Schweitzer Fachinformationen
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Nachdem ich die Anfänge des Neuen Munizipalismus als neuartige Wahlplattformen in Spanien skizziert und die sich formierende, translokale Verknüpfung verschiedenster Initiativen dargestellt habe, setze ich mich im Folgenden mit der aktuellen Forschung zum Neuen Munizipalismus und ihren theoretischen Bezügen auseinander. Das Kapitel leistet eine kritische Bestandsaufnahme und begründet darauf aufbauend den Beitrag einer historisch-materialistischen Perspektive. Im ersten Teil (2.1) biete ich einen Überblick über das sich entwickelnde Feld der Munizipalismus-Forschung. Dieses ordne ich entlang dreier Phasen. Während sich zunächst der Großteil der Publikationen mit den spanischen Munizipalismen beschäftigte, entstanden anschließend regionale Schwerpunkte und überblicksartige Untersuchungen, die darum bemüht waren, neu entstehende Initiativen möglichst vollständig abzubilden. Darauf folgte eine dritte Phase der systematisierenden Abstraktion, deren Veröffentlichungen verstärkt die demokratietheoretische Bedeutung munizipalistischer Strategien reflektieren. Der im Anschluss an diesen Forschungsüberblick folgende Hauptteil des Kapitels skizziert die theoretische Verortung der bestehenden Diskussionen rund um den Neuen Munizipalismus (2.2.1). Diese Diskussionen sind primär von poststrukturalistisch-radikaldemokratischen Ansätzen geprägt, die neben ihrer produktiven Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Kontingenzen und Brüche spezifische Lücken gerade in Hinblick auf die systematisch-strukturellen Momente von Herrschaftsverhältnissen und ihrer materiellen Verdichtung im (lokalen) Staat aufweisen. Anhand von vier Dimensionen der bestehenden Munizipalismus-Forschung (2.2.2 bis 2.2.5) erläutere ich diese Lücken und argumentiere, inwiefern eine materialistische Demokratietheorie gewinnbringend für die vorliegende Arbeit und ihre Frage nach dem Charakter, der Entstehungskonjunktur und den emanzipatorischen Potentialen der Neuen Munizipalismen in Südosteuropa sein kann. Auf dieser Auseinandersetzung aufbauend stelle ich im anschließenden Kapitel Grundlagen und Begriffe einer solchen materialistischen Demokratietheorie dar.
Auch wenn es frühere Theoretisierungen über und Praxen unter dem Label Munizipalismus gibt, beginne ich die Zusammenschau mit den Plattformen in Spanien. Die dort erzielten Erfolge erregten überregionale Aufmerksamkeit und eine in Publikationen, Konferenzen, Workshops und internationalen, aktivistisch orientierten Zusammenkünften abgebildete Debatte. Die Forschungsliteratur zum spanischen Munizipalismus begründete das Feld und ist inzwischen sehr breit aufgefächert (vgl. Angel 2020; Baird 2015; Blanco u.a. 2020; Brunner u.a. 2017; Delclós 2017; Gutiérrez 2016; Kubaczek/Raunig 2018; Malaboca Kollektiv 2016; Martínez/Wissink 2021; Rubio-Pueyo 2017; Sánchez 2017; Schneider 2016; Zelik 2015), inklusive vieler Veröffentlichungen der Akteur:innen selbst (vgl. Bookchin/Colau 2019; Galcerán Huguet 2017; mac1 2017; Observatorio Metropolitano 2014; Roth u.a. 2020; Zechner 2017, 2020). Nach den ersten Bestandsaufnahmen zum spanischen Munizipalismus und dem damit verbundenen »Angriff auf die Institutionen« (Rubio-Pueyo 2017: 3), setzte im Anschluss an die erste Fearless Cities Konferenz 2017 in Barcelona eine zweite Phase der Publikationstätigkeit ein. Die Artikel kreisten zumeist darum, das heterogene Universum sich als munizipalistisch verstehender Projekte weltweit zu dokumentieren und auf gemeinsame Nenner zu bringen, und ihren schwer fassbaren Charakter als (vermeintlich) neuartige, politische Phänomene zu umreißen (vgl. Baird 2020; Bookchin 2017; Finley 2017; Forman u.a. 2020; García Agustín 2020; Kubaczek/Raunig 2017a; Pereira/Issaias 2017; Sörensen 2020; Vollmer 2017). Zeitgleich bildeten sich einzelne regionale Schwerpunkte der Forschung heraus - Lateinamerika (Chile, Brasilien, Argentinien)12, USA13, Südeuropa (Spanien, Italien)14, Westeuropa (UK, Niederlande, Frankreich)15 und Hong-Kong16. Um die Erfahrungen zu sortieren, zu archivieren und einem translokalen Lernen zugänglich zu machen, sind inzwischen auch diverse akademisch-aktivistische Verbünde entstanden, die analysieren und Wissen zirkulieren, unter anderem das Minim Municipalist Observatory17 oder das European Municipalism Network18.
Über den südosteuropäischen Kontext gibt es bislang wenige Forschungsarbeiten aus dieser zweiten Phase. Soziale Bewegungen in den postjugoslawischen Staaten wird insgesamt eine vergleichsweise geringe wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil (vgl. Bieber/Brentin 2019; Pudar Drasko u.a. 2021; Stiks/Horvat 2015a). Die Region erscheint häufig als »verloren für progressive Kräfte nach 1989«, als gäbe es für internationale linke Zusammenschlüsse »nicht viel zu entdecken in Osteuropa, erst recht nicht auf dem Balkan« (Stiks/Horvat 2015a: 3). Aufgrund ihrer guten internationalen Vernetzung wurden die beiden munizipalistischen Plattformen in Zagreb und Belgrad inzwischen jedoch in einigen wissenschaftlichen Artikeln erwähnt bzw. explizit untersucht. Zusätzliche Aufmerksamkeit erhielten beide zudem aufgrund ihres erfolgreichen Sprungs auf das institutionelle Feld. In den veröffentlichten Arbeiten wurden NDB als anti-neoliberaler Akteur porträtiert (vgl. Matkovic/Ivkovic 2018) sowie als wichtige Kraft innerhalb städtischer Konflikte, die sich an der Verquickung von Autoritarismus und Neoliberalisierung in Serbien entzündeten (vgl. Piletic 2022). In einem längeren Meinungsbeitrag von 2018 analysiert Ana Veselinovic von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Südosteuropa die Kommunalwahlen als bedeutende Veränderung des politischen Terrains. NDB charakterisiert sie als Verkörperung eines neuen linken Akteursspektrums, das zum ersten Mal eine Wahl-Alternative zu den üblichen autoritär-neoliberalen oder pro-europäisch-neoliberalen Kräften darstellte (vgl. Veselinovic 2018). Aus dem gleichen Jahr stammt eine weitere Analyse der Ergebnisse, die ebenfalls zu dem Schluss kommt, dass die Existenz einer linken Option die Wahlen deutlich von den Vorjahren abhob und einen Erfolg für die gesellschaftliche Linke Belgrads darstellte (vgl. Unkovski-Korica 2018). Andere fragen nach NDBs Rolle bei den Protesten gegen die Belgrade Waterfront (vgl. Fagan/Ejdus 2020) oder bei den großen Anti-Regime-Protesten in Serbien 2018/2019 (vgl. Pesic/Petrovic 2020) und analysieren damit sehr eng entlang von momenthaftem Protestgeschehen. Kralj (2022) geht darüber hinaus und untersucht in seinem Artikel von 2022, welche Faktoren den »electoral turn« von NDB bedingten. Er geht dabei zwar auf die ungünstigen politischen Verhältnisse ein, denen zum Trotz sich die Bewegung in eine Wahlplattform transformierte, erklärt den Wandel jedoch primär bewegungsintern, nicht im gesellschaftlichen Zusammenhang. Seine vergleichende Untersuchung über die Neue Linke in Slowenien und Serbien (Kralj, im Erscheinen) ist noch nicht veröffentlicht. Die Publikationen entstanden teilweise unmittelbar nach den Wahlen 2018 oder wenige Monate später und beruhen auf Beobachtungen aus diesem Zeitraum. Sie bemühen sich um eine erste Einordnung der Plattform in das serbische politische Spektrum und stellen bereits die Hybridität zwischen Bewegungs- und institutionellem Akteur heraus. Aufgrund der großen zeitlichen Nähe zwischen der Wahl und deren Analyse befassen sich die Publikationen jedoch weder in einer langfristigen Perspektive mit NDB noch tiefergehend mit deren Vorstellungswelten, Praxen und ihrem Verhältnis zu den staatlichen Institutionen.
Etwas intensiver hingegen wurde die Zagreber Plattform beschrieben und untersucht. So gibt es eine Studie über linke Akteur:innen in Kroatien, die auch ZJN umfasst und detailliert zu anderen politischen Kräften im Land ins Verhältnis setzt (vgl. Buble u.a. 2017). Auch diese Studie entstand jedoch, bevor ZJN eine institutionelle Praxis entwickeln konnten. Die Plattform wird darin als ein links-liberaler Akteur dargestellt, dem es gelingt, mittels diskursiver Interventionen die lokale Regierung als korrupt und neoliberal zu kritisieren, der jedoch vergleichsweise wenig Kontakt zu Arbeiter:innen hat und soziale Themen nur...
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