 in sein Tagebuch schreibt, trotz eines schwierigen Tages auf der Straße.<11 - In den frühen Erzählungen gibt es insgesamt kaum ein halbes Dutzend Stellen, in denen Juden oder Judentum zur Sprache kommen.12
Über die wenigen Bezugsstellen im Roman "Krieg und Frieden" (Woina i mir | 1863, 1866-1869) vermerkt Inessa Medzhibovskaya: Dort >wird aus der Perspektive von Boris und Julie Drubetskoy (Buch I, Teil II, Kap. 7 und Buch III, Teil II, Kap. 7) von den schrecklichen Qualen berichtet, die sie in Österreich und Osteuropa durch die Fallen und die Habgier der jüdischen Marketender und Gastwirte erleiden. [.] Der liebenswürdige Hauptmann Timochin hingegen bezeichnet Dolochow als Bestie, weil er während des österreichischen Feldzugs einen polnischen Juden verprügelt hatte: 'Der degradierte und wütende Dolochow hätte beinahe einen Juden getötet, wenn Sie es wissen wollen' (I, II, 2). Fürst Wassili Kuragin, ein alter Hase in Sachen Hofintrigen, versucht, seinen Schwiegersohn Pierre Besuchow von der Unschuld seiner Tochter Hélène, Pierres Frau und Dolochows Geliebte, zu überzeugen. Sein Argument ist eine sorgfältig gewählte Doppeldeutigkeit: Ich kann dir versichern, dass Elen vor dir unschuldig ist wie Christus vor den Juden (Buch II, Teil II, Kap. 5).<13 - In der Tolstoi-Friedensbibliothek haben wir die von Hermann Röhl besorgte Übersetzung des Romans "Krieg und Frieden" als vollständige Digitalausgabe eingestellt; dort kann man die entsprechenden Passagen14 ohne lange Recherche im Wortlaut nachlesen.
Rainer Goldt verweist in seinem Überblick ("Das jüdische Thema im erzählerischen Werk" Tolstois) zunächst auf den Roman "Anna Karenina"15 (1875-1877): "Der hoch verschuldete Stepan Arkad'evic Oblonskij muss in Petersburg bei dem mächtigen jüdischen Bankier Bolgarinov antichambrieren, um eine wohldotierte Stellung zu erhalten. Der wahrscheinlich dem einflussreichen Finanzmagnaten und Eisenbahninvestor Lazar' Poljakov (1842-1914) nachempfundene Bolgarinov lässt Oblonskij zwei Stunden lang warten. Schließlich verabschiedet er den adligen Bittsteller mit kaum verhohlener Genugtuung angesichts dessen Erniedrigung und ohne Hoffnung auf Fürsprache. - Es ist offensichtlich, dass Tolstoj bis hin zur äußerlichen Beflissenheit Bolgarinovs kaum ein Stereotyp des jüdischen Kapitalisten und Parvenüs auslässt. Allerdings verzichtet Tolstoj [.] durchweg auf Beschreibungen des Äußeren. [.] Vor dem Hintergrund von Levins wütenden Invektiven gegen jene Spekulanten, die ohne jegliche produktive Arbeit den Eisenbahnbau in Rußland beherrschen [.], gewinnt diese Begebenheit allerdings mehr als nur episodischen Charakter."16 (Textauszug II.1). - Goldt nennt anschließend noch die Figur des französischen Hochstaplers, Wunderheilers und Hellsehers Jules Landau im Roman "Anna Karenina", die indirekt - durch den Namen - als jüdisch ausgewiesen sei: Wenn Stepan Arkad'evic "die schönen, naiven oder spitzbübischen - er wußte es selbst nicht recht zu sagen - Augen Landaus auf sich gerichtet sah, verspürte er eine eigenartige Schwere im Kopf"17. (Fast ist man versucht, eine unbewusste bzw. abgewehrte erotische Anziehung in diese Stelle über Landaus 'schöne Augen' hineinzulesen.)
In Tolstois Novelle "Die Kreutzersonate" (1891)18 erzählt ein Handelsgehilfe von einer 'leichtsinnigen Frau', die ihren Mann zuerst mit einem Buchhalter betrügt und sich dann mit einem 'Ungetauften, einem Juden, mit Verlaub zu sagen' einlässt. Posdnyschev, der als Mörder seiner Ehefrau die eigene Geschichte erzählt, sucht auf einer verzweifelten Zugfahrt Kontakte bzw. Ablenkung und geht deshalb kurzzeitig auch mit einem - kaum wohlhabenden - jüdischen Mitreisenden in die 'schmutzige dritte Klasse'. Posdnyschev behauptet trotz fehlender rechtlicher Gleichstellung der Frauen, es herrsche ein 'Weiberregiment': Wie Juden "durch ihre Geldherrschaft sich für ihre Bedrückung revanchieren, so auch die Frauen. 'Ah, ihr wollt, wir sollen uns nur mit dem Handel befassen? Gut, so wollen wir nur Händler sein und euch auf diese Weise unterjochen!' sagen die Juden. - 'Ah, ihr wollt, wir sollen nur ein Gegenstand der Sinnenlust sein? Gut, so wollen wir, als Gegenstand der Sinnenlust, euch zu unsern Sklaven machen!' sagen die Frauen." Es ist hierbei nicht etwa von unveränderlichen, gar 'genetischen' Wesensmerkmalen die Rede, sondern von reaktiven Verhaltensmustern, mit denen die Unterdrückten (Frauen wie Juden) jeweils spezifisch - und nachvollziehbar - auf ihre Unterjochung antworten.19 (Alle Textauszüge im vorliegenden Band II.2.)
In Tolstois kurzem Prosatext "Der junge Zar" bzw. "Der Traum des jungen Zaren" (Son molodogo zarja, 1894) wird an einer einzelnen Stelle ein jüdischer Akteur im grenznahen Handel mit Schmuggelware erwähnt: "In einem geschmacklos-eleganten Zimmer saßen zwei Menschen beim Wein: ein alter, grauer Mann der eine, ein junger Jude der andere. Der Junge hielt ein Päckchen Geld in seiner Rechten und feilschte. Er kaufte geschmuggelte Waren. - 'Sie haben es doch wohlfeil erstanden', sagte er lächelnd. - 'Ja, aber das Risiko .' - 'Ja, schrecklich', sagte der junge Zar, 'aber was ist da zu machen? Es ist doch notwendig'."20 Als 'notwendig' betrachtete das Zarenregime scharfe Verordnungen (Zollgesetze zur Mehrung der Staatseinnahmen) und die...