Kapitel 1
Burschi lehnte sich wieder mal viel zu weit in die Kurve, trotz regennasser Straße. Fiona spürte ihr Herz unter der Lederkombi klopfen, stark und deutlich. Scheiße, sie wollte nicht sterben, nicht hier, nicht in diesem Drecksland mit seinem Dreckswetter und den immer mürrischen Menschen.
Sie meinte, Burschi lachen zu hören, als er sein Bike wieder aufrichtete. Er genoss die Fahrt und das Risiko. Er war ein Adrenalin-Junkie. Warum war sie bloß mit ihm auf diese Reise mitgekommen?
Weil du eine dumme, impulsive Gans bist, sagte sie sich und atmete erleichtert durch, als Burschi die Maschine nach einer lang gezogenen Kurvenkombination endlich wieder stabilisierte und sie immer noch am Leben war.
Er gab Gas und beschleunigte auf weit über hundert Stundenkilometer, und das in einem Land, in dem man auf Landstraßen bloß achtzig fahren durfte.
»Gefällt's dir, Baby?«, rief Burschi ihr zu.
»Natürlich«, schrie Fiona und hasste sich für die Lüge. Sie mochte den Kerl mit seinem übersteigerten Ego ganz und gar nicht. Aber er verfügte nun mal über einige Begabungen, die sie alle Vorsicht hatten vergessen lassen. Erstens hatte er einen perfekten Schwanz und wusste, wie er ihn einsetzen musste. Zweitens brachte er sie zum Lachen, und das war seit dem Tod ihrer Mutter ein dicker Bonuspunkt. Drittens war er strunzdumm; sie würde also nie in die Gefahr geraten, sich in Burschi zu verlieben.
Er reduzierte das Tempo, als sie sich einem Kreisverkehr näherten. Hinter ihnen war das Motorengeheul von Kais Suzuki zu hören. Er schaltete rasant drei Gänge runter, so wie Burschi.
Kai war ebenso blöd wie sein Kumpel. Trotzdem waren die beiden wahre Intelligenzbestien im Vergleich zu Ute, die bei Kai hinten drauf saß. Sie konnte stundenlang plappern, ohne auch nur irgendetwas zu sagen. Ein Holzwurm besaß mehr Weisheit als diese Frau.
Burschi beschleunigte aus der Kurve des Kreisverkehrs hinaus, viel zu rasant, wie immer. Fiona klammerte sich an ihm fest. Vermutlich glaubte er, dass sie es aus Zuneigung machte, blöd, wie er war.
Sie donnerten über eine Brücke. Kai holte auf und fuhr neben ihnen her, viel zu rasch, viel zu knapp neben ihnen. Burschi rief ihm etwas zu, sein Freund antwortete, beide lachten.
Am Ende der Brücke mussten beide eine weitere Notbremsung vollziehen, um den zweiten Kreisverkehr gerade noch irgendwie bewältigen zu können. Wieder bangte Fiona um ihr Leben, wieder fühlte sie ihr Herz heftig schlagen.
Sie schob den Kopf an Burschis Schultern vorbei und lugte nach vorne. Erleichtert sah sie, dass die Straße während der nächsten Kilometer fast kerzengerade entlang eines breiter werdenden Gewässers verlief.
Sehr gut. Vielleicht konnte sie sich ein wenig auflockern. Ihre Schenkel und ihre Oberarme waren völlig verkrampft von all den Anspannungen der letzten beiden Stunden auf dem Bike. Wenn die beiden doch bloß einmal stehen bleiben würden!
»Nur noch bis Lom!«, hatte Burschi ihr zugerufen, als sie ihn um eine Ruhe- und Pinkelpause gebeten hatte. »Nur noch zehn Minuten!«
Aus den zehn Minuten waren zwanzig geworden, dann dreißig, dann eine ganze Stunde.
Burschi zog den Motor auf und beschleunigte rasant, blieb aber deutlich unterhalb jenes Limits, ab dem Fiona Angst empfand. Selbst er schien die Natur rings um sie zu genießen, nun, da die dicke Wolkenschicht über ihnen ein klein wenig aufriss. Sie hatten einen prächtigen Blick hinab auf Fluss und See, auf Berge links und rechts von ihnen, auf dichte Birken- und Fichtenwälder.
»Gefällt's dir, Baby?«, fragte Burschi zum vermutlich dreißigsten Mal seit Beginn ihrer Tagesetappe.
»Ja«, rief sie ihm zu und dann, als sie das Hindernis auf der Straße sah: »Brems! Brems! BREMS!«
Fiona rutschte enger an Burschi heran, wurde mit aller Gewalt gegen seinen Körper gedrückt. Sie fühlte, wie das Motorrad unter ihrem Hintern schwänzelte, wie das ABS griff, wie sie in kurzen, leicht ruckartigen Bewegungen auf das riesige Vieh mitten auf der Straße zuhielten. Fiona konnte die Blicke von dem Tier nicht abwenden. So gerne sie auch die Augen schließen wollte - sie musste es anstarren. Ein Monstrum, das ihnen entgegenblickte, mit rot glühenden Augen und mit Nüstern, aus denen Rauch zu quellen schien.
Immer stärker wurde das Schlingern des Motorrads, immer näher kamen sie dem Tier. Sie würden sich in die Flanke seines mächtigen Körpers bohren, ausgehebelt werden und darüber hinwegsegeln, Dutzende Meter weit geschleudert werden, den Abhang rechts von der Straße hinab .
Nein! Denn das Rentier wechselte blitzschnell die Position und senkte den Schädel. So dass die Schaufeln seines Geweihs in ihre Richtung wiesen. Das Vieh wollte sie aufspießen.
Ich tastete im vagen Wohnzimmerlicht nach den Tellern mit der kunstvollen Blutglasur in der Kommode - und griff daneben. Jahrzehntelange Routinehandlungen klappten nicht mehr, seitdem die Villa Zamis neu entstanden war, erschaffen vom Todfeind der Familie, von Asmodi.
Bei optimistischer Betrachtung hatte sich der Herr der Schwarzen Familie einen Scherz erlaubt und die Villa wie eine leicht veränderte Version des vorherigen Bauwerks errichtet. Sodass alle Gegenstände ein Stückchen zu weit oben, zu weit unten, links oder rechts ihres ursprünglichen Platzes lagen. Kästchen öffneten sich in eine andere Richtung als zuvor, Dielenbretter quietschten aus unerfindlichen Gründen, in der Nacht knarrte es im Dachboden. Der Wasserhahn kreischte, wenn man ihn aufdrehte, aber nur an ungeraden Tagen. An den geraden lieferte er dunkles Wasser, das aber gemäß einer Analyse völlig frei von Verunreinigungen war.
Ich hörte schwere und unbeholfene Schritte, die nicht zu Dämonen gehörten. Nun, auch dafür war Asmodi verantwortlich. Denn es handelte sich um meine Eltern, die zum Abendessen ins Wohnzimmer gestolpert kamen.
Sie torkelten in den Raum, kaum fähig, den Körper zu koordinieren. Vater tastete hilflos nach einer alten Psyche und stützte sich daran ab, bevor er das Gleichgewicht verlieren und zu Boden stürzen konnte.
Meine Eltern - die Golems.
Ich hatte sie getötet, von einem Dämon namens Abraxas dazu gezwungen. Auch für die Zerstörung der ehemaligen Villa Zamis war ich verantwortlich gewesen. Eigentlich hätte ich dankbar sein müssen, dass Asmodi das Gebäude mit dämonischer Magie neu errichtet und die geistige Substanz meiner Eltern in klumpige Tonkörper versetzt hatte. Immerhin lebten die beiden noch, immerhin hatten wir den Wohnsitz der Familie Zamis zurück. Und ich war in geringem Maße von meiner Schuld freigewaschen, denn ich hatte im Kampf gegen Abraxas meinen Teil zu dessen Vernichtung beigetragen.
Juna betrat das Wohnzimmer. Sie war in Schwarz gehüllt. In ein Kleid, das genauso gut als Kartoffelsack hätte durchgehen können. Ihr Gesicht war wächsern bleich, die Augen fiebrig.
Sie brachte einen Kessel mit sich, in dem heiße Suppe blubberte. Dampfschwaden hingen darüber, das Zischen und Rasseln sterbender, verbrühender Insekten war zu hören.
Juna stellte den großen Topf in der Mitte des Tischs ab, ich verteilte die Suppenteller. Meine Halbschwester war eine katastrophal schlechte Köchin, aber immerhin hatte sie sich dazu bereit erklärt, einen Teil der Hausarbeiten in der Villa zu übernehmen.
»Wo ist Georg?«, fragte Vater mit dumpfer Stimme, bevor er sich schwer auf einem der Stühle niederließ.
»Er ist in der Stadt unterwegs«, antwortete ich. »Er hat die Newerkla-Brüder und die Matschgräfin getroffen.«
»Ist es schon so weit, dass wir uns mit den niedrigsten der niedrigen Dämonensippen in Wien abgeben müssen?«, fragte Thekla, meine Mutter. »Die Newerklas waren früher gerade mal gut genug, um mir die Stiefelspitzen abzulecken. Und die Matschgräfin war eine dämonische Hure, die ihre Dienste Menschen anbot. So wie gewisse andere Frauen auch. Was meinst du dazu, Coco?«
Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich fühlte mich unweigerlich an die Callas erinnert. An jene Wiener Puffbesitzerin, die die Gelüste von Menschen, aber auch die der Dämonen befriedigt hatte.
Die Callas hatte meine Familie an Abraxas verraten. Sie hatte mich verraten, obwohl ich geglaubt hatte, in ihr so etwas wie eine mütterliche Freundin zu haben.
Das Knarren der Tür und schwere Schritte entbanden mich von einer Antwort an meine Mutter. Georg trat ein und schleuderte seine Stiefel in eine Ecke. Mit einem grunzenden Geräusch ließ er sich am Mittagstisch nieder, ohne nach links oder rechts zu blicken.
Ich setzte mich neben ihn und umfasste zum Gruß seinen linken Arm. Ich konnte fühlen, wie empfindlich er auf die Berührung reagierte und verkrampfte.
»Hast du etwas erreicht?«, fragte ich.
»Natürlich.«
»Und zwar?«, fragte Vater ungeduldig und klopfte mit seiner Lehmhand so kräftig auf die Tischplatte, dass ein Häufchen Staub zurückblieb. Substanz, die von seinem Leib abgefallen war. »Muss man dir jedes Wort aus der Nase ziehen?«
»Wir können mit der Unterstützung der Newerklas rechnen.« Georg schüttelte den Kopf. »Sie haben Gegenleistungen verlangt. Ich habe sie, nun ja, zurechtgewiesen.«
»Ist es blutig geworden?«, hakte Vater nach.
»Die Newerklas haben genauso wenig Blut in den Adern wie du, Vater.« Georg begann schlürfend zu essen. »Ich musste zweien ihrer Kinder die Hauer aus dem Gesicht reißen, um ihnen klarzumachen, wem gegenüber sie in der Verantwortung stehen.«
»Nur mit Gewalt werden wir nicht weiterkommen«, wandte ich ein. »Wir brauchen respektvolle Anerkennung durch die Wiener Sippen, um das...