Schweitzer Fachinformationen
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Als Samuel Hawley mit seiner Tochter Loo nach Olympus zieht, soll das kleine Küstenstädtchen ihr Zuhause werden. Doch auch nachdem das ständige Umherziehen ein Ende hat, finden die beiden nur schwer Anschluss. Die Geheimnisse um Hawleys Vergangenheit machen die Einwohner von Olympus misstrauisch. Wieder sind Vater und Tochter sich gegenseitig die einzigen Freunde. Als Loo ihrer Großmutter begegnet, erfährt sie, dass hinter dem Unfalltod ihrer Mutter mehr steckt, als sie bisher glaubte. Loo wird eigenständiger, verliebt sich zum ersten Mal und sucht selbst nach Antworten. Hawleys Narben zeugen von seiner geheimnisvollen Geschichte, lange bevor es Loo gab. Und so sehr er auch versucht, seine Tochter zu schützen: Sein früheres Leben als Krimineller holt die beiden wieder ein.
Als Loo zwölf Jahre alt war, brachte ihr Vater ihr das Schießen bei. In seinem Zimmer hatte er einen Koffer voller Waffen, andere Schießeisen waren in Kisten im ganzen Haus verteilt. Loo hatte die Waffen schon oft gesehen, wenn ihr Vater sie abends am Küchentisch auseinandernahm und reinigte, sie stundenlang ölte, polierte und bürstete. Er hatte ihr verboten, sie anzufassen, und so versuchte Loo, möglichst viele Geheimnisse aus der Distanz zu lüften. Bis zu jenem Tag, an dem sie die Geburtstagskerzen auf zwölf gekauften Schokoladentörtchen ausblies, die sternförmig auf einem Teller arrangiert waren, und Hawley daraufhin die Holzkiste im Wohnzimmer öffnete und das Geschenk, auf das sie schon so lange gewartet hatte - das Gewehr ihres Großvaters -, in ihre Arme legte.
Jetzt wartete Loo im Flur, während ihr Vater einen Karton mit Munition vom Garderobenschrank hob. Daraus nahm er einige Randfeuerpatronen Kaliber 22 - lang für Büchsen sowie Winchester Magnum - und einige 9mm Hornady 7,45 g. Die Kugeln klapperten in ihren Pappschachteln, als er sie in seine Tasche schob. Loo achtete auf jedes Detail, als wäre die Patronenwahl ihres Vaters Teil eines Tests, den sie später bestehen musste. Hawley griff nach einer Remington Model 5, einer Winchester Model 52 und seinem Colt Python.
Wann immer Loos Vater das Haus verließ, trug er eine Waffe bei sich. Jede von ihnen hatte eine Geschichte. Da war zunächst das Gewehr, das Loos Großvater im Krieg getragen hatte und das jetzt Loo gehörte, mit einer Kerbe für jeden gefallenen Feind. Dann die Schrotflinte von einer Pferde-Ranch in Wyoming, auf der Hawley eine Zeit lang gearbeitet hatte. Außerdem die beiden silbernen Duellpistolen in ihrem glänzenden Holzkoffer, beim Pokern gewonnen in Arizona. Der Ruger-Revolver, den er in einer Tüte ganz hinten in seinem Kleiderschrank aufbewahrte. Die Sammlung Deringer-Taschenpistolen mit Perlmuttgriff, die er in der untersten Schublade seiner Kommode versteckte. Und der Colt mit dem Stempel »Hartford, Connecticut« auf der Seite.
Der Colt hatte keinen fixen Aufbewahrungsort. Loo hatte ihn schon überall liegen sehen, unter der Matratze ihres Vaters, offen auf dem Küchentisch, auf dem Kühlschrank und einmal sogar auf dem Badewannenrand. Der Colt war der Schatten ihres Vaters. Er lag immer da, wo dieser gerade gewesen war. Wenn Hawley nicht im Zimmer war, berührte sie manchmal den Griff. Er war aus Palisanderholz und fühlte sich glatt an, aber sie nahm den Colt nie in die Hand oder entfernte ihn von dem Ort, an dem ihr Vater ihn abgelegt hatte.
Nun steckte Hawley ihn in seinen Gürtel, bevor er sich die Gewehre über die Schulter hängte. »Na komm, du Unruhestifterin«, sagte er und hielt für sie beide die Tür auf. Er führte seine Tochter in den Wald hinter dem Haus, hinunter in die Schlucht, in der ein Flüsschen über moosbewachsene Felsen rauschte und sich anschließend ins Meer ergoss.
Es war ein klarer Tag. Die Blätter waren von den Ästen gefallen und bildeten auf dem Waldboden einen raschelnden Teppich aus Purpur, Gelb und Orange. Loos Vater blieb vor einem alten Ahornbaum stehen, an dem ein rostiger Farbtopf hing. Er band ihn los, brach den Deckel mit einem Messer auf und nutzte den am Henkel befestigten Pinsel, um den Stamm einer etwa hundert Meter entfernten Kiefer mit einem weißen Farbtupfer zu markieren, bevor er zurück zu seiner Tochter und den Waffen ging.
Hawley war Mitte vierzig, sah jedoch jünger aus. Seine Hüften waren immer noch schmal, seine Beine kräftig. Er war groß, wie ein Langschiff, mit breiten Schultern, die ein wenig hingen von all den Jahren, in denen er mit Loo auf dem Beifahrersitz seinen Pick-up kreuz und quer durchs Land gelenkt hatte. Seine Hände waren schwielig von seinen Gelegenheitsjobs - Autos reparieren oder Häuser anstreichen. Entlang seiner Fingernägel hatten sich Öl und Schmutz eingegraben, und seine dunklen Haare waren immer ein wenig zu lang und ungekämmt. Aber seine Augen waren tiefblau, und sein kantiges Gesicht war auf eine sehr attraktive Weise verlebt. Wo auch immer sie während ihrer jahrelangen Odyssee angehalten hatten, ob zum Frühstück in einem Diner am Highway oder in einer Kleinstadt, in der sie eine Weile Station machten - überall konnte Loo beobachten, wie die Frauen sich unwiderstehlich von ihm angezogen fühlten. Doch ihr Vater presste stets die Lippen zusammen und spannte die Kieferknochen an und hielt damit jede und jeden davon ab, ihm zu nahe zu kommen.
Inzwischen fuhr der Pick-up nirgendwo mehr hin, außer zum Strand, wo sie eimerweise Venusmuscheln ausgruben. Quahogs nannte Hawley sie. Oder auch Littlenecks, Topnecks, Steamers oder Cherrystones, je nach Größe und Farbe. Er spürte sie mit einer Harke auf, während Loo einen langen, dünnen Spaten bevorzugte, mit dem sie tief in den Boden stechen konnte, bevor die Tiere sich eingruben. Jeden Tag krempelten Vater und Tochter früh am Morgen ihre Hosen bis übers Knie hoch und schlüpften in ihre Gummistiefel. Die Muscheln wurden in den Salzmarschen und im Watt geerntet, am Sandstrand und bei Ebbe entlang des Ufers.
Hawley nahm die Remington von der Schulter und zeigte Loo, wie man den Ladestreifen bestückte. Fünf Patronen legte er ein, eine nach der anderen. Dann schob er den Streifen ins Magazin und ließ es einrasten.
»Ein gutes Übungsgewehr für den Anfang. Damit kannst du nicht allzu viel Schaden anrichten. Trotzdem, lass die Sicherung drin. Schau dir dein Ziel genau an und alles, was dahinter ist. Richte die Waffe auf nichts, auf das du nicht wirklich schießen willst.«
Er schob den Verschlusshebel nach hinten und wieder nach vorn, wodurch die erste Patrone ins Lager rutschte. Anschließend gab er ihr das Gewehr. »Stell dich fest auf die Füße«, ordnete er an. »Knie locker. Dann holst du Luft und lässt den halben Atemzug wieder raus. In diesem Moment betätigst du den Abzug, beim Ausatmen. Nicht daran ziehen - nur ein wenig dagegendrücken.«
Das Gewehr fühlte sich kühl und schwer an, Loos Arme zitterten ein wenig, als sie den Schaft auf Schulterhöhe hob. Sie hatte so viele Jahre davon geträumt, endlich eine Waffe ihres Vaters in den Händen zu halten, dass sie auch jetzt das Gefühl hatte zu träumen. Nachdem sie ihr Ziel anvisiert hatte, zog sie den Schaft dicht zu sich heran, hob den Ellbogen und löste als Letztes, als Allerletztes, die Sicherung.
»Worauf wirst du schießen?«, fragte ihr Vater.
»Auf den Baum dort hinten«, antwortete Loo.
»Richtig.«
Sie stellte sich die Geschossbahn der Kugel vor, sah sie durch die Luft fliegen und ihre eigene Geschichte kreieren. Loo kannte sämtliche Teile dieser Waffe und spürte, wie jedes einzelne davon - Schlagfeder, Ladelöffel, Patronenlager und Schlagbolzen - mit den anderen zusammenarbeitete und sich in die richtige Position verschob, als sie den Abzug berührte.
Die Explosion, die folgte, war mehr ein dumpfer Knall als ein Krachen. Der Gewehrkolben an ihrer Schulter bewegte sich kaum. Loo erwartete einen gewissen Kick, einen erregten Schauder, der ihren Körper durchlief, spürte jedoch lediglich eine kleine Blase der Erleichterung in sich aufsteigen.
»Sieh es dir an«, forderte ihr Vater sie auf.
Loo ließ den Arm sinken. In der Ferne erkannte sie den weißen Fleck am Stamm der Kiefer. Er war unversehrt. »Ich habe ihn verfehlt.«
»Das passiert jedem.« Hawley kratzte sich die Nase. »Deine Mutter hat auch danebengeschossen.«
»Wirklich?«
»Beim ersten Mal«, antwortete er. »Zieh den Verschluss nach hinten.«
»Hat sie mit diesem Gewehr geschossen?«
»Nein«, sagte Hawley. »Sie mochte den Ruger.«
Loo zog den Ladehebel zurück, woraufhin die Patronenhülse durch die Luft flog und auf dem Waldboden landete. Als sie den Verschluss wieder nach vorn schob, glitt die nächste Patrone ins Lager. Ihre Mutter Lily war so früh gestorben, dass Loo sich nicht an sie erinnern konnte. Sie war in einem See ertrunken, ein Unfall. Hawley hatte Loo die genaue Stelle gezeigt, an der es passiert war, auf einer Karte von Wisconsin. Ein kleiner blauer Punkt, der verschwand, sobald sie ihre Fingerkuppe darauflegte.
Hawley sprach nicht gern darüber, und wenn er es doch tat, flimmerte die Luft immer ein wenig, als würde Lilys Name Gefahr heraufbeschwören. Das meiste, was Loo über ihre Mutter wusste, stammte aus einem Karton voller Erinnerungsstücke, einem mobilen Schrein, den ihr Vater im Badezimmer jedes ihrer Wohnorte neu errichtete - in Motelzimmern und Wohnungen auf Zeit, in Stadtapartments und Waldhütten. Und nun eben in diesem Haus auf dem Hügel, dem Ort, von dem Hawley sagte, dass er ihr Zuhause werden würde.
Zuerst wurden die Fotos aufgehängt, rund um die Badewanne und das Waschbecken. Ihr Vater befestigte jedes Bild voller Sorgfalt, damit es nicht einriss - Aufnahmen von Loos Mutter, mit ihren langen schwarzen Haaren, ihrer blassen Haut und ihren grünen Augen. Als Nächstes arrangierte er halb leere Flaschen Shampoo und Spülung, eine Puderdose und einen roten Lippenstift, eine verbogene Zahnbürste, einen seidenen, auf dem Rücken mit Drachen bestickten Bademantel und Dosen mit Lilys Lieblingskonserven - Ananas und Kichererbsen - sowie handbeschriebene Zettel, die er nach ihrem Tod gefunden hatte: eine Einkaufsliste, eine Liste mit allem, was sie bis zum folgenden Samstag erledigen wollte, einen Strafzettel, auf dessen Rückseite sie Fragmente aus einem Traum notiert hatte. Altes Auto mit Scharnieren, das sich zu einem Koffer zusammenfaltet. Wann immer Loo auf die Toilette ging oder...
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