Eine Vespa-Zeitreise ins Jahr 1975 - Eine hippe Musiker-WG und ein Rock-Festival - Ein Mordverdacht und ein entschwundener Kunstschatz - Eine erste Liebe ohne Chancen.
Tim ist siebzehn geworden, chattet im Internet, als Uronkel Michael ihn zu Ferien auf dem Lande abholt. Auf geht's im Oldtimer-Volvo und weiter mit Michas uralter Vespa. Auf dem niedersächsischen Hof ist die Zeit stehengeblieben. Eine Musiker-WG probt für das Garmling Rock-Festival 1975.
Vier Jahrzehnte vor der Jetzt-Zeit - Michael war jung und sucht nun Antworten auf ungelöste Fragen von damals. Ein rätselhafter Todesfall, ein verschwundener Kunstschatz... deshalb die Zeitreise. Das ist kompliziert, warnt er Tim: Wir sind Gast in der Vergangenheit, können nichts ändern, allenfalls selbst darin steckenbleiben, das ist das größte Risiko.
Auf dem Rock-Festival schaut Tim in Neles dunkle Augen - das Feuer der ersten Liebe ist entfacht. Alle Warnungen sind vergessen. Zeit, Raum und Zufälle verändern die Werte des Lebens...
Geburtstag
Geburtstag ist total öde, wenn man siebzehn geworden ist und alle Freunde und Klassenkameraden schon in die Sommerferien gefahren sind. Die Geschenke werden in dem Alter ätzend langweilig. Es war gar nicht so lange her, da hatte ich mich über mein erstes Handy, einen neuen iPod und zuletzt über den PC mit zeitgemäßer Grafikkarte gefreut; an diesem Tag aber gabs fast ausschließlich Geldgeschenke. Auch nicht schlecht, werdet ihr denken, doch das waren zweckgebundene Rücklagen für meinen Führerschein. Den gibts frühestens nächstes Jahr, Langeweile heute.
Einzig die Präsente meiner Family stachen aus dem bescheidenen Haufen von Briefumschlägen heraus. Da war die selbst gestrickte Pudelmütze von meiner zickigen Schwester Lea, die TimeZone-Jeans von meiner Mutter und eine Konzertkarte für David Garrett von meinem Vater.
Dads Geschenke kamen seit Jahren mit der Post und waren stets angeberhaft. Sie waren teuer und sollten beweisen, dass er reich war. Er und meine Ma hatten sich vor einer Ewigkeit getrennt. Ich kann mich kaum an ein normales Familienleben erinnern. Pa war Profi-Violinist und ständig irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was ich mochte und was nicht. David Garrett jedenfalls nicht. Aber wozu gabs eBay.
Ach ja, und dann die legendären Geschenke von Omama. Zu jedem erdenklichen Anlass spendierte sie irgendwelche Raritäten ihres längst verstorbenen Mannes, Opa Arnold. An diesem siebzehnten Geburtstag war es eine goldene Armbanduhr aus dem Jahre zweitausend vor Buddha. Ein scheußlich altmodisches Zeiteisen aus Gold, welches man per Hand aufziehen musste. EBay sag ich nur! Vielleicht könnte ich mir von dem Erlös ein PC-Spiel kaufen.
Unten mummelten irgendwelche Freunde meiner Mutter selbst gemachte Matschtorte in sich hinein. Für mich war der Geburtstag längst Geschichte, obwohl es nicht einmal siebzehn Uhr war. Im Chat war noch nichts los, sowieso waren die meisten Leute in den Ferien. Schade, dass Micha - Onkel Micha, genau Großonkel, denn er war der Onkel meiner Mutter - nicht gekommen war. Er war der einzige Freak in meiner langweiligen Kotz-Familie. Micha hatte immer coole Ideen und fragte nicht als Erstes, was mit meinem Abi wäre. Ja, was war mit meinem Abi? Auf jeden Fall dürfte ich wohl noch eine Platzrunde drehen, und das hieße nochmals: Jahrgang wechseln, niemanden zu kennen, mich gegen irgendwelche affigen Spießer behaupten zu müssen, die noch nicht im Stimmbruch waren. Seit unserem Umzug von München nach Hildesheim hatte ich fast nur virtuelle Freunde. In verschiedenen Chats, in Online-Games und in VirtusWorld. Hildesheim. Wer Hannover öde findet, der war nie in Hildesheim. Mama war hier aufgewachsen und Omama lebte hier. Sind das nicht zwei total bescheuerte Gründe, um nach Hildesheim zu ziehen?
So, jetzt kamen die ersten Mails mit Geburtstagsgrüßen herein. Toll, Lukas war in London, Sek mailte aus Ibiza - sein Dad war Deejay! - und Mia war mit der Family in Südfrankreich. Hier hatte es den ganzen Tag über genieselt. Ich könnte pennen . oder heulen . oder kotzen!
Ich klickte mich in VirtusWorld ein. Hier war ich Timbean. Das war die geshrinkte Version meines richtigen Namens Tim Boehnke. Ich war zu faul gewesen, mir einen besseren Namen zu verpassen. Als Timbean war ich Anfang zwanzig - durfte also alles machen, was Erwachsene dürfen - war blond, blauäugig und ein mega-cooler Typ. Bis auf Haar- und Augenfarbe all das, was ich im Real-Life nicht zu bieten hatte, worauf aber die Mädchen standen. Ich hatte einen Surfladen. Das war scheiße, aber den gab´s in unserer Hood noch nicht. Und mit irgendwas muss man ja seine Kohle machen, auch in VirtusWorld. Ich latschte erstmal durch die Gegend. Viel hatte sich nicht getan. Die meisten Veränderungen gab es nachts und an Wochenenden. Beides fing ja erst an. In einer anderen Community hatte ich Nele kennengelernt. Es war eine Land-Community, so mit Bauernhöfen und so. Ich hatte mich dorthin verklickt und wurde sofort gedisst, weil ich ein Surfer war. Nele hatte mich in Schutz genommen und dann bin ich zusammen mit ihr in einem Rollenspiel gelandet.
Als später doch noch Micha in meine Bude kam, grinste er vielsagend. Er hatte einen alten verschrammten Baseball-Helm unterm Arm, so ein Ding mit jeder Menge Aufklebern drauf und je einem großen Fünfstern auf den Seiten. Sah cool aus.
»Hi, Alter, gratuliere!«, sagte er und nahm mich in den Arm. Ich fand es immer voll komisch, wenn er mich Alter nannte. Erstens klang das schräg aus dem Mund eines Erwachsenen und zweitens war er der Alte, nicht ich. Ich hatte keine Ahnung, wie alt er wirklich war, vermutlich schon fünfzig oder sechzig, oder so. Man konnte Micha überhaupt nicht einschätzen. Er war schlank, hatte dunkelbraune Haare - kein Grau oder so - eine runde Brille und er kaute meistens Kaugummi. Er musste Jahrhunderte jünger als Omama, gewesen sein. Micha war Omamas Bruder und damit Mamas Onkel - unvorstellbar! Er und meine Mutter liebten sich, und für mich war er alles, was mein Dad hätte sein sollen.
»Ist das ein Baseball-Helm?«, fragte ich, um endlich herauszubekommen, was es mit dem Teil auf sich hatte. »Soll ich Baseball oder Rugby spielen lernen?«
»Das ist mein Geschenk für dich.« Micha blinzelte. »Es ist so was wie eine Eintrittskarte.«
»Für ein Baseballspiel?«
Micha lachte sich halb schlapp.
»Sag ich nicht!«
Micha hatte sich nicht hingesetzt. Seine dunkelgraue Anzugjacke, die er zu T-Shirt und Jeans trug, verströmte den Geruch von altem Auto, vermischt mit Zigarettenqualm und Nieselregen. Micha war Nichtraucher. Warum roch er nach Zigarettenqualm?
»Gibts noch Matschtorte?«, fragte er grinsend.
»Hast du Hunger, oder magst du das Zeugs wirklich?«, spottete ich.
Micha blieb mir die Antwort schuldig und ging hinunter ins Erdgeschoss unseres gemieteten Einfamilienhauses, um sich zu den Alten zu gesellen. Oben konnte ich leise Gespräche von dort durch die Etagendecke hören. Es hatte etwas Beruhigendes für mich zu wissen, dass meine Familie da war und dass mein Onkel mit seiner Anwesenheit den Rahmen schloss. Lea, meine Schwester, saß in ihrem Zimmer vor ihrem kleinen Fernseher und telefonierte gleichzeitig mit ihrer Freundin. Lea war groß gewachsen, schlank und sah für eine Schwester ungewöhnlich gut aus. Ihre Freundin Carina hingegen war genau das Gegenteil von ihr. Sie war klein, pummelig, hatte eine Assi-Frisur und war hässlich, hässlich, hässlich!
»Carina, du bist schlimm! Du bist nur am Fressen!«, hatte sich Lea einmal in meinem Beisein beklagt.
»Na und? Ich bin doch schon dick!«, war die Antwort.
Erde an Raumschiff Carina: Merkst du noch was?!
Trotzdem blieben sie beste Freundinnen und gingen im wahrsten Sinne gemeinsam durch dick und dünn! Wir hatten an unserer Schule nur solche Freak-Mädchenpaare, bestehend aus jeweils einer hübschen schlanken und einer hässlichen fetten. Es gab nur wenige Ausnahmen, bei denen die kleinen Dicken besser aussahen, als die langen Dünnen. Aber mir waren alle Mädchen an der Schule ziemlich egal, solange sie mich in Ruhe ließen und nicht auf mir herumhackten oder mich veräppelten. Ich stand auf Mangas, und an die gezeichneten Manga-Girls kam kein lebender Mensch heran. No way! Sie sahen nicht nur verdammt gut aus, sie verhielten sich auch viel normaler als die Typen im Real-Life. Anstatt herumzuzicken, befassten sie sich mit wirklich wichtigen Dingen. Das war für mich alles viel nachvollziehbarer als das, was die bescheuerten Hildesheimer taten. Hier gehörte ich nirgendwo dazu; in meiner virtuellen Welt war ich wer oder es war egal, weil alle gleich, und an der selben Sache dran waren.
Ich hörte die Haustür zuschlagen und kurz darauf Schritte auf unserer Holztreppe. Meine Mutter klopfte einmal kurz an und lugte dann durch die einen Spalt weit geöffnete Tür.
»Geht´s dir gut?«, fragte sie im besorgten Tonfall.
»Ich bin okay.«
»Nur okay? Heute ist dein Geburtstag, da sollte es dir super gehen!«
»Mama, ich bin okay! Was willst du?«
Meine Mutter zögerte, öffnete die Tür ganz, und forderte mich auf, mit ihr hinunter zu kommen.
»Micha hat noch eine Überraschung für dich. Wir müssen etwas mit dir besprechen.«
Mein Großonkel hatte nur Überraschungen parat, normale Geschenke kannte er gar nicht. Er war Journalist und Buchautor. Vielleicht lag es an seinen vielen Reisen, dass er immer auf Ideen kam, die niemand anderem einfallen würden.
Ich wollte mich bei VirtusWorld abmelden und den Rechner auf Stand-by schalten, aber dann kam Nele auf meinen Bildschirm.
»Hi!«, meldete sie sich.
Nele machte nie viele Worte. Aber, was sie sagte, traf immer voll. Ich tippte in mein Keyboard und antwortete ebenfalls mit »Hi!«
»Glückwunsch zum Fast-Volljährig-Geburtstag!«
»Danke! Das Jahr kriege ich auch noch rum.«
Keine Ahnung, woher Nele mein Alter wusste; ich war beeindruckt. Zum tausendsten Mal klickte ich Neles Avatar an, um es zu vergrößern. Nele hatte ein tolles Manga als Avatar und ich stellte mir vor, dass sie genauso aussah. Herzförmiges Gesicht, große himmelblaue Augen und eine fetzige schwarze Frisur. Mein Avatar war blond, so wie ich es im Real-Life war. Ich hatte mein Avatar mit einem Bildeffektprogramm aus einem richtigen Foto von mir generiert. Ich fand, dass es mir ziemlich gut gelungen war, es sah ebenfalls nach Manga aus.
»Kommst du?!«
Meine Mutter war erneut hochgekommen, um mich zu holen.
»Gleich, ich...