Schweitzer Fachinformationen
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Um es gleich zu sagen: ich werde gesucht. Von Rechts wegen müsste ich in Hamburg sitzen, im Gefängnis. Aber ich sitze hier, im Garten meines spanischen Landhauses, in einer grünen Stille, die nur hin und wieder von dem Klappern einer Gartenschere unterbrochen wird. Seit sechs Monaten wohne ich, mit Frau und Tochter, hier, wohin ich eigentlich erst in gut zwanzig Jahren ziehen wollte.
Das Haus, Anfang des Jahrhunderts im andalusischen Stil erbaut, habe ich im letzten Jahr originalgetreu renovieren lassen (es ist auf den Namen meiner Schwägerin im Grundbuch eingetragen), als Wohnsitz für die Ferien und, wie schon gesagt, für das Alter.
Hier wollte ich in Ruhe mein Buch über die Osterinsel schreiben, für das ich schon seit Jahren in meiner äußerst knapp bemessenen Freizeit Material gesammelt habe. Ich will versuchen - auch wenn ich nur Autodidakt bin -, etwas zur Deutung der Osterinsel-Kultur, vor allem der noch immer nicht ganz entschlüsselten Schrift, beizutragen.
Nun bin ich in den letzten Wochen ein wenig ins Schreiben gekommen, das heißt, es sind eher Anmerkungen zu den Zitaten und Notizen, die ich in meinem Laptop gespeichert habe. Das Gerät hatte ich mir, nach einem komplizierten bürokratischen Genehmigungsverfahren, in das Untersuchungsgefängnis bringen lassen. Und nach meiner Flucht hat Britt es - die Formalitäten nahmen kein Ende - bei der Justizbehörde abgeholt und hierher mitgebracht, sodass ich meine in der Untersuchungshaft begonnene Arbeit fortsetzen konnte.
Gestern habe ich über die Besiedelung der Osterinsel vor mehr als 1500 Jahren und die sich daraus ergebende Ernährungsweise geschrieben: Die Schweine müssen bei der Landung ertrunken sein. Nur die Hühner haben überlebt. Wahrscheinlich waren die Auslegerboote in der hohen Brandung gekentert. Die mitgeführten Hunde und Schweine gingen in den Brechern unter, während die Hühner aufflogen und immer wieder auf den Köpfen der Schwimmer Zuflucht fanden, hochflogen, wenn die Schwimmer von einer Welle überspült wurden, sich ihnen dann wieder auf den Kopf setzten - so kamen sie an den Strand. Über Jahrhunderte gab es auf der Insel nur das Fleisch der Fische und Hühner. Und wesentlich später, im 18. Jahrhundert, mit den ersten europäischen Schiffen, kam noch ein anderes Fleischtier hinzu: die Haus- und Wanderratte. Die Hauptnahrung aber war die Süßkartoffel, die auf kleinen Holzflößen sorgfältig verpackt an Land getrieben war, dieses stärkehaltige Knollengewächs mit seinem matten Geschmack. Eine Lebensweisheit der Insulaner besagte: Wir kommen auf die Welt - wir essen süße Batate, von Neuem süße Batate - und dann sterben wir.
Ich wollte, von dieser Eintönigkeit in der Ernährung ausgehend, den Zusammenhang zwischen dem Kannibalismus, den es auf der Osterinsel gegeben hat, und der Sprache, genauer der Dichtung, nachweisen. Fast alle Ethnologen bestreiten heute, dass es Kannibalismus aus Geschmacksgründen gegeben habe. Ich hingegen finde es ganz naheliegend, dass der Überdruss als Folge einseitiger Ernährung die Lust auf Menschenfleisch erzeugt, so wie auch aus der Monotonie heraus Dichtung entsteht.
Bekannt ist, dass die Osterinsel-Schrift Ideogramme kennt, die durch ihre Zeichengebung figürliche Redewendungen wiedergeben. Eine Glyphe der Osterinsel-Schrift zeigt eine Figur, die isst, was formal »essender Sänger« bedeutet, im erweiterten Sinn aber auch heißt: das Rezitieren von Rongorongo-Texten.
Seit gestern Abend nun habe ich nicht mehr an dem Text weiterschreiben können, seit mir diese Figur, diese einmalige, unersetzliche Figur, vom Schreibtisch gefallen ist, das heißt, ich habe sie vom Schreibtisch gestoßen. Ich bin nicht abergläubisch, und doch erscheint mir das wie ein böses Omen.
Meine Mutter hatte am Abend angerufen. Wir, Britt, Lolo und ich, waren mit dem Abendessen fertig, und ich hatte mich eben wieder an den Schreibtisch gesetzt, da klingelte das Telefon. Meine Mutter ist die einzige Person in Deutschland, die meine Telefonnummer hier in Spanien herausgefunden hat. Bis dahin, fast zwei Monate lang, war, wenn das Telefon klingelte, nur Dembrowski am Apparat.
Er wohnt nur 14 Kilometer von hier entfernt, und wenn er anrief, wollte er sich zum Bridge, Tennis oder Baden verabreden. Dann aber, vor gut vier Monaten, hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter am Telefon. Sie hat mir nicht verraten, von wem sie die Nummer hat. Natürlich nicht von Britt, die schon seit eh und je den Telefonhörer sofort mit spitzen Fingern an mich weitergereicht hat, wenn meine Mutter anrief.
Ich vermute, meine Mutter hat die Nummer von Dembrowski, obwohl er das bestreitet. Er wird sie angerufen und um eine Gefälligkeit gebeten haben, zum Beispiel um die Anschrift seiner ehemaligen Frau, die umgezogen ist, ohne ihm die neue Adresse zu nennen. Ich weiß, Dembrowski, der hier mit seiner wesentlich jüngeren Freundin lebt, ruft immer wieder heimlich seine Frau an, spricht mit ihr und mit seinen Söhnen. Meine Mutter wird ihm also die Telefonnummer seiner Frau besorgt haben, vermute ich, und im Gegenzug meine Telefonnummer erfragt haben.
In Hamburg regnets.
Das ist immer das Erste, was meine Mutter sagt. Ich habe den Verdacht, meine Mutter lässt es weit öfter in Hamburg regnen, als es ohnehin schon der Fall ist.
Bei euch is Sonne, nich?
Ja. Brauchst du Geld? fragte ich sie.
Nee, du weißt ja, von deinem Geld will ich nix.
Gut, wer nicht will, der hat schon. Selbstverständlich hat sie nicht nur deshalb angerufen, um mir zu sagen, dass es in Hamburg regnet. Sie hat fast immer eine Nachricht, von der sie weiß oder wissen müsste, dass ich mich nur darüber ärgern kann. Sie liest mir - und sie, die sonst so knickerig ist, scheut dabei nicht die Kosten eines Auslandsgesprächs - Zeitungsartikel vor, die von meinen früheren Geschäften berichten, erzählt mir, was Pastor Werner von mir denkt, der mich vor über zwanzig Jahren eingesegnet hat, oder was ehemalige Klienten über mich sagen, die bei ihr anrufen, um sie wegen ihres Früchtchens zu beschimpfen, denen sie aber gleich ins Wort fällt, ich habe längst mit meinem Sohn gebrochen, sag ich denen, sagt sie mir.
Weißt du, wer gestern hier war?
Nein.
Sonny.
Ja und?
Den Onkel, nur vier Jahre älter als ich, habe ich seit gut dreißig Jahren nicht mehr gesehen, und ich habe - zumindest in den letzten Jahren - kaum noch an ihn gedacht. Nur gelegentlich, wenn ich seinen Namen las, oder wenn meine Mutter mir von ihm erzählte.
Was macht er denn?
Er sah gut aus, der Sonny, braun gebrannt, war in Brasilien, eine Lesereise. Sie sprach das alles sehr betont aus, verschluckte keine Silben, wie sie es sonst zu tun pflegt. Immer, wenn sie vom Onkel spricht, wechselt sie in einen gehobenen Ton. Sie glaubt wohl, ihm das schuldig zu sein, weil er Bücher schreibt, von denen sie allerdings, da bin ich sicher, keines gelesen hat. Aber sie hört von ihm, hin und wieder, im Rundfunk oder Fernsehen.
Seit ich mich erinnern kann, spricht meine Mutter über den Onkel immer so, dass ich mich fragen muss, warum ich nicht der Onkel bin. Ausführlich erzählte sie, wie und wann der Onkel sein Abitur gemacht hat (ich bin vorzeitig von der Schule abgegangen, genauer gesagt, gegangen worden), wo und was er studierte, wann er und mit welchen Noten Prüfungen ablegte (fleißig war er, das muss man ihm lassen), wann er das Rigorosum machte (wie sie Rigooorosuum sagte!), sie erzählte von der wunderschönen (natürlich) blonden Frau, die er geheiratet hatte, von den wunderschönen Kindern, der wunderschönen angeheirateten Familie mit den wunderschönen sechstausend Rindern, die ihre wunderschönen gehörnten Schädel über die wunderschöne familieneigene Pampa beugten: Und immer war der Onkel, der nicht zufällig als Kind den Spitznamen Sonny bekam, irgendwo in Paris, London, Rom, New York und anderswo, verdiente sein Geld, nicht viel, aber ehrlich, mit seinen Geschichten. Er schwindelt (man muss nur bei Plato nachlesen) und wird dafür noch bezahlt, reist auf Steuerkosten durch die weite Welt.
Er hat nach dir gefragt, sagte Mutter. Was du so machst. Wo du steckst und so.
Und was hast du gesagt?
Nix, hab gesagt, du rufst mich hin und wieder an, ha, ha. Ich hab ihm gesagt, dass ich dich seit drei Jahren nich mehr gesehn hab. Aber er wollte wissen, wie du gearbeitet hast. Was du alles gemacht hast, in der Zwischenzeit. Dass du dein Abitur nich hast, wusste er, auch dass du als Drücker gearbeitet hast und dass du Lebensversicherungen verkauft hast. Kannte sich gut aus, wusste auch von deinen Bemühungen als Broker. Hatte alles iner Zeitung gelesen. Auch, dass du verurteilt bist. Wusste sogar, was der Staatsanwalt gesagt hat, das mit deiner kriminellen Energie. Zum Betrügen gehöre ja immer auch die Überzeugungskunst, hat Sonny gesagt. Ja, hab ich gesagt, dabei haste als Kind erst gar nich sprechen wolln, dann aber gleich umso mehr und immer die tollsten Geschichten. Konnst ja nie Sunny sagen, hast immer Sonny gesagt. Hast wirklich sehr spät angefangen zu reden und dann sehr früh rumfantasiert und gelogen, hing glaub ich zusammen, lange nix sagen und dann viel, auch wenns nich stimmt. Weißt du, ich glaub, der will über dich schreiben.
Was?
Der will schreiben über dich. Hallo, sagte sie, was issn? Hallo.
Schon gut, sagte ich und legte auf
Ich ging zum Schreibtisch zurück. Es war meiner Mutter wieder einmal gelungen, mich zu stören, mich auf eine nachhaltige Weise aus meiner Arbeit herauszureißen. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch, vor mir das Buch mit dem Reisebericht La Perouses...
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