Schweitzer Fachinformationen
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Die letzte Nacht schlief ich in der leeren Wohnung: Der Teppichboden herausgerissen, die Lampen abmontiert, in den Zimmern stand feucht der Geruch von Tünche. Im Schein einer Taschenlampe wühlte ich in dem zusammengekehrten Dreck und sammelte Pfennigstücke, Haarklammern, Briefmarken und Legostücke heraus, wusste dann aber nicht, wohin mit dem Kleinkram, und kippte alles in den Müll.
Einen Tag vor der Abreise hatte ich gemeinsam mit Peter Hubert die Kammer ausgeräumt, die vollgestopft war mit Zeitungen, Illustrierten, Seminararbeiten, Exzerpten, Briefen, Flugblättern, Resolutionen zu Teach-ins, Go-ins und all jenen Manuskripten, die, unaufgefordert zugeschickt, aus irgendwelchen Gründen hier seit Jahren liegen geblieben waren. Diese unfasslich öden, holprigen Schreibereien, die durch alle Verlage gewandert waren und manchmal, trotz Ablehnung, mit dem gleichen Begleitbrief wieder auftauchten.
In den letzten Monaten musste ich mich mit einer immer größeren Kraft zum Lesen der Manuskripte zwingen, bekam immer häufiger Wutanfälle, sprang auf und rannte ins Freie. Beinahe wäre dieser Papierberg, der schon vier Umzüge mitgemacht hatte und weiter angewachsen war, zusammen mit den Möbeln eingelagert worden. Aber dann stand ich in diesem Altpapier, diesem Durcheinander, diesem aus den Borden quellenden Hochglanzpapier, den vergilbten Zeitungen, den eingerissenen, zerfledderten Exzerpten aus Sein und Zeit, De anima, den Seminararbeiten, Reisenotizen, all den Ausschnitten, Zetteln, Karteikarten, und spürte einen körperlichen Ekel, stopfte das Papier in Kartons und schleppte die mit dem Freund hinunter. Die Kammer war noch nicht leer, da quoll im Hof der Müllcontainer über. Ich stieg auf den Papierberg und stampfte ihn mit einer albernen Munterkeit zusammen: keine Manuskripte mehr lesen, keine Gutachten mehr schreiben, keine Bücher mehr an den Wänden, die im Traum auf mich stürzten. Leere, weiße Wände. In der Ferne die Atemsäule des Pottwals.
Lag im Dunkeln in der Badewanne, genoss die Wärme und, wenn ich die Luft anhielt, den leichten Auftrieb. Fast wäre ich im Wasser eingeschlafen.
Ich ging durch die Zimmer. In ihrer Größe und hallenden Leere waren sie mir fremd und vertraut zugleich.
Ich sah in die Straße hinunter. Die einzige Bewegung in der nächtlichen Stille war das leise Schaukeln der Neonlampen, die auch die Schatten der geparkten Autos hin- und herwandern ließen. Die Müdigkeit war wie Fusseln in den Augen.
Es war der 21. September und kurz nach 3 Uhr nachts.
Für den Tag der Abreise - D. war mit den Kindern schon vorausgefahren - hatte ich mir Regen gewünscht, einen grauen regnerischen Himmel. Aber die Sonne schien, und es war für Ende September ungewöhnlich warm.
Beim Einbiegen in die Paradiesstraße sah ich nochmals zurück zum Englischen Garten, in dem sich Spaziergänger, Radfahrer und Köter drängten. An warmen Tagen schob sich das in Massen zum Chinesischen Turm. Über den Tischen und Bänken lag eine Staubwolke und der Gestank von Pisse, Bier und Gebratenem.
Auf der Autobahn, am Inntal-Dreieck, ein Stau. Im Radio sang eine Frauenstimme: The bloody rose. Ein Polizist stand auf der Fahrbahn und winkte die Autos an einem zusammengedrückten Ford vorbei. Zwischen Glasscherben und Sägemehl lag ein Plüschteddy. Am Straßenrand standen zwei längliche Blechwannen mit Stielgriffen.
Der pickelige Zöllner ging um den mit Wäsche, Töpfen, Lampen, Bettzeug vollgeladenen Wagen. Er zeigte auf die mit Kleidungsstücken vollgestopften Plastiksäcke: Cosa è questo? Le mie camicie.
Er lachte und winkte mich durch.
Hinter dem Brenner begann es zu nieseln. Kaum in Italien, hatte ich die quietschenden Scheibenwischer und diese schwarz glänzende Straße vor mir, auf der sich die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos spiegelten. Dicht an dicht kam der deutsche Mittelstand in seinem Daimler und BMW und schleppte seine Segelboote und Surfbretter vom Lago Maggiore zum Überwintern nach Hause. In den Süden fuhren jetzt, Samstagnacht, nur wenige Autos.
Wer da alles runtergezogen war: Henze und Neckermann, Thomas und Heinrich Mann, stigmatisierte Metzgermeister und württembergische Hofmaler, all die Heinrichs, Ottos und Karls, und natürlich die Ost- und Westgoten, die Cimbern und Teutonen, über die Alpen, den Stiefel runter, Richtung Rom.
Kurz vor Bozen hatte es aufgehört zu regnen.
Ein kleiner kropfiger Hoteldiener trug mir den Koffer. Er betonte, dass ich den Wagen ruhig auf der Straße stehen lassen könne, hier werde nichts geklaut, hier habe alles noch seine Ordnung.
Später, nach dem Abendessen, ging ich in die Altstadt, durch die viele Freizeitjacken spazierten, ältere deutsche Ehepaare. Kam in eine Nebengasse, den Bozener Kiez, drei Bars, alle leer, vor einem Eingang eine magere Frau, die mir schon von Weitem zuwinkte, als habe sie dort seit Stunden auf mich gewartet. Sie redete in einem rheinländischen Dialekt auf mich ein, wollte etwas trinken, ich sagte: Qu'est-ce que vous voulez?
Da wechselte sie ins Französische und sprach es weit besser als ich, hakte sich ein, ging nebenher. Erzählte mir von dieser Scheißstadt, den Scheißleuten, versprach eine einmalige Nummer.
Je suis fatigué.
Ich mach dich munter!
In meiner Hilflosigkeit wechselte ich abermals die Nationalität, sagte: I am married.
Da blieb sie stehen. Merde, sagte sie, lachte dann aber: How sweet und lovely dost thou make the shame. Good night, poor little boy.
Nachmittags auf dem Raccordo anulare: ein Stau, der sich mit 130 Stundenkilometern vorwärtsbewegte. Die Hände am Lenkrad verschweißt, raste ich, nach der Ausfahrt Ausschau haltend, auf der mittleren Fahrbahn, hinter mir, Stoßstange an Stoßstange, ein Blitzen, Hupen, wenn ich auch nur etwas Gas wegnahm, von rechts und links überholende, vorn einscherende Autos, die sofort die entstandene Lücke wieder füllten. Ich verfehlte die erste Ausfahrt, wurde unfreiwillig in die zweite hineingeschoben, die sich als richtig erwies, kam auf die Nomentana, die durch eine rötliche Ebene führt, links und rechts Pinien, und in der Ferne in einem braunen, ja goldenen Licht: Rom. Die Farben auf den Postkarten hatten nicht übertrieben.
Dann die ersten Häuser, Neubauten, die Fassaden braun verkachelt, sieben-, achtstöckig. Und wieder bildete sich ein Stau, der diesmal zum Stehen kam. Am Straßenrand das Verkaufsgelände eines Keramikgroßhandels. Dort standen Blumentöpfe in allen Größen und Farben, Statuen aus einem Marmor imitierenden weißen Material, verkleinerte Repliken antiker Skulpturen, die - anders als bei uns die Gartenzwerge, die eine putzige Erinnerung an die Wildnis sind - die klassische Kultur in den Vorgarten bringen sollen.
Kniehoch: Laokoon mit seinen Söhnen in den Kampf mit der Schlange verwickelt, der Apoll von Belvedere in halber Lebensgröße, die kapitolinische Wölfin, variierend von der Größe eines Rehpinschers bis zu der eines ausgewachsenen Wolfs, dann die verbissene Gruppe, die Unauflösbaren: zwei Ringer. Der eine, ein bärtiger, muskulöser Mann, hat seinen Gegner, einen jüngeren Mann, gepackt und in einer Drehung hochgehoben, um ihn mit einem einzigen kraftvollen Schwung, kopfüber, zu Boden zu schleudern, wenn der nicht seinen Hodensack ergriffen hätte und umklammert hielte. So kann der eine wie der andere nicht loslassen, und sie stehen buchstäblich versteinert da.
Nahm mir vor, diese Statue zu kaufen und Heinar Kipphardt für seinen Garten zu schenken, als allegorische Darstellung des Realismus. Man kann sich aussuchen, welcher Ringer die Wirklichkeit und welcher die Literatur darstellt. Kastration oder weiche Birne, das jedenfalls wäre die Folge, würde diese Verschlingung aufgelöst.
Die Via Gradisca, eine schmale Einbahnstraße. Hinter vergitterten Vorgärten zwei- und dreistöckige Häuser aus der Jahrhundertwende. Das Haus Nr. 13: ockerfarben, der Putz fällt von den Fassaden, schiefe Holzjalousien, vor der Haustür ein Haufen Spaghetti, matschig, rotbraun, zwei räudige Katzen fressen davon. Der Geruch nach Katzenpisse. Im Garten eine Fächerpalme, die Farben leuchten im letzten Licht, das Dach, die Gesimse, die Fensterläden, alle Dinge treten aus sich heraus, scharf umrissen, als wollten sie sich nochmals ihrer selbst vergewissern, bevor sie ins Ungefähre, Dunkle fallen. Die Kinder kommen und wollen mir als Erstes den Brunnen zeigen, einen Brunnen direkt am Haus, ein marmorner Löwenkopf, abgestoßen die Schnauze, die Ohren, aus dem Maul fließt Wasser in ein Betonbecken. Ich muss die Arme hineinstecken, ein eiskalter Schock, dann muss ich ihnen die Arme zeigen. Sie streichen mir gegen den Strich über die Armhaare, die sich aufgestellt haben, ein kitzelndes, durchdringendes Schaudern. Das sei Gruseln, behaupten sie und wollen sich ausschütten vor Lachen. D. kommt in ihrem weiten, ehemals schwarzen, von der Sonne ausgebleichten Kleid.
Liegen nachts im Bett ohne Decke, nackt. In München laufen sie jetzt in Mänteln durch die Straßen. Aus dem Garten steigt ein Duft, schwer und süß wie ein Parfum, der Duft von einem blühenden Busch, dessen Namen wir nicht kennen. Das Kreischen der Katzen, Fernsehlärm, jemand singt, Stimmen, Gelächter, von fern der Verkehrslärm, nahe das Schlürfen des Ablaufs am Brunnen, hin und wieder das Aufheulen einer Sirene von einem geparkten Auto.
Vor dem Fenster steht ein Orangenbaum. Im dunkelgrünen Laub leuchten gelb...
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