1. Kapitel
Mein Vater war es, der mich vor seiner vor Eifersucht rasenden Ehefrau rettete, als sie davon erfuhr, dass er eine Nebenbuhlerin geschwängert hatte: Florentina Badgruber. Ich war noch ein Embryo, als man mir schon das erste Mal nach dem Leben trachtete.
Mein Vater Michael bewahrte mich davor, als Ungeborenes zu sterben, und ließ seine Ehefrau in dem Glauben, ich sei tot. Er schickte mich in die Zeit zurück, in das Jahr 1945, damit niemand meine Spur verfolgen konnte. In Wien wuchs ich bei Zieheltern auf, die glaubten, ich wäre ihre leibliche Tochter. Es waren vielleicht die Jahre, in denen ich mich am geborgensten fühlte. Und nur allmählich ahnte ich, dass ich anders war als die anderen Kinder. Und dass die Verdammnis wie ein Unglücksstern über mir schwebt.
Ich habe mehr Schmerzen erlitten, als selbst die meisten Dämonen sie ertragen könnten. Von Menschen ganz zu schweigen.
Aber was noch schlimmer ist: Gevatter Tod ist mein ständiger Begleiter. Wann immer ich etwas wünsche, ist der Preis dafür das Leben der anderen.
Mein Vater Michael war es auch, der mich aus der Obhut meiner Ziehfamilie holte, als er glaubte, ich sei nun reif genug für die Ausbildung zur Hexe. Ich war es nicht, wie ich sehr schnell begriff. Mit dem Hexen hatte ich keine Probleme, wohl aber mit der Grausamkeit, mit der die Fürstin Bredica auf der Temeschburg ihr Internat führte. Und doch war dies noch ein Zuckerschlecken im Vergleich zu dem, was mir später in der Anstalt des Doktor Grauss bevorstand.
Die dämonische Seele ist da wie die menschliche: Selbst die schlimmsten Gräueltaten übersteht sie. Mit Wunden und Rissen zwar, und wenn sie auch nie mehr verheilen mögen, so ist da immer noch der Verstand. Der Verstand befiehlt uns, nach vorne zu blicken, nicht zurück. Er lenkt den Blick auf die Probleme, die anstehen. Ich nehme an, nur so können unsere beiden Rassen überleben - die Menschen wie die Dämonen.
Und dann ist da noch der Wille. Der Wille zu überleben, möge das, was uns erschüttert hat, auch noch so grausam gewesen sein.
Wenn ich in den Spiegel schaue, so sehe ich da keine Narben. Ich sehe eine hübsche junge Frau von fünfundzwanzig Jahren. Keine Schönheit, aber doch so attraktiv, dass mancher Mann sie im Gedächtnis behält. Schon als Kind zog ich die Blicke der Männer an, aber auch die Eifersucht der anderen Mädchen und Frauen auf mich.
Ich blicke also in den Spiegel und lächle mir aufmunternd zu.
Aufmunterung kann ich brauchen. Denn ich bin wieder dort gelandet, wohin mich mein Vater Michael dereinst gebracht hatte: Auf der Temeschburg.
Ein letztes Mal ziehe ich mit dem hellrosa Lippenstift dezent die Konturen meines Mundes nach, atme noch einmal kurz durch - und dann bin ich bereit.
Bereit, nicht nur meinen Vater wiederzusehen. Sondern auch die Frau, die mich derart hasst, dass sie mich schon vor meiner Geburt töten wollte.
Die Frau heißt Thekla Zamis, und ich traue ihr nicht ein Jota über den Weg.
In dem Moment, als ich damals vor der Gartenpforte der Villa Zamis stand und sie ihr Lächeln verlor, wusste ich, dass es ein Fehler war, dort anzuklingeln.
Zuvor hatte ich ihr gesagt, dass ich glaubte, Michael Zamis sei mein Vater.
Es war sogar mehr als nur Glaube. Die tiefe Verbundenheit, die ich zu ihm spürte, war nur so zu erklären. Eine Hexentochter fühlt, wer ihr Erzeuger ist.
Basta.
Vergangenheit
Das kleine Mädchen roch gut. Nach frischem und rohem Fleisch. Aber auch nach Unschuld und Naivität.
Das Gör hatte etwas an sich, das ihn wie magisch anzog, und es dauerte eine Weile, bis er den Grund für diese Anziehungskraft verstand: Sie war kein Mensch. Tief in ihr drin loderte das schwarze Feuer, das eine Hexe ausmachte und sie antrieb, eine Quelle, die niemals erlosch.
Oh, dieser Geruch ... Er erzitterte vor Geilheit und hatte Mühe, sich zu beherrschen. Er wäre so gern über das Mädchen hergefallen, jetzt gleich, um seine Klauen in seinen Leib zu schlagen und sich an der obszönen Lebensflamme zu laben.
Er hatte gelernt, sich zu gedulden. Es gab so viele andere hier, die stärker als er selbst waren. Er musste abschätzen und abwarten und im richtigen Moment zuschlagen, wollte er das Mädchen für sich alleine haben.
Also blieb er auf seinem Baum hocken und beobachtete.
Juna lief, schnell und schneller. Irgendetwas hatte sie erschreckt. Ein knackender Ast oder ein Windstoß. Ein Etwas, das sachte nach ihren Haaren gegriffen hatte. Oder jemand, der unter der Erdoberfläche steckte und seine Krallen nach ihren Füßen ausgestreckt hatte.
Sie lief dahin wie der Wind - und kam doch kaum vorwärts. Die Bäume ringsum versperrten ihr immer wieder den Weg. Sie musste ausweichen und Umwege nehmen, in einem düsteren Landstrich, den Juna kaum kannte und in dem die Orientierung schwerfiel.
Ab und zu lugte der Mond zwischen den Baumkronen hervor. Am unteren Rand der Sichel war er rot, so als wäre er verletzt worden und würde bluten.
Sie war doch schon einige Male hier gewesen! Immer, wenn ihnen die Fürstin einige Stunden Freizeit gegönnt hatte, war sie mit Matilda zum Fluss gelaufen, um dort im Wasser vergnügt zu plantschen. Um Kind zu sein und nicht nur Hexe. Doch jetzt, in der Dunkelheit, war ihr das Gelände völlig fremd.
Juna hielt keuchend inne und stützte sich an einem der Baumstämme ab. Ihr war schwindlig. Sie musste ein paarmal durchatmen, um zu Kräften zu kommen.
Wie lange war sie schon unterwegs? Verfolgte sie die Fürstin, war jemand hinter ihr her? War sie weit genug weg von der Temeschburg, dem Sitz dieses schrecklichen Dämonenweibes?
Sie durfte sich derartige Gedanken nicht erlauben. Weiter musste sie, weiter, hin zum Hoia-Baciu-Wald. Nur dort durfte sie darauf hoffen, zurück zu Michael Zamis zu gelangen. Er alleine würde ihr helfen und sie beschützen.
Juna hielt den Atem an und lauschte. Nein. Da war nichts. All die Geräusche und Berührungen waren bloß Einbildung gewesen, Ergebnisse ihrer überhitzten Fantasie.
Kein Wunder: Während ihres Aufenthalts auf der Temeschburg hatte sie schreckliche Dinge gehört, gesehen und am eigenen Leib erfahren. Die Fürstin Bredica hatte sie gequält und mit ihrem Rohrstock mehr als einmal verprügelt, sie aber auch mit Mitgliedern einiger rumänischen Dämonensippen Bekanntschaft machen lassen.
In der Ferne hörte sie Wasser gurgeln. Der Fluss war nicht mehr fern. Sie musste ihn durchschwimmen, um anschließend zwei Kilometer leicht ansteigendes Brachland zu queren und die Ausläufer des Hoia Baciu auf einer kleinen Hochebene zu erreichen.
Juna aß einige Bissen vom belegten Brot, das sie in einem Beutel mit sich trug, und setzte sich wieder in Bewegung, vorsichtiger diesmal.
Sie folgte dem Geräusch des Wasserplätscherns. Der Boden war feucht und glitschig - und er dampfte. Die Nacht war ungewöhnlich warm. Nebel stieg auf und erschwerte ihr die Orientierung noch mehr.
Ein Laut!
Juna blieb wie erstarrt stehen. Sie hielt den Atem an, eine halbe Minute, eine Minute, um sich nur ja nicht zu verraten.
Erleichtert blies sie Luft aus, als sie das Geräusch ein weiteres Mal hörte. Es war bloß das Schuhuhen eines Kauzes, der irgendwo im Geäst saß.
Erleichtert setzte sie ihren Weg fort - und rutschte weg. Ein Augenblick der Unachtsamkeit reichte, um sie in den Morast plumpsen zu lassen. Vom Schwung getragen, nahm sie Fahrt auf und glitschte einen immer steiler werdenden Abhang hinab.
Verzweifelt versuchte Juna, sich festzuhalten. Sie schnappte nach Ästen und Wurzeln, nach Trieben und Steinen. Doch sie war zu schnell, ihre Hände zu schwach.
Sie stieß sich an einem Baumstumpf und fühlte, wie eine Dornenranke das Fleisch ihrer Haut am Oberarm aufriss. Sie glitt auf Schlamm dahin, schneller und schneller.
Juna fühlte sich mit einem Mal schwerelos. Sie segelte durch die Luft, überschlug sich. Klatschte mit dem Bauch voran auf - und tauchte unter.
Der Fluss!
Die Strömung riss sie fort, zog sie in die Tiefe hinab, spuckte sie wieder aus. Sie trieb dahin, orientierungslos und hilflos.
Das Wasser war eisig kalt. Eine jede Bewegung schmerzte, ein jeder Atemzug fiel Juna schwer. Sie musste ans andere Ufer, rasch! Es waren doch bloß wenige Meter!
Sie stabilisierte ihre Körperlage, sodass sie sich orientieren konnte. Über dem Brachland lag eine dicke Nebelschicht, vom Blutmond beschienen. Der dahinter liegende Wald des Hoia Baciu war nicht zu erkennen. Sie meinte stattdessen in der trüben Suppe mehrere rot glühende Augenpaare zu entdecken, die ihr aufmerksam mit Blicken folgten.
Juna atmete flach und rasch. Die Kälte des Wassers ging ihr durch Mark und Bein. Sie bewirkte, dass ihre Gedanken träger wurden und sie kaum mehr wusste, was sie eigentlich vorgehabt hatte.
»Ans ... Ufer«, sagte sie sich selbst, vermochte aber ihr eigenes Wort kaum zu verstehen. Kein Wunder, denn der Fluss brüllte und schrie. Der Nebel vermengte sich nicht weit voraus mit feinstem Wasserstaub.
Die Radulescu-Fälle!
Juna erinnerte sich, vor Wochen an der steinernen Verengung dieser tückischen Wasserfälle...