Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Prolog
1 Versuchung
2 Probezeit
3 Vorbereitungen
4 Aufbruch
5 Ankunft
6 Eingewöhnung
7 Ordnungen
8 Wendepunkte
9 Licht
10 Kämpfe
11 Eisleben
12 Sommer
Epilog
Hauke Trinks. Was wusste ich über ihn? Er war Wissenschaftler, Physikprofessor - also offensichtlich ein intelligenter Mann; ein Naturmensch, abenteuerlustig und bodenständig; eine Überwinterung und eine Atlantiküberquerung hatte er schon hinter sich, er kam also gut mit sich selbst klar und hatte die Willenskraft und das Durchhaltevermögen, um schwierige Aufgaben zu bewältigen. Er war direkt, entschluss- und handlungsfreudig, redete viel, und ihm saß der Schalk im Nacken. Er war ein Familienmensch, sah gut aus, er war ein Gentleman, sexy, es machte Spaß, mit ihm zusammen zu sein, und gegenüber einem Glas Bier oder zweien war er nicht abgeneigt. An zwei Abenden hatte ich schon einiges über ihn erfahren. Aber was gab es noch zu wissen?
Die Bücherei oben im Lompensenteret hatte ein Archiv der örtlichen Wochenzeitung Svalbardposten, und bestimmt würde ich dort Berichte über seine Expedition finden. Ich könnte auch im Internet suchen und buchte eine halbe Stunde am Computer der Bücherei.
Es gab tausende Treffer, viele zu seiner vorausgegangenen Überwinterung in Mushamna. Die Menge des Materials überwältigte mich - ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich überflog die ersten Einträge, hoffte, auf etwas Aussagekräftiges zu stoßen, aber es war alles auf Deutsch. Ich wählte irgendeine Seite aus, die ein Übersetzungsprogramm hatte, das den Artikel in passables, streckenweise aber sehr kurioses Englisch verwandelte. Ich erfuhr, dass Hauke Präsident der Technischen Universität in Hamburg-Harburg gewesen war, bevor er zu seiner Expedition ins luggage ice aufbrach, wie das Programm das Wort Packeis wörtlich zu übersetzen versuchte, weswegen ich natürlich nur Bahnhof verstand. Ähnlich musste es meinen norwegischen Freunden ergehen, wenn ich versuchte, ihre Sprache zu sprechen. So jedenfalls kam ich nicht weiter, das würde ewig dauern. Vielleicht sollte ich besser in den Zeitungen weitersuchen.
Ich zog die Bände 1999 und 2000 hervor, die Jahre seiner ersten Überwinterung auf der Yacht. Ich arbeitete mich durch jede Ausgabe, Seite für Seite, und fand drei Meldungen, insgesamt fünf Seiten. Da ich nicht besonders gut Norwegisch konnte, fotokopierte ich die Seiten und nahm sie mit nach Hause, um sie mir mit Hilfe meines norwegisch-englischen Wörterbuchs bei einer Tasse Tee in Ruhe zu Gemüte zu führen.
Der erste Artikel trug die Überschrift Grenzreise zu den Anfängen des Lebens (was sich durchaus auch auf mein bevorstehendes Abenteuer hätte beziehen können). Ich erfuhr, dass Hauke ziemlich sportlich war. Er hatte beim 40-Kilometer-Langlaufmarathon auf Spitzbergen mitgemacht - »Die ersten 20 Kilometer waren Training, die nächsten das Rennen«, wurde er zitiert - und war mit dem Kajak und zu Fuß bis nach Austfjordneset gewandert, um einen seiner ehemaligen Studenten zu besuchen, der dort als Jäger überwinterte. Die Gegend da oben kannte ich nicht gut, wusste aber, dass es selbst für einen erfahrenen Abenteurer hart gewesen sein musste, die Reise allein zu unternehmen. Im Artikel stand weiterhin, dass Hauke sich auf die Überwinterung in Mushamna freue, auf die Experimente und darauf, im Einklang mit den langsamen Rhythmen der Natur zu leben. Es muss eigenartig gewesen sein, alleine loszusegeln, im Wissen, ein Jahr lang niemanden zu sehen. Wie bereitet man sich darauf vor? Vermutlich baute er auf seine Segelerfahrung, aber ein paar Wochen auf See sind nicht dasselbe wie ein ganzes Jahr im Eis. Befürchtete er, dass sein Schiff im Eis bersten könnte? Wie stark beschäftigte ihn der Gedanke, vielleicht niemals zurückzukehren? Diese Fragen hatte ihm offenbar niemand gestellt. Vielleicht wollten die Journalisten ihn nicht beunruhigen.
Im Mai des folgenden Jahres unternahm Arne Holm, der Herausgeber der Zeitung, zusammen mit ein paar Freunden eine Schneemobil-Tour, um ihn zu besuchen. Sie waren beeindruckt von seiner Besessenheit. Einmal hatte er wild gestikulierend Kaffeetassen und Reagenzgläser über den ganzen Tisch gefegt (auch mir war aufgefallen, dass er manchmal wie ein Italiener mit den Händen redete). Arne schrieb, Hauke sei der Überzeugung, dass das Leben im Eis entstanden sei, es gebe »eine irrwitzige Menge an Leben im Eis, von Molekülen bis hin zu Eisbären«. Von Letzteren hatte er 51 gesehen (Eine ganze Menge, dachte ich, mehr als ein Eisbär pro Woche!). Er hatte die Zeit gefunden, ein Buch zu schreiben, in dem er sein Leben in Mushamna mit dem einer alten Dame in seinem Heimatort verglich. Er sagte, ihre Berichte darüber, wie sie ein Schwein geschlachtet habe, seien sehr hilfreich gewesen, als er einen Seehund zerlegen musste (zimperlich war er also auch nicht).
Ich widmete mich dem dritten Artikel über seine Rückkehr nach Longyearbyen. Der Journalist fragte, wie er seine Erfahrungen zusammenfassen würde. Abgesehen von 70 Bärenbesuchen (also noch mehr!), hätte er »in der Einsamkeit Zustände erlebt, die schwer zu beschreiben sind«, er hätte »einen inneren Frieden« gefunden (Würde ich nach einem Jahr in Kinnvika genauso empfinden? Keine Ahnung, aber etwas inneren Frieden konnte ich gut gebrauchen). Er sei froh, es getan zu haben, und gleichzeitig froh, dass es vorbei sei, und wahrscheinlich würde er nicht wieder ins Eis aufbrechen (von wegen!). Dies war für mich eine aufschlussreiche Aussage. Es muss unvorstellbar hart, ja oft quälend gewesen sein, über einen so langen Zeitraum mit dem Alleinsein zurechtzukommen, mit nur vereinzelten Besuchern. Bestimmt hatte er Probleme gehabt: mit der Yacht im Eis, den Bären . und da war niemand gewesen, mit dem er hätte reden können. Vielleicht suchte er deswegen diesmal nach einer Begleitung. Würde auch ich am Ende sagen: Nie wieder? Würde Kinnvika mich so an die Grenzen treiben? Ich konnte es nicht wissen, aber auf jeden Fall hatte ich das Gefühl, in guten, erfahrenen Händen zu sein.
Ich goss mir noch einen Becher Tee ein, sinnierte über das, was ich gelesen hatte. Und dabei kam ich auf die Idee, dass es in der Svalbardposten auch Meldungen über die bevorstehende Expedition nach Kinnvika geben musste.
Gleich am nächsten Tag machte ich mich auf die Suche, und in der Tat, ein Artikel aus dem Juni 2001 berichtete über das aktuelle Abenteuer. Der Gouverneur schätze »Wissenschaftler wie ihn, die anspruchslos sind und in der Natur keine Spuren hinterlassen«. Dieses Mal solle er sich »auf jeden Fall in Begleitung aufmachen«. Es wurde nicht ganz deutlich, warum, da er diesmal doch sicher besser wusste, was ihn erwartete, aber schließlich war Kinnvika auch ein ganzes Stück weiter weg. Hauke kommentierte, er habe »es allein versucht, und diesmal wolle er die Erfahrung mit jemandem teilen, und zwar mit einer Frau - das ist die neue Herausforderung« (Ich war also eine Herausforderung? Da hatte er sicher Recht, aber eigentlich konnte er das noch nicht wissen. Oder doch?).
Der Artikel lieferte mir die ersten richtigen Informationen über Kinnvika. Es handelte sich um eine Ansammlung von Hütten, von Schweden anlässlich des Internationalen Geophysikalischen Forschungsjahrs 1957/58 erbaut (dasselbe Baujahr wie ich also). Ich bat die Bibliothekarin um weiteres Material zu Kinnvika. Es gab nicht viel, aber das Wenige war leicht zu verstehen. Ein Schwede namens Gjösta H. Liljeqvist beschrieb in seinem - dankenswerterweise auf Englisch verfassten und mit zahlreichen Fotos illustrierten - Buch High Latitudes die Anordnung der Hütten, das Leben der Wissenschaftler (alle trugen sie Zottelbärte und Norwegerpullover) sowie die Forschungsergebnisse. Zu meiner großen Beruhigung war nur wenig von Eisbären die Rede. Es hörte sich an, als hätten sie ihre Zeit in Kinnvika genossen. Das Buch war faszinierend zu lesen und bestätigte mich in meiner Entscheidung, es ihnen gleich zu tun.
An einem Abend besuchte ich in der Universität die Vorführung einer Dokumentation über Eisbären von Longyearbyens bekanntem Filmemacher Jason. Es handelte sich um einen Beitrag für die BBC-Reihe The Blue Planet. Er gab Einblick in das äußerst harte Leben der Bären in der fantastischen Landschaft der Arktis. Der Zufall wollte es, dass ich anschließend noch auf einen späten Kaffee ins Polar Hotel ging, wo Jason mit ein paar Freunden plauderte. Es war unhöflich von mir, sie zu unterbrechen, aber ich hatte ein paar Fragen zu Eisbären und Spitzbergen, die ich unbedingt loswerden wollte. Zum Glück war er sehr nett und sagte, die beantworte er doch gern, ich solle mich setzen und mal losschießen.
»Wie viele Eisbären gibt es denn auf Nordaustland?«
»Ziemlich viele«, antwortete er.
»Und in der Gegend um Kinnvika?«
Er zog grübelnd die Brauen zusammen. »Fast gar keine. Liegt nicht auf ihren Routen«.
Was ich damals nicht wusste: Jason kannte Hauke. Er wusste von der geplanten Überwinterung und hatte bestimmt auch über seine Suche nach einer Gefährtin gelesen. Nur wer in Erwägung zieht, nach Kinnvika zu gehen, wird so detaillierte Fragen dazu stellen. Jason ist nicht doof. Er war der Erste, der von meinem Vorhaben erfuhr.
Ich wollte andere Menschen ausfragen, wie es war, zu überwintern, aber ich kannte niemanden, der es schon ausprobiert hatte. Ganz beiläufig versuchte ich, meine Freunde nach jemandem zu fragen, der sich auskannte, bemüht, diskret und unauffällig zu sein. Keine Chance. Das Gerücht, dass ich möglicherweise vorhatte, Hauke zu begleiten, verbreitete sich schnell in Longyearbyen, kein Wunder in einer so kleinen Stadt, wo jeder jeden kannte. John W., wie all seine Freunde ihn nannten, Leiter des Kunstnersenter (wo sich auch Randis Nähstube befand) sowie der angrenzenden Galerie, schlug vor, ich solle mich mal mit Karin unterhalten, einer der Frauen, die...
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