Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1.
Wenn ich ein Interview gebe, bin ich neugierig. Welches Bild wählt die Redaktion dieses Mal zur Illustration? Verbreitet sind zwei Optionen. Die positive Variante setzt auf eine Hochglanzfotografie dynamischer junger Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, darunter gerne eine modische Frau mit farbigem Kopftuch, das Selbstbestimmung ausstrahlt. Beim Gegenentwurf dominieren düstere Farben und schlecht rasierte junge Männer, die wie Gangster in einer Gruppe zusammenstehen und nicht direkt in die Kamera schauen. Es ist beinahe wie bei Pippi Langstrumpf: Jeder macht sich die Welt, wie sie ihm oder ihr gefällt.
Das Spannende an den Bildern ist, dass sie zeigen, wie polarisiert in Deutschland über Migration gedacht wird. Schöne neue Welt der Vielfalt hier, die Fremden als Gefahr dort. Beides ist zu einfach: Fluchtbewegungen haben eine andere Dynamik als die Fachkräfteanwerbung; kulturelle Vielfalt bereichert und ist konfliktbehaftet zugleich; neu Eingereiste begegnen anderen Herausforderungen als die (Ur-)Enkel der Gastarbeiter. Es ist falsch, alles über einen Kamm zu scheren, als ob Migration etwas Einheitliches wäre. Passend wäre also eine Collage vieler Bildausschnitte, was sich für die Medien jedoch nicht eignet.
Dieses Buch will die Kategorien aufbrechen. Unsere Gesellschaft hat dies bitter nötig, denn die Debatte ist viel zu oft geprägt von Schwarz-Weiß-Denken. Das Asylrecht soll entweder abgeschafft werden oder faktisch offene Grenzen bedeuten; einige beklagen Rassismus, wo andere vor Terrorismus warnen; eine feststehende Leitkultur wetteifert mit multikultureller Beliebigkeit. Befördert werden solch binäre Denkmuster durch populistische Akteure, die die Uhr zurückzudrehen und den geschlossenen Nationalstaat wiederherzustellen versprechen. Ein solcher Rückzug in das sprichwörtliche Schneckenhaus ist weder realistisch noch wünschenswert.
Es wäre freilich ein Fehler, auf die populistische Vereinfachung mit einem besänftigenden «Alles wird gut» zu reagieren. Stattdessen müssen Gesellschaft und Politik die Herausforderung annehmen, über Einwanderung angstfrei zu sprechen. Migration bedeutet für die deutsche Gesellschaft immer auch ein Rendezvous mit der Globalisierung, von der sie in den vergangenen Jahrzehnten erheblich profitierte. Sie konfrontiert die mit Frieden und Wohlstand gesegnete Bundesrepublik mit geopolitischen Konflikten, krassen Ungleichheiten und kulturellen Spannungen, die viele Deutsche bisher allenfalls aus dem Fernsehen kannten.
Es ist anstrengend, über solche Themen konstruktiv zu streiten und sodann die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ebendies ist jedoch zwingend, damit die Bevölkerung die Zukunft Deutschlands als Einwanderungsland als Fortschritt empfindet. Dieses Buch will dabei helfen, die Handlungspotenziale zu identifizieren, wie man Migration sinnvoll steuert und ein Selbstbild entwickelt, das die vielfältige Gesellschaft zusammenhält. Es richtet sich an die gesamte Bevölkerung: Politik, Deutsche und Nichtdeutsche, Medien, Wissenschaft, Verbände und Ehrenamt. «Wir»[1] müssen miteinander in ein Gespräch treten, wie wir das Einwanderungsland zum Erfolg führen.
Damit dies gelingt, müssen alle Seiten vermeintliche Gewissheiten hinterfragen. Bürgerliche und Konservative verschlossen jahrzehntelang die Augen vor der Einwanderungsrealität, sehen Wandel skeptisch und schätzen ein kollektives Selbstbild, das kulturelle Gemeinsamkeiten achtet; früher nannte man das die «Nation». Linke und Progressive fordert die Einwanderungspolitik ebenso heraus. In Zeiten eines Wirtschaftsbooms vergisst man leicht, dass Ressourcen endlich sind und ein großzügiger Sozialstaat nicht grenzenlos geöffnet werden kann. Wer die Gleichheit aller Menschen hochhält, tut sich schwer mit Abschiebungen und einer Auswahl nach der wirtschaftlichen Nützlichkeit.
Erschwert wird eine sachliche Debatte durch die verbreitete Moralisierung und Emotionalisierung der Migration. Die Toten im Mittelmeer und die Opfer rassistischer Anschläge konkurrieren um öffentliche Aufmerksamkeit mit den Kosten des Asylsystems und antisemitischen Demos von Menschen arabischer Herkunft. Das Problem ist längst nicht mehr, ob, sondern wie Deutschland über Einwanderung diskutiert. Wer meint, dass es Denk- oder Sprachverbote gebe, hat noch nie die Kommentarspalten in digitalen Medien gelesen. Schon vor einem Jahrzehnt dominierte Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab fünf Monate lang die SPIEGEL-Bestsellerliste.
Nun ist nicht jeder ein kleiner Sarrazin, der Probleme anspricht. Umgekehrt plädieren nicht alle, die eine strenge Asylpolitik kritisieren, für offene Grenzen. Dennoch erschwert die Polarisierung es Staat und Gesellschaft, einen Mittelweg zu beschreiten, der in der Praxis auch funktioniert. Ich schreibe dieses Buch im Jahr 2024, als Umfragen die Migration wieder einmal als eines der wichtigsten Themen ausweisen und eine Mehrheit es den etablierten Parteien nicht zutraut, eine vernünftige Lösung für die Einreiseregeln und das gesellschaftliche Miteinander zu entwerfen.
Dabei geht es in keiner Weise darum, der AfD oder Sahra Wagenknecht hinterherzulaufen oder den Diskurs nach rechts zu verschieben. Beides passiert in Politik und Medien nicht nur im Wahlkampf zwar vereinzelt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass radikale und populistische Kräfte von einer Unzufriedenheit mit dem Status quo profitieren, die letztlich nur ein Symptom für ein tieferliegendes Defizit darstellt.
Das Bekenntnis zum Einwanderungsland ist keine entpolitisierende Konsensformel, die vorgibt, wie Staat und Gesellschaft sich zu verhalten haben. In einem Einwanderungsland kann man legitimerweise unterschiedlicher Meinung darüber sein, wer einreisen darf und wie ein Selbstbild aussieht, das die vielfältige Gesellschaft eint. In dieser unausweichlichen Debatte muss die demokratische Mitte ein eigenes Angebot unterbreiten. Dieses Buch möchte hierzu eine Anleitung bieten.
60 Jahre nach der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Gastarbeiterabkommens wandte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) an die Kinder und Enkel: «Sie sind eben nicht , sondern Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund geworden.»[2] Das war in doppelter Hinsicht schlau. Das Staatsoberhaupt reagierte auf den Vorwurf von Verbänden und Wissenschaft, der Begriff «Migrationshintergrund» grenze aus oder sei sogar latent rassistisch. Allerdings verabschiedete Steinmeier den Begriff nicht, sondern verwendete ihn für das Land als Ganzes. Das trifft es auf den Punkt. Es wäre ein Missverständnis, wenn man annähme, dass Einwanderung eine Gesellschaft nicht verändert. Wir müssen konstruktiv darum ringen, was «deutsch» heutzutage heißt.
Es ist kein Zufall, dass der Bundespräsident seine Rede bei einem Festakt zum deutsch-türkischen Abkommen hielt. In der öffentlichen Wahrnehmung war die Gastarbeit aus der Türkei das prägende Ereignis der ersten Einwanderungsdekaden, obwohl «nur» 12 Prozent aller Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland aus der Türkei kommen oder türkische Vorfahren haben.[3] Diese überraschend niedrige Ziffer zeigt exemplarisch, dass der öffentliche Diskurs einzelne Facetten überbetont.
Das gilt für die Herkunftsländer ebenso wie für die Einreisegründe. Häufig herrscht der Eindruck vor, als ob Einwanderung vor allem über den Asylkanal stattfinde, obwohl in den 2010er Jahren insgesamt 2,3 Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern sich in Deutschland niederließen - viele zum Arbeiten.[4] Wer verstehen will, wie Deutschland sich für die Zukunft fit macht, muss all diese Facetten in den Blick nehmen, auch wenn für manche Fragen leichter eine Antwort zu finden ist als für andere.
Tatsächlich dürfte eigentlich niemand noch daran zweifeln, dass...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.