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Dienstag, 10. Juni 1930
Grace O'Connell stürzte in den Umkleideraum, wo sie sich sofort das Kleid über den Kopf zog.
»Warst du etwa mit etwas Besserem beschäftigt?«, fragte ein Mädchen mit rundem Gesicht, das ein Stück weiter hinten auf der Bank saß, und lehnte sich, damit Grace sie sehen konnte, lächelnd zurück, in der Hand einen Lippenstift.
»Ich komme doch rechtzeitig«, erwiderte Grace, inzwischen schon in Unterwäsche, und hängte unbeirrt ihr Kleid auf einen Bügel. Hüpfend zog sie sich die Schuhe an, machte dann auf der langen Holzbank, die vom einen Ende des Raums zum anderen reichte, ein bisschen Platz im Chaos von Hüten, Requisiten und Schminkutensilien, und begann, die Beinmuskulatur zu dehnen. Als sie ihre Zehen in den frisch polierten schwarzen Schuhen berührte, spürte sie den vertrauten Zug in Rücken und Nacken und hielt die Position einen Augenblick, ehe sie sich mit einer langsamen, fließenden Bewegung wieder aufrichtete.
»Tänzerinnen! Fünf Minuten!«
Unter den fünfzehn Frauen im Raum brach die Hölle los. Eilig trafen sie die letzten Vorbereitungen, schnappten sich halb bekleidet ihre Kostüme von ihren Haken, rempelten sich im Eifer des Gefechts an und stolperten lachend und kreischend übereinander. In einem wahren Farbtornado wurden Kostüme und Hüte von den Kleiderständern auf die Bank und ebenso schnell wieder zurückbefördert. Die Tänzerinnen drängelten sich vor den Spiegeln, puderten sich die Wangen, schminkten sich die Lippen rot, banden sich die Schuhe zu und wärmten sich nebenbei auf.
»Hey, Gracie!« Eine Frau rutschte neben Grace auf die Bank vor den Schminktischen, stieß sie an und zwang sie erneut zum Hüpfen. Im Licht der nackten Glühbirne über ihren Köpfen war deutlich zu erkennen, wie sorgfältig sie geschminkt war, und der ausgeprägte Blumenduft ihres Parfüms verbreitete sich augenblicklich, während sie sich zu dem Spiegel beugte, den sie gemeinsam mit Grace benutzte, um sich schnell noch einen Schönheitsfleck auf ihre Wange zu malen.
»Bereit für ein bisschen Spaß und High Kicks?« Ihr lausbübisches Grinsen zeigte deutlich, dass ihr der Schalk im Nacken saß.
»Aber selbstverständlich.« Grace wechselte das Bein und fuhr mit ihren Dehnübungen fort.
Lillibet Lawrence war der selbsternannte Star der Show. Als einziges Mitglied der Tanztruppe hatte sie sogar einen Künstlernamen angenommen, war nun für das Publikum Lily Lawrence und Betty nur noch für ihre Freunde. Obwohl sie die gleichen Kostüme trug und die gleichen Nummern tanzte wie alle anderen, war sie, zumindest in ihrem eigenen Kopf, die Attraktion des Ganzen.
»Ich hab einen neuen Pelz für dich, den hat John mir netterweise mitgebracht«, sagte sie, während sie sich mit geübter Hand die Lippen nachzog.
»Danke, Betty, aber du musst mir wirklich nicht deine Sachen schenken.«
Betty winkte ab. »Du tust mir einen Gefallen. Ist überhaupt nicht meine Farbe.«
Sie verzog die vollen Lippen zu einem Schmollmund, rümpfte die Nase und drehte den Kopf hin und her, um ihr Gesicht im Spiegel zu prüfen. Zwar war sie auch ohne Schminke recht hübsch, verstand es jedoch meisterhaft, ihre Vorzüge noch zu betonen. Mit ihrer Figur, die einer Geige ähnelte, war sie es gewohnt aufzufallen, sie trug zudem immer höhere Absätze als die anderen Mädchen, um größer zu erscheinen.
»Ich hasse diese Haare«, klagte sie jetzt und zog sich mit finsterer Miene die Mütze so weit wie möglich in die Stirn. Sämtliche Tänzerinnen bei Dominic's hatten braune Haare. Aus Gründen, die außer ihm niemand verstand, fand Billy »Texas« Laredo, der Clubbesitzer, braune Haare nicht nur schöner, sondern bestand sogar darauf, nur braunhaarige Tänzerinnen einzustellen. In den acht Monaten, die Grace nun schon zur festen Besetzung gehörte, hatte sie die Mädchen schon alles von Henna bis Schuhcreme benutzen sehen, um die Regel zu unterlaufen. Betty gehörte zu den wenigen, die sich dank ihrer zahlreichen Verehrer eine Perücke leisten konnten, an der sie nun schlecht gelaunt herumzupfte, um auch das letzte Strähnchen ihrer blonden Haare darunter zu verstecken. Die Regel ärgerte sie ungemein, und sie war deswegen schon mehrmals mit Texas aneinandergeraten.
»Das ist unser Ding, das macht uns einzigartig«, hatte er, die Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, über dem Kopf eine Qualmwolke, einmal verkündet.
»Aber kein Mensch hat sich jemals dadurch ausgezeichnet, dass er aussieht wie alle anderen«, hatte Betty darauf gekontert.
Grace hatte sich nie an der Regel gestört, denn ihre Haare hatten die Farbe einer polierten Walnuss und glänzten von Natur aus. Allerdings knisterten ihre Locken oft protestierend, wenn sie sich ihre Kappe aufsetzte, weil Grace sie, um sie zu fixieren, großzügig mit Zuckerwasser besprühte.
Als sie mit den Dehnübungen fertig war, sah sie in den Spiegel - tiefbraune Augen, markante Kinnlinie, ausgesprochen apart - und prüfte ihr Profil. Da sie den schlanken, durchtrainierten Körper einer Tänzerin besaß, konnte sie ihre weiblichen Kurven ganz nach Lust und Laune betonen oder verbergen - ein Geschenk in einer Welt, in der sie manchmal gern im Hintergrund verschwand. Die Hände in die schmale Taille gestemmt, holte sie tief Luft und machte sich bereit für die Arbeit des heutigen Abends.
Ein sanfter Schubs am Ellbogen kündigte die Ankunft ihrer Banknachbarin auf der anderen Seite an: In einem Wirbel blauen und weißen Satins erschien Edie McCall auf der Bildfläche, zurück von der Toilette, wo sie sich lieber umzog als in der Gemeinschaftsgarderobe.
Wie immer freute Grace sich sehr, sie zu sehen, und schob zur Begrüßung gleich einen Baby-Ruth-Schokoriegel in Edies kleine Hand. In letzter Zeit war das zur Gewohnheit geworden, denn Grace wusste, dass Edie Schokolade liebte, sich aber selbst nie welche kaufte, und da auch Edie von Freundinnen nur sehr ungern Geschenke annahm, hatte Grace ihr gesagt, sie bekäme die Riegel gratis von einer nahegelegenen Bodega, deren Geschäftsleitung sich ständig damit überbevorratete. Zu sehen, wie Edie lächelte und sich nicht nur über die Schokolade, sondern auch darüber freute, dass jemand daran gedacht hatte, ihr etwas mitzubringen, war viel mehr wert als die fünf Cent, die sie dafür täglich ausgab. Edies bisheriges Leben war nicht leicht gewesen, aber sie hatte ein gutes Herz und war die Erste gewesen, die Grace bei Dominic's willkommen geheißen und ihr alles gezeigt hatte. Im Gegenzug war ihr Graces Loyalität für alle Zeiten sicher.
»Danke«, formte Edie lautlos mit den Lippen und riss die Verpackung auf.
Als Tänzerin aufzutreten, schien für jemanden so Schüchternes wie Edie zwar auf den ersten Blick eine seltsame Wahl zu sein, tatsächlich aber erwachte sie auf der Bühne zum Leben wie kaum jemand anderes.
»Wie war das Vorsprechen?«, fragte sie, den Mund voller Schokolade, und ihre großen Augen sahen Grace erwartungsvoll an. Edies Stimme war hoch und dünn, ihre Alabasterhaut nahezu durchsichtig.
»Ich war anderweitig beschäftigt.« Im Vergleich klang Graces Stimme tief und kratzig. Sie griff nach ihrem Kostüm für die Eröffnungsnummer, konnte ihrer Freundin jedoch nicht in die Augen schauen.
»Dann bist du gar nicht hingegangen?«
Im Spiegel sah Grace, wie enttäuscht Edie war - kaum jemand wünschte ihr den Erfolg so sehr wie ihre kleine Freundin, die mit ihren schmalen Schultern, den eingefallenen Wangen und dünnen Beinen vor der dunklen Holzvertäfelung des Umkleideraums geradezu ätherisch wirkte. Ihre großen Augen hätten selbst Clara Bow vor Neid erblassen lassen, und sie war so dünn, dass man ihre Rippen hätte zählen können. Ihre Schönheit war nicht zu leugnen, schien aber fast wie ein Fluch auf ihr zu lasten. Ganz anders als Betty, die sich wohlfühlte wie ein Fisch im Wasser.
»Natürlich ist sie nicht hingegangen«, warf Betty ein, während sie in das kurze weiße Oberteil mit den weiten, blauen Rüschenärmeln schlüpfte und sich in ein riesiges verpacktes Bonbon verwandelte. »Sie geht doch nie hin. Wovor hast du eigentlich solche Angst, Gracie?« Betty war äußerst direkt und lag mit ihren Einschätzungen äußerst selten falsch. Ihr war klar, dass ihre beiden Kolleginnen etwas Besseres verdient hatten als ihre derzeitige Anstellung, die Welt es ihnen aber nicht auf dem Silbertablett servieren würde - sie mussten sich schon selbst darum bemühen.
Grace zog sich schnell ein Oberteil derselben Machart über und vergrub das Gesicht darin, was ihr das Antworten er-sparte.
Die Kostüme waren in die Jahre gekommen, das Weiß war nicht mehr so frisch wie früher, sie rochen muffig, nach altem Schweiß und abgestandenem Zigarettenrauch. Sie griff nach ihrem Parfüm, betupfte sich großzügig damit, ehe sie in den blauen Rock schlüpfte, der vorn kürzer und hinten mit einem langen, gerüschten Schwanz geschmückt war. Da der Stoff sich mächtig um den Körper bauschte, mussten sie sich seitlich aneinander vorbeischieben, und Grace nutzte die Gelegenheit, sich von ihren Freundinnen abzuwenden und das heikle Gespräch in dem Chaos von Mädchen ersticken zu lassen, die in Unmengen an Satinstoff gehüllt um die Plätze vor den Spiegeln wetteiferten. Eines Tages würde sie bei einer der großen Shows vorsprechen, aber momentan hatte sie zu viel anderes zu tun, und die Arbeit bei Dominic's war ja ganz in Ordnung. Es bestand kein Grund zur Eile. Sicher, sie war einundzwanzig, aber sie hatte noch Zeit. Tanzen war Tanzen, gleichgültig, wo man tanzte.
In seinem üblichen schwarzen Smoking und mit weißer Krawatte erschien Texas oben an der...
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