1. Kapitel
»Ich langweile Sie, Vif?«
Der hagere Mann überkreuzte die Beine und blickte auf die Uhr. »Wir haben Geschäftliches zu besprechen, Sir. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass auch Sie nicht frei von Eitelkeiten sind. Schließlich sitzen wir im Penthouse eines der höchsten Wolkenkratzer auf Manhattan. Mit einer Verglasung ringsum, die es uns erlaubt, die von Ihnen so gering geschätzten Menschen in ihrem Treiben zu beobachten.«
»Ich bin schwach, Vif. Verzeihen Sie mir?«
»Es wird mir nichts anderes übrig bleiben. Sie sind der Boss.«
Requin erhob sich aus dem Stuhl und reckte den Körper. Er hatte Hunger. »Sie hassen mich wirklich sehr, nicht wahr?«
»Sie wissen, dass Hass die treibende Kraft meiner Art ist. Machen Sie sich also keine Gedanken. Können wir nun zur Tagesordnung ...«
»Sie waren niemals illoyal, haben mich stets auf meinem Weg unterstützt und begleitet, haben die Drecksarbeit für mich erledigt und niemals allzu unverschämte Forderungen gestellt. Warum eigentlich?«
Andersson seufzte. »Sie stellen mir dieselbe Frage immer wieder. Muss ich denn darauf antworten?«
»Ich bitte darum.«
Der Sekretär nahm die Brille ab, faltete sie zusammen und steckte sie mit spitzen Fingern in die Brusttasche seines Armani-Anzugs.
»Wir sind nur noch wenige. Wir müssen uns den Verhältnissen anpassen. Unsichtbar bleiben, dienen, die schlechten Zeiten überstehen und auf eine Gelegenheit warten, die Erhabenheit unseres Geschlechts wiederherzustellen.«
»Aber leider haben Sie noch keine passende Partnerin gefunden, um ihr ach so großartiges Geschlecht mit Nachwuchs zu bereichern. Wie bedauerlich.«
Andersson presste die Lippen fest aufeinander und schwieg.
»Vielleicht sind Sie gar der Allerletzte Ihrer Art? Womöglich hoffen Sie vergeblich? Und je älter Sie werden, desto deutlicher wird Ihnen die Hoffnungslosigkeit Ihrer Lage bewusst. Deshalb suchen Sie einen Platz an den Schalthebeln der Macht. Weil Sie wissen, dass einer wie ich über die Mittel verfügt, Ihnen Gewissheit über die Existenz anderer Ihres Geschlechts zu verschaffen.«
»Können wir endlich zum Geschäftlichen übergehen?«, fragte Andersson.
Sein Sekretär vermochte sich kaum mehr zu beherrschen. Requin sah amüsiert zu, wie sich der schlaksige Mann auf dem Stuhl wand, wie er seinen Ärger nur mühsam runterschluckte.
»Also schön, Vif. Was steht heute an?«
»Die Geschäfte laufen zufriedenstellend. An der Westküste gibt es interne Reibereien in der Organisation. Ich habe veranlasst, dass sich zwei Troubleshooter um das Problem kümmern.«
»An der Westküste gibt es immer Ärger. Die Clans werden unverschämt, wenn man die Zügel zu locker lässt. - Weiter, Andersson.«
»Der Aktienindex zeigt nach oben. Menschen-Investoren pumpen beständig Geld in unsere Startups. Allein der Gedanke, dass wir the next big thing durch unsere Entwicklungsarbeiten im Silicon Valley liefern könnten, bringt sie dazu, Millionen in unsere Fonds reinzustopfen. Sie sind fasziniert von einer App, die den Handy-Benutzer über Gewaltverbrechen in seiner unmittelbaren Nähe informiert. Das Thema Virtual Reality im Sado-Maso-Bereich reizt sie. Und auf einer anderen, viel banaleren Ebene haben wir Erfolg bei der Markteinführung von Blutschokolade unter dem Namen Soylent Green ...«
»Ich brauche keine Jubelmeldungen von Ihnen, Vif. Ich möchte wissen, ob es Schwierigkeiten im System gibt. Dinge, um die ich mich persönlich kümmern sollte.«
»Ich rate Ihnen seit Jahr und Tag, sich ausschließlich um Planung und Geschäftsgebarung des Konzerns zu kümmern. Es bleibt nun mal keine Zeit mehr für die Niederungen des Alltagsgeschäfts.«
Requins Magen grummelte. Er hatte wirklichen Hunger. »Ich schätze Sie sehr, Vif. Aber Sie werden die Entscheidungen darüber, was wichtig ist und was nicht, gefälligst mir überlassen.«
»Ich verstehe, Mister Requin.« Andersson räusperte sich, zog sein Tablet hervor, wischte darüber hinweg und sagte dann: »In Kolumbien gab es Schwierigkeiten mit einem Polizeipräfekten, der sich nicht bestechen lassen wollte. Als seine Leiche in einem Rinnsal gefunden wurde, kam es zu lokalen Protesten, die sich allmählich ausweiten.«
»Das übliche südamerikanische Durcheinander also.« Requin zuckte mit den Schultern. »Schickt einen schönen Blumenkranz und eine angemessene Zahlung an die Witwe, sorgt für ein paar kleine infrastrukturelle Verbesserungen in diesem Wie-auch-immer-es-heißt-Nest, und die Angelegenheit ist in einigen Wochen vergessen. Weiter!«
»China ist ein Hoffnungsmarkt, aber auch ein schwieriges Terrain. Einheimische Gruppierungen stellen sich uns entgegen.«
»Sind sie an Geld interessiert?«
»Wie die meisten Dämonen gieren sie nach Macht.«
»Dann versucht es mit einer Beteiligung. Mit Joint-Ventures. Lullt sie ein, und schlagt dann zu, wenn die inneren Strukturen der Gegner bekannt sind.«
»So ist es angedacht.«
»Sollte sich die Gelegenheit ergeben, beschafft mir dabei endlich die Haut eines Vietnamesen. Sie wissen, dass mir ein derartiges Hautmuster noch in meiner Sammlung fehlt. Man sollte nicht glauben, wie schwer es ist, an ein derartiges Objekt heranzukommen.«
»Ich weiß, Mister Requin. Ich darf Sie daran erinnern, dass ich seit Jahren mit der Komplettierung Ihrer Hautsammlung beschäftigt bin.«
»Vielleicht liegt es an Ihrem mangelnden Engagement, dass mir immer noch sieben Muster fehlen?«
»Ich tue mein Bestes«, sagte sein Sekretär.
»Gibt es sonst noch etwas?«
»Da wäre diese Angelegenheit mit dem verwüsteten Bates Motel.«
»Ich erinnere mich vage, einen Vermerk gelesen zu haben. Worum geht es genau?«
»Unsere neue Akquisition, eine Motel-Kette, deren Räumlichkeiten fast ausschließlich für Dämonen und deren Horden zur Verfügung stehen. Das neue Konzept wurde gut angenommen. Wir konnten den schlechten Ruf der Vorbesitzer vergessen machen und haben kräftig expandiert. Nun gab es allerdings einen unangenehmen Zwischenfall am Interstate Highway 80, dreihundert Meilen westlich von New York City.«
Requin griff nach der Kristall-Karaffe. Ihr Schliff war einzigartig und beruhte auf der Arbeit eines deutschen Meisters aus dem achtzehnten Jahrhundert. Vorsichtig goss er Salzwasser in ein bereitstehendes Glas und trank in einem Zug aus.
»Tote und Verletzte«, sagte er. »Highway-Polizisten, die drangsaliert werden mussten, damit sie uns die Angelegenheit überließen. Ärger mit dämonischen Gruppierungen, mit Angehörigen des toten ghoulschen Lizenznehmers, mit lokalen Menschen-Behörden.« Requin erinnerte sich nun wieder an die Details. »Konnte man den Schuldigen ausfindig machen?«
»Eine der mutmaßlichen Täterinnen wurde identifiziert. Es handelt sich um eine europäische Dämonin. Um eine ganz besondere.«
»Und zwar?«
»Die Sippe der Zamis ist Ihnen ein Begriff?«
»Ein alteingesessenes Geschlecht, das Familienzweige in Russland, in Spanien, Frankreich und vor allem in Österreich besitzt. Alte Dämonen, die sich den Herausforderungen der modernen Zeit kaum stellen. Wie es halt so üblich ist bei Europäern.«
»Richtig, Mister Requin. Eine der Töchter des Familienoberhauptes ist allem Anschein nach für das Massaker im Motel verantwortlich. Ihr Name ist Coco Zamis.«
Requin öffnete eine Datei in seinem Netbook und suchte nach der Trägerin dieses Namens. Sie war nicht schwer zu finden. Es gab dutzendweise Einträge zu einer jungen Frau. Ihr Register war durchgehend negativ belegt. Sie hatte sich als Menschenfreundin entpuppt, hatte sich gegen ihre Sippe gestellt, versuchte sich in Unabhängigkeit, galt als stur und aufsässig.
»Ein weißes Schaf.«
»So ist es. Umso weniger verwundert es, dass sie mehrere Dämonen getötet haben soll.«
Coco Zamis besaß ein ausnehmend hübsches Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde. Grüne Augen glitzerten, die Mundwinkel waren spöttisch verzogen. Oh, sie reizte ihn. Requin lief das Wasser im Mund zusammen.
»Nicht schon wieder!«
»Wie bitte, Vif?«
»Ich kenne diesen Gesichtsausdruck, Mister Requin. Sie vergessen, dass Ihr Platz hier in New York ist. Sie sind einer Gruppe der wohlhabendsten Investoren und einer erklecklichen Anzahl dämonischer Aktionäre verpflichtet.«
»Auch ein Vorstandsvorsitzender benötigt einmal Urlaub, verbunden mit ein wenig Vergnügen. Und ich war schon lange nicht mehr in der Alten Welt.«
»Ich muss energisch protestieren, Mister Requin. Im Namen aller Mitarbeiter der ...«
»Ach, sparen Sie sich Ihr Geplapper. Ich erledige diese kleine Angelegenheit - und keine Widerrede.« Er klopfte energisch auf den Tisch. »Wo bleibt mein Essen? Ich habe...